Der Sound der Großmütter
oder
Schlechtes Theater ist dem Karlsruher Publikum zumutbar(?)
Wer wissen will, womit Schüler aktuell in der Oberstufe gequält werden, der kann sich (wie seit einigen Jahren) am Programm des Karlsruher Schauspiels orientieren, das manches aufgreift und inszeniert, was Prüfungsthema wird. So landete auch diese Inszenierung auf der Bühne und quält nun Zuschauer aller Altersgruppen. Ingeborg Bachmann (*1926 †1973) gewann 1959 den Hörspielpreis der Kriegsblinden für das Hörspiel Der gute Gott von Manhattan - eine schlichte, parabelhafte Handlung in teilweise pathosgeladener, lyrischer Sprache über eine vermeintliche Normverletzung (nämlich Liebe) und deren fatale Bestrafung durch selbsternannte Moralwächter. Anläßlich der Verleihung des Hörspielpreises hielt Bachmann eine Dankesrede mit dem sprichwörtlich gewordenen Satz: Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar. Was taugt das Hörspiels nach über 60 Jahren? Das Karlsruher Schauspiel findet weder einen Zugang zur Handlung noch zu Bachmanns typischem Sound, das Resultat dieser auf infantil gequirlte Weise verunstalteten Adaption wirkt durchgängig mißlungen. Als Zuschauer kann man nur die Hände vors Gesicht schlagen und sich fragen, wie verzweifelt man als Theater sein muß, um diese qualitätsprekäre Produktion ins Programm zu nehmen.
Worum geht es?
Das Hörspiel hat zwei Zeit- und Erzählebenen, die sich in lockerer Szenenfolge abwechseln. Die Geschehnisse in der Gegenwart kommentieren, was zuvor geschah.
In einem Gerichtssaal
treffen Gesetz und Moral aufeinander. Dem Richter wird ein unter
Mordverdacht stehender Angeklagter vorgeführt: der gute Gott von
Manhattan, auch der gute Gott der Eichhörnchen genannt (zwei sprechende Eichhörnchen namens Billy und Frankie sind seine Handlanger), der bereits zuvor unter gleicher Anklage vor diesem Richter stand. Der gute Gott leugnet nicht, er rechtfertigt sich ohne Reue. Mittels einer Bombe hat er versucht, ein Liebespaar zu töten, da die beiden die gesellschaftliche Ordnung und Moral bedrohen, indem sie sich so intensiv lieben, daß sie ihre gesellschaftlichen Pflichten mißachten. Doch die Sprengladung detonierte zu früh, nur die Frau stirbt. Richter und Gott besprechen die Vorkommnisse, letztendlich läßt die Justiz den Moralwächter ziehen, statt eines Urteils schweigt der Richter.
Der zweite Handlungsstrang läßt das Liebespaar zu Wort kommen. Jennifer,
Studentin der politischen Wissenschaften, spricht auf dem New Yorker
Zentralbahnhof einen Fremden an, den sie bereits zuvor bei einem
Tanzfest in Boston bemerkt hat und nun im Zug nach New York
wiedergesehen hat. Jan ist aus Europa, wartet auf seine Schiffsrückfahrt
und geht mit Jennifer erst in ein Stundenhotel, danach ins Hotel
Atlantic, wo sie mit steigender Liebesintensität Zimmer in immer höher
gelegenen Stockwerken (7., 30., 57.) nehmen. Während Jennifer in ihrer Liebe komplett aufgeht und sich unterwürfig hingibt, bleibt Jan distanzierter und zieht sich vorübergehend zurück, um die Situation in einer Bar zu überdenken. In seiner Abwesenheit detoniert die Bombe und tötet Jennifer.
Lebendig oder untot?
Auf den ersten Blick scheint Der gute Gott von Manhattan aus der Zeit gefallen. Ein altertümlicher gesellschaftlicher Konflikt (ein Liebespaar bedroht schon lange nicht mehr die gesellschaftliche Ordnung/Moral, zumindest nicht in westlichen Kulturen. Nur in altmodischen Gesellschaftsordnungen -bspw. in islamischen - sind zwischenmenschliche Beziehungen noch reglementiert), dazu eine sich teilweise pathetischer Sprache bedienende Liebesgeschichte mit einer unterwürfigen Frauenfigur, die ihre sich bedingungslos hingebende Liebe mit Absolutheit spürt - das sind nicht die Themen, die heute aus ideologischer Perspektive "politisch korrekt" wirken. Tatsächlich ist Der gute Gott von Manhattan nur deshalb im Programm des Karlsruher Schauspiels gelandet, weil er ein mögliches Schwerpunktthema für das Abitur im Fach Deutsch in Baden-Württenberg ist, nicht weil man zuvor eine überzeugende Idee für den Stoff hatte.
