Wer hätte das gedacht, daß das Karlsruher Ballett zur Vorzeigesparte
des Hauses werden könnte!?! Birgit Keil hat es geschafft: sie hat zwar
nicht Spitzentänzer wie in Hamburg oder Stuttgart zur Verfügung, aber
das richtige Gespür für Stoffwahl und Umsetzung. Die
Ballettvorstellungen sind nicht nur ausverkauft, das enthusiastische
Publikum ist bereit auf den Sitzplatz zu verzichten: es werden in fast
nie gesehenem Ausmaß zusätzliche Stehplätze für die ausgebuchten
Vorstellungen von Schwanensee, Nußknacker und Siegfried verkauft.
Allerdings ist die Stärke des Balletts auch symptomatisch für die
Schwäche der anderen beiden Sparten. Wer heute ins Staatstheater gehen
will, Inszenierungen weiterempfehlen oder Karten verschenken mag, der
ist mit Ballett auf der sicheren Seite.
Seit ca. 5-10
Jahren wird es langsam leerer: Abonnements fallen weg, neue kommen nicht
in gleichem Maße hinzu. Die gemischten, spartenübergreifenden
Abonnements waren dafür verantwortlich, eine ausgewogene Auslastung in
allen Sparten zu haben. Durch die verringerte Abonnentenzahl wird aber
das Interesse des breiten Publikums in bisher nicht gesehenem Ausmaß
ersichtlich. Wir erleben eine klare Abstimmung über Programmauswahl und
Inszenierung: der freie Verkauf füllt nur dann die Lücken, wenn das
Stück ankommt, die Mund-zu-Mund Propaganda funktioniert oder es sich um
ein namhaftes, bekanntes Werk handelt. Resultat: das Ballett ist
überbucht, im Musiktheater sorgen Verdi und Offenbach für die Besucher,
im Schauspiel interessanterweise keine Theaterstücke, sondern das
Musical Big Money aus der letzten Spielzeit und vielleicht zukünftig die
Musik-Show Dylan.
Wer ist denn überhaupt das
Karlsruher Publikum? Wer sind die Zuschauer von morgen? Und wie gewinnt
man diese für die Sparten des Staatstheater? Einige dieser Fragen
könnten demnächst ausführlicher beantwortet werden: im Verlauf des
Jahres 2011 wurden im Frühsommer und Spätherbst von der neuen Intendanz
Umfragen zur Analyse des Karlsruher Publikums in Zusammenarbeit mit der
Universität Berlin initiiert. Daran ist nichts Neues: erst wird der
soziologische Hintergrund analysiert, um dann die Formen der Ansprache
zu bestimmen: Das Marketing beginnt erst, wenn die Zielgruppe bekannt
ist. Man kann nur hoffen, dass das Staatstheater die Ergebnisse der
Umfrage veröffentlicht und transparent die Schlußfolgerungen offenlegt.
In
einem BNN Interview sowie einem SWR Gespräch gab Herr Spuhler bereits
erste Analysen: mehr Junge, mehr Akademiker, mehr Migranten sollen
zukünftig das Publikum ergänzen, denn diese fehlen deutlich.
Es
ist wenig überraschend, dass der ermittelte Altersdurchschnitt der
Besucher deutlich höher als der Bevölkerungsdurchschnitt liegt. Wer
Beruf und Familie unter einen Hut bringen muß, hat abends meistens
anderes vor, als erschöpft und müde seine Aufmerksamkeit fordern zu
lassen.
Es fehlen laut Spuhler Akademiker und Migranten. Beides
überrascht nicht: Karlsruhe und sein Umland (denn das darf nicht
vergessen werden: Karlsruhe-Land hat mehr Einwohner als das eng
begrenzte Stadtgebiet von Karlsruhe und beide sind mit über 700.000
Einwohner eine „kleine Metropole“, wie es Herr Spuhler so treffend
nannte) hat einen hohen Anteil an Ingenieuren und Wissenschaftlern, die
–wenn ich mein persönliches berufliches Umfeld anschaue– anscheinend nur
eine sehr geringe Affinität zu Theater oder Oper haben.
