Sonntag, 20. Oktober 2019

Gounod - Faust, 19.10.2019

Groteske über toxische Weiblichkeit
Sängerisch und musikalisch war die gestrige Premiere von Gounods Faust ein voller Erfolg mit viel Applaus und Bravos für Sänger und Musiker. Mit Konstantin Gorny hat man den idealen Mephisto am Haus, Ina Schlingensiepen als Gretchen und Seung-Gi Jung als Valentin haben ihr Repertoire erfolgreich um eine weitere Paraderolle erweitert, und der seit dieser Saison neu im Ensemble singende thailändische Tenor Nutthaporn Thammathi hatte einen starken Einstieg.
Die sehr plakativ und holzschnittartig geratene Inszenierung hat Stärken und Schwächen, die Regie bleibt letztendlich unter ihren Möglichkeiten, weil sie unbedingt bedeutsam sein will und fast schon etwas verzweifelt bemüht ist, den Zeigefinger zu heben und irgendwie etwas zu verkünden. Doch wie so oft bei spießiger Besserwisserei und Belehrung: statt moralische Lehre gibt es inszenatorische Leere. Der Regisseur versucht, die unter dämonischen Vorzeichen spielende Geschichte Margarethes, die sich außerehelich von Faust schwängern läßt, versorgungslos verlassen wird, aus Verzweiflung ihr Kind tötet und im Kerker landet als "grelles Gesellschaftskarussell" zu zeigen. Das Ergebnis ist eine Groteske, in der toxisch-plumpe Männer auf toxisch-naive Weibchen treffen und die feministisch inszenierte Emanzipation Margarethes zu spät kommt: niemand zieht sie zur Rechenschaft oder verurteilt sie, sie beendet ihr verpfuschtes Leben durch Selbstmord. Die göttliche Rettung lehnt sie ab und verharrt in der Rolle als Opfer, das anderen die Schuld geben will. So ver(w)irrt das Resultat dieser Inszenierung auch auf der Bühne wirkt, es ist zu harmlos und gedankenschwach, als daß es stören würde, der positive Eindruck durch Sänger und Musiker dominiert die mißratenen Akte 4 und 5.

Worum geht es?
1. Akt: Der alte Faust sitzt im Studierzimmer und will Selbstmord begehen, zögert aber und hadert. Mephisto erscheint und bietet ihm einen Handel an: Jugend und Verführungskraft gegen seine Seele. Faust läßt sich darauf ein und wird verjüngt.
2. Akt: Volksfest, Margarethes Bruder Valentin muß zum Militär und vertraut seiner Schwester seinem Freund Siebel an. Mephisto mischt die Menge auf.
3. Akt: Die Gartenszene: Faust und Margarethe kommen sich näher und verbringen die Nacht miteinander. Mephisto lacht.
4. Akt: Margarethe ist inzwischen Mutter und wurde von Faust verlassen. Aus Verzweiflung tötet sie ihr Kind, sucht Trost in der Kirche, wo sie Mephisto quält. Valentin kehrt zurück und wird im Duell von Faust getötet. Sterbend verflucht er seine Schwester.
5. Akt: Walpurgisnacht auf dem Blocksberg - eine wüste Feier. Doch Faust erscheint das Bild Margarethes. Er kehrt zu ihr zurück, um sie zu retten. Die Kindsmörderin Margarethe wartet im Kerker auf ihre Hinrichtung und will nicht mit Faust flüchten. Ein himmlischer Chor verkündet stattdessen ihre Rettung.
  
"Pudding für das Volk" und "Goetheverhunzung"
Goethe hatte sich gegenüber Eckermann am 12.02.1829 für eine Faust-Vertonung als Oper skeptisch aufgeschlossen gezeigt: „Das Abstoßende, Widerwärtige, Furchtbare, was sie stellenweise enthalten müßte, ist der Zeit zuwider. Die Musik müßte im Charakter des ‚Don Juan‘ sein; Mozart hätte den ‚Faust‘ komponieren müssen. Meyerbeer wäre vielleicht dazu fähig, allein der wird sich auf so etwas nicht einlassen; er ist zu sehr mit italienischen Theatern verflochten.“ Daß der alte Goethe den jungen und eher unbekannten Meyerbeer nannte (dessen Pariser Erfolgsgeschichte begann erst 1831 mit Robert le diable, 1836 folgten die Hugenotten, der Prophet 1849), spricht für das aufmerksame Weltinteresse, das der achtzigjährige Goethe noch der Welt entgegenbrachte. Goethe sah im Faust also „Das Abstoßende, Widerwärtige, Furchtbare" - eine Maßgabe, die man heute kaum noch in Mozarts Don Giovanni findet. Gounods Faust hatte 1859 Premiere, 27 Jahre nach Goethes Tod.  Hector Berlioz soll die Oper als "Pudding für das Volk" charakterisiert haben, Richard Strauss bezeichnete Gounods Oper treffend als "Goetheverhunzung". Beide Komponisten haben recht und treffen doch nicht ins Schwarze. Esprit und Raffinesse können auch ohne Tiefgang wirken, die begeisternde Oberfläche ist ein hinreichendes musiktheatralisches Kriterium. Faust oder nicht Faust, das ist hier also nicht die Frage (mehr dazu hier). In Gounods Faust geht es um die Gretchentragödie und kaum um die Fausttragödie, und Faustische Erkenntnisprobleme zu Beginn der Neuzeit finden sich schon gar nicht. In Deutschland erkannte man den Etikettenschwindel dieser kulturellen Aneignung und konnte ihn nicht ignorieren. Man führte Gounods Werk deshalb