Was ist zu beachten?
Ist also Der gute Gott von Manhattan ein Text, der inzwischen seine Relevanz verloren hat? Wenn man die Liebesgeschichte und ihre moralische Bewertung betrachtet, dann schon. Eine Möglichkeit besteht, den Text historisch-biographisch zu deuten, also Bachmanns unglücklichen Liebesbeziehungen in das Stück zu verweben. Die Regie verwendet dazu halbherzig Textstellen aus dem Briefwechsel Bachmanns mit Paul Celan.
Einen aktuellen Zugang findet man nur, wenn man vom Guten Gott als tyrannischem Moralwächter und den Eichhörnchen als seiner Sittenpolizei ausgeht, Staat und Moral als Widersacher von Selbstbestimmung und Freiheit zeigt. Konformitätszwänge wie politische Korrektheit, Quotenregeln, technokratische Eingriffe wie das staatlich verordnete Gendern und gebetsmühlenartig wiederholte Worthülsenpredigten geben vor, was gesellschaftlich "alternativlos" ist und nicht hinterfragt werden darf. Die Sittenpolizei sind bspw. Medien und soziale Netzwerke, ihre Mittel sind der mediale Pranger und Cancel Culture, die (faschistoide) Tendenz zur Diffamierung durch pauschale Feindbilder und die Delegitimierung des Andersdenkenden durch hysterische Unterstellungen. Die Bundesrepublik ist deutlicher autoritärer geworden; Wandel soll durch politischen und institutionellen Druck von oben erzwungen werden. Die Selbstherrlichkeit der Mitläufer und Aktivisten unterscheidet sich charakterlich nicht von den historischen Armbinden- und Bannerträgern.
Was ist das Verbrechen der Liebenden? Eine Selbstbestimmtheit ohne Nachhaltigkeit. "Ich bin mit dir und gegen alles. Die Gegenzeit beginnt.", läßt Bachmann Jan sagen. Das Private entkoppelt sich vom Politischen, Klimahysteriker und Verzichtsapostel dringen bspw. nicht mehr durch. Jennifers Liebe entspricht bspw. nicht dem propagierten "modernen Frauenbild", sie ordnet sich in ihrer Liebe dem Mann unter, Gleichberechtigung ist ihr in der Liebe keine zentrale Forderung: "Auf den Knien vor dir liegen und deine Füße küssen? Ich werde es immer tun. Und drei Schritte hinter dir gehen, wo du gehst. Erst trinken, wenn du getrunken hast. Essen, wenn du gegessen hast, Wachen, wenn du schläfst". Jennifer erklärt, daß sie "vergehe nach Erniedrigung, daß ich mich jetzt hinrichten ließe von dir oder wegwerfen wie ein Zeug". Jan hingegen ist distanzierter, besitzergreifend und droht Jennifer mit Gewalt: "Ich sollte dich schlagen vor allen Leuten, schlagen werd ich dich ...", worauf sie antwortet: "Ja, ja". Doch auch er erkennt, "daß der Kältesee in meinem Herzen zum Abfließen kommt". Die Liebe der Frau ist bei Bachmann der Utopie der absoluten Hingabe näher als die des Mannes, doch Bachmanns Liebesutopie bedroht auch heute die vorgegebene feministische Norm. Jennifer sagt kurz vor ihrer Ermordung zum Guten Gott: "Ich liebe. Und ich bin außer mir. ich brenne bis in meine Eingeweide vor Liebe und verbrenne die Zeit zu Liebe. ... Gehen Sie endlich. Sehen Sie mich nicht so an. Atmen Sie nicht die Luft hier. Ich brauche sie. Ich liebe. Gehen sie fort von hier. Ich liebe."
Daß der gute Gott in dieser Inszenierung mit einer Frau besetzt ist,
leuchtet ein. Eine verbitterte, lieblos lebende Feministin,
deren Rechthaberei sich zu kalten, mordenden Haß steigert. Die junge
Frau muß sterben, da ihre selbstgewählte Rolle nicht der feministischen
Norm entspricht. Doch diese Norm-kritische Deutung paßt nicht zu einem konformistischen Theater, das nicht mehr die Norm hinterfragt, sondern die Normverletzung verurteilen will.