Migranten
in Karlsruhe scheitern im Theater am sprachlichen Anspruch oder es
fehlt ihnen – wenn sie länger in Deutschland sind– einfach der Bezug
und die Tradition. Als vor einigen Jahren Opern auf Russisch (Glinkas
Ruslan und Ludmilla und Borodins Fürst Igor) aufgeführt wurde, fiel mir
tatsächlich auf, dass im Publikum oft russisch gesprochen wurde. Ebenso
kürzlich bei Tschaikowskys Nußknacker. Was wäre dann notwendig: eine
hochwertige Opernreihe russischer Meisterwerke und Tschaikowskys
Dornröschen zur Integration dieser Gruppe?
Gesellschaftliche
Relevanz bezeichnet Spuhler in der BNN als Kern seines
Intendanzverständnisses. Hier wäre für die BNN der Ansatzpunkt, das
Interview fortzusetzen, denn was ist nicht gesellschaftlich relevant?
Oder anders ausgedrückt: in welcher Hinsicht ist Tschaikowskys
Schwanensee gesellschaftlich relevant? Als Vorstellung, die an mehreren
Abenden über 1000 Zuschauer anzieht! Den Begriff der gesellschaftlichen
Relevanz gilt es zu konkretisieren, mag er nicht als Worthülse für
Zuschauerakzeptanz gelten.
Nach wenigen Monaten hat man
noch nicht den Eindruck einer stringenten und homogenen Strategie der
neuen Intendanz. Im Opernbetrieb spricht man mit ambitionierter Auswahl
eher die Kenner und Liebhaber an: wenig Bekanntem (Verdi, Offenbach)
steht wenigen Bekanntes (Janacek, Berlioz, Delius, Tüür) gegenüber.
Bezüglich
der Inszenierungen ist die neue Schauspielführung an der Stufe vom
Heidelberger zum Karlsruher Theater ins Straucheln gekommen. Bisher sind
Anspruch und Realität noch zu weit auseinander, um von einem geglücktem
Wechsel zu sprechen und es ist keine Inszenierung gezeigt worden, von
der man noch lange sprechen wird. Der frühere Schauspielchef Knut Weber
hatte auch in seinen schwächeren Spielzeiten 1-2 Erfolgsinszenierungen,
die man weiterempfehlen konnte und einen hohen Zuschauerzuspruch hatten.
Davon kann Jan Linders bisher nur träumen, der große Wurf blieb ihm
bisher versagt. Man hat den Eindruck, daß das Spielzeit Motto „Von
Helden“ eher hinderlich als hilfreich war. Das ist umso bedauerlicher
als man wirklich sehr gute Schauspieler nach Karlsruhe engagiert
hat und das Ensemble stärker wirkt als in der Vergangenheit.
Loben
muß man die Bemühungen um den Nachwuchs: ein Kinder- und Jugendtheater
ist wichtig, um das Selbstverständnis (die Kinohaftigkeit) des Besuches
zu stärken, allerdings ist das eine langfristige Taktik. Auch die
Öffnung des Theaters durch Volkstheatergruppen ist ein positiver Aspekt,
um das Staatstheater gesellschaftlich weiter zu verankern.
Ein
Blick zurück: man war im Karlsruher Staatstheater lange Zeit auf der
Insel der Seligen. Der 1975 eröffnete Neubau löste einen Boom aus: Sehr
viele Abonnements wurden verkauft, deren Besitzer nutzten sie über
Jahrzehnte. Während andere Häuser mit mittelmäßigem Besuch leben
mussten, war es schwierig überhaupt Plätze für Karlsruhe zu bekommen.
Als ich vor ca. 20 Jahren als Student begann, Oper und Theater in
Karlsruhe für mich zu entdecken, waren spontane Besuche oft nicht
möglich: es war ausverkauft oder ich saß am Rand oder im Rang. Schon
damals fühlte ich mich fast immer als mit Abstand jüngster Besucher: ich
war bei meinem Hobby umgeben von einem Altersdurchschnitt, den ich auf
ca 50+ Jahre schätzte. Meine Versuche Freunde oder Mitstudenten als
Begleitung zu gewinnen zeigten nur geringe Resonanz: eher noch Theater,
seltener Oper (die grundlegend ein Faible für klassische Musik
erfordert) – beide Kunstformen hatte für die Twens der 1990er etwas zu
Ernstes, Erwachsenes, Reifes, Altes oder Unzeitgemäßes. Es wurde erst
mit zunehmenden Alter und Altersdurchschnitt für mich einfacher,
regelmäßig Begleitung zu finden. Ich organisierte Besuche mit
Berufskollegen und Freunden, meistens ins Theater und bevorzugt in
Komödien. Der frühere Schauspielintendant Knut Weber sorgte für
unvergessliche Abende mit Außer Kontrolle (2002), Der Diener zweier
Herren (2003), Die Grönholm Methode (2005), Sommernachtstraum (2006),
Gott des Gemetzels (2007), Die Panik (2008), Was ihr wollt (2008),
Cabaret (2010) und zuletzt Big Money (2011). Trotzdem gingen von meinen
Begleitern nur sehr wenige später auch eigeninitiativ ins Theater.
Keiner davon hat ein Abonnement abgeschlossen. Zum einen wurden
berufliche und familiäre Belastungen als Gründe angegeben, zum anderen
Desinteresse an den Themen anderer Stücke. Ich sprach also zwei der drei
neuen oben genannten Zielgruppen über die letzten 20 Jahre regelmäßig
an: Junge und Akademiker, leider nur mit mäßigem Erfolg.
Durch
die Rückmeldung der Gelegenheitsbesucher konnte ich allerdings einige
Erkenntnisse über sie sammeln: In Zeiten des Weg-Zappens sind manche nur
bedingt bereit, sich zu langweilen oder sich geduldig einem scheinbar
nicht stimulierenden oder stark fordernden Erlebnis auszusetzen.
Problematisch wurden gewisse Inszenierungsstile gewertet, bei denen sich
durch Verfremdungseffekte ein Gefühl der Ratlosigkeit, der
Überforderung und dann des Desinteresses ergibt. Verallgemeinernd würde
ich behaupten, daß eine spürbare Distanz des innerlich erlebten zum
Geschehen auf der Bühne frustriert, demotiviert und eine positive
Beurteilung verhindert.
Zusätzlich gibt es
soziologische und mentale Aspekte zeitgenössischen Verhaltens, deren
Ursachen in diesem Rahmen von mir nicht zutreffend analysiert werden
können: der zweifelhafte Stellenwert sogenannter „Bildung“, der
anscheinend schwierige Zugang zu zeitlich lang Aufmerksamkeit fordernder
klassischer Musik, die Beeinträchtigung visueller Phantasie durch das
Medium Film, die mangelnde Tradition und Routine des Besuchs und damit
unklare Erwartungshaltung an eine Vorstellung, die scheinbar primär
Event- und/oder Geselligkeitscharakter haben soll und als
Live-Alternative zum Kino gilt. Das sind Zeit- und Generationen-typische
Verhaltensmuster, die sich ändern können, ohne daß man sie beeinflussen
kann. Man kann aber einen gewissen Traditionsabriss feststellen: wer
neu als Besucher kommt, wird an das Metier herangeführt werden müssen,
und zwar nicht nur durch interessante Einführungen vor der Vorstellung,
sondern auch durch entsprechende Inszenierungen.
Wer
ist das Publikum der Zukunft? Peter Spuhler betonte vollmundig beim
Theaterfest, daß alles, was gemacht wird um des Zuschauers Willen
geschehe und blickte dabei bestätigend in den Zuschauerraum zum
Stammpublikum. Wenn also die Umfrage das Ergebnis liefert, dass vor
allem ältere Zuschauer das Staatstheater besuchen, dann müsste er
konsequenterweise den Fokus seiner Produktionen auf diese Altersgruppe
legen!? Herr Spuhler weiß, daß er das Stammpublikum halten muss, aber
daran gemessen wird, mehr Zuschauer zu gewinnen.
Wer
kann also die neue Zieglruppe sein? „Maximal offen“ will man laut
Spuhler sein und alle sozialen Schichten ansprechen. Kommen deswegen
auch alle? Gibt es nicht soziologische Wahrscheinlichkeiten, wer und ab
welchem Alter man sich zum Besucher eignet? Nach meinen oben erläuterten
Erfahrungen sind die meisten Zuschauer (ob Einzelkarte oder Abo) in
einem Segment zu gewinnen, das älter als 40 Jahre ist.
Und
wie müssen Produktionen beschaffen sein, damit die Zuschauer wieder
kommen? Wie lockt man Konsumenten? Erfolgsgeschichten sind vorhanden,
das Ballett macht es vor! Birgit Keil hat ihr Publikum bereits gefunden.