Was ist zu sehen?
Man engagierte eine junge Regisseurin, die an der Ludwigsburger Akademie für Darstellende
Kunst damit ihre Abschlußarbeit vorlegt. Welche Note sie für Ihre mangelhafte Arbeit bekam, ist unbekannt. Anaïs Durand-Mauptit streicht die Figur des Richters, denn die beiden Zeit- und Erzählstränge werden bei ihr verschmolzen. Der gute Gott berichtet nicht dem Richter, sondern er begleitet und kommentiert das Liebespaar. Die Regie scheint wenig Vertrauen in den Text zu haben, die Geschichte wird verfälscht und reduziert, es gibt dafür Szenen und Texte, die es im Hörspiel nicht gibt. Der Konflikt zwischen dem Privaten und dem Gesellschaftlichen bzw. Politischen interessierte die Regie nicht. Stattdessen thematisiert sie einseitig die Liebesgeschichte und glaubt, den Zentrum dieses Hörspiels im Zwischenmenschlichen verorten zu müssen: "Was bedeutet eine gelungene Liebe in unserem Alltag? Welche Vorstellungen haben wir von ihr und wie lassen wir uns dadurch prägen? Inwiefern ist dieses Ideal gegebenenfalls einfach überhaupt nicht erreichbar und führt nur dazu, dass wir unter der Erwartung leiden, eine ständig leidenschaftliche und glückliche Beziehung führen zu müssen." Der gute Gott von Manhattan als Geschichte über idealisierte, romantische Liebe ist allerdings eine mut- und harmlose, reduktive Mißinterpretation, die sich um das Entscheidende drückt.
Es handelt sich tatsächlich um eine Pseudo-Dramaturgie, bei der der
eigentliche Zweck (Bachmanns Text) zum Mittel wird, um in der Abschlußarbeit Versatzstücke aus
der Regieschule zu kombinieren. Es wird gehopst, gehampelt und
gekalauert, teilweise wirkt das Bühnengeschehen infantil und hilflos, als
ob man nicht für Abiturienten, sondern für Dreizehnjährige inszeniert.
So wenig man mit Ingeborg Bachmanns Text auch anzufangen vermag, so
enttäuschend ist auch die Qualität dieser Produktion, über die man kein
weiteres Wort verlieren sollte.
Fazit: "Das Staatstheater war nie ein Haus für Anfänger" sagte Intendant Peters letztes Jahr mit den BNN (mehr hier), doch da war es wohl schon zu spät, um diese Inszenierung zu verhindern. An der Qualität erkennt man die Könner, diese Produktion sollte man deshalb schnell wieder absetzen.
PS: Grenzüberschreitung, lyrisch
"... Nun steckt aber in jedem
Fall, auch im alltäglichsten von Liebe, der Grenzfall, den wir, bei
näherem Zusehen, erblicken können und vielleicht uns bemühen sollten, zu
erblicken. Denn bei allem, was wir tun, denken und fühlen, möchten wir
manchmal bis zum Äußersten gehen. Der Wunsch wird in uns wach, die
Grenzen zu überschreiten, die uns gesetzt sind. Nicht um mich zu
widerrufen, sondern um es deutlicher zu ergänzen, möchte ich sagen: Es
ist auch mir gewiß, daß wir in der Ordnung bleiben müssen, daß es den
Austritt aus der Gesellschaft nicht gibt und wir uns aneinander prüfen
müssen. Innerhalb der Grenzen aber haben wir den Blick gerichtet auf das
Vollkommene, das Unmögliche, Unerreichbare, sei es der Liebe, der
Freiheit oder jeder reinen Größe. Im Widerspiel des Unmöglichen mit dem
Möglichen erweitern wir unsere Möglichkeiten. Daß wir es erzeugen,
dieses Spannungsverhältnis, an dem wir wachsen, darauf, meine ich, kommt
es an; daß wir uns orientieren an einem Ziel, das freilich, wenn wir
uns nähern, sich noch einmal entfernt. ... "
Ingeborg Bachmann, aus der Dankesrede anläßlich der Verleihung des Hörspielpreises
Besetzung und Team
Jan: Jannik Süselbeck
Jennifer: Marie-Joelle Blazejewski
Guter Gott: Antonia Mohr
Eichhörnchen: Andrej Agranovski, Leonard Dick a. G.
Regie: Anaïs Durand-Mauptit
Bühne und Kostüme: Marie Labsch
Sounddesign: Benjamin Junghans
Licht: Christoph Pöschko