Die ausverkauften Vorstellungen sind vielsagend! Die Zuschauer strömen
zu La Traviata und Rigoletto. Das Publikum erreicht man mit den üblichen
Verdächtigen. Im Theater lieferte Knut Weber regelmäßig
Zuschauererfolge, man denke nur an die sechs Spielzeiten lang
aufgeführte Grönholm-Methode und zuletzt Big Money. Es mag nicht jedem
gefallen, aber es scheint als würden ein gewisser Anteil der
Stückauswahl und Inszenierung konventioneller werden müssen, um neue
Zuschauer zu gewinnen.
Neues Publikum zu gewinnen hat
auch deshalb Priorität, da sich die Bevölkerungsstruktur verändert.
Welche unerfreuliche Zukunft könnte uns angesichts der demographischen
Entwicklung bevorstehen: ein 3-Sparten Staatstheater des Landes
Baden-Württemberg, das abwechselnd die Spielstätten des Landes besucht
nachdem die Einzelhäuser in Karlsruhe, Stuttgart, Mannheim etc.
zusammengelegt wurden?
Alle Ballett-/Theater- und
Opernfreunde sollten sich auch darüber im Klaren sein, daß es noch
erschreckend viele neoliberal geprägte Ressentiments gegen das staatlich
geförderte Kulturleben gibt. Deren Anhänger warten nur darauf Budgets
zu kürzen und Kosten zu Ungunsten der Zuschauer neu zu verteilen. Die
Folge wäre eine Refeudalisierung des Kulturbetriebs, bei dem sich nur
noch ein wohlhabender Bevölkerungsanteil regelmäßig Eintrittskarten
leisten könnte.
Umso weniger regelmäßige Zuschauer in
den Vorstellungen, umso geringer die Akzeptanz in der Bevölkerung desto
größer die Gefahr von Einschnitten in den Kulturhaushalt. Es benötigt
eine konstruktive Zusammenarbeit von Zuschauern und Staatstheater, um
den Stellen- und Unterhaltungswert der Kunst zu definieren und zu
fördern. Ich bin gespannt, was die Karlsruher Intendanz in die Wege
leitet.
Seit 1988 bin ich steter Besucher des Badischen Staatstheaters. Bei vielen Opern-, Theater-, Konzert- und Ballettvorstellungen im Jahr und Besuchen in anderen Städten verliert man schon mal den Überblick. Dieser Tagebuch-Blog dient mir seit der Spielzeit 2011/12 als elektronische Erinnerung. Bitte beachten Sie meine Intention: ich bin kein Journalist oder Kritiker, sondern schreibe hier lediglich persönliche Eindrücke, private Ansichten und Vermutungen für mich und Angehörige nieder.
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Vielen Dank für Ihre Betrachtungen. Meine Frau und ich sind zwar erst die vierte Spielzeit Inhaber des Schauspielpremieren-Abonnements, können Ihrer Analyse der bisherigen Spielzeit aber zustimmen. Gerade im Schauspiel liegt der mäßige Erfolg nicht an den Schauspielern sondern an der Stückauswahl und den Inszenierungen. Gerade die von Spuhler vermissten gebildeten Zuschauer werden mit langweiligen und/oder albernen Inszenierungen wie der Minna oder dem Fiesco nicht zu erreichen sein.
AntwortenLöschenMeiner Erfahrung nach kommen die jüngeren Besucher ganz von alleine, wenn es a) eine Struktur gibt zum gemeinsamen Besuch, wie ein Jungend-Club, o.ä. (siehe z.B. die meterlangen Schlagen von Studenten an den Berliner Abendkassen oder die Jungen Opernfreunde Hamburg mit weit über 100 Mitgliedern) und wenn b) Kunst gemacht wird: keiner, auch keine Ü-30-jährigen wollen schlechte Produktionen sehen. Bunt und modern kann genauso verstaubt sein, wie eine klassisch gehaltene Inszenierung. Es kommt doch immer drauf an, dass eine Produktion eine Botschaft hat und den Zuschauer in irgendeiner Weise berührt.
AntwortenLöschenVIELEN DANK für die sehr guten Beiträge! Den Opernwelt Artikel kannte ich nicht, aber er detailliert noch mal meine Befürchtungen. Immerhin scheinen wir in Karlsruhe eine Intendanz zu haben, die sich dieser Herausforderung bewußt ist. Ich hoffe zumindest, dass die Zuschauerumfragen zu entsprechenden Schlußfolgerungen und Aktionen führen.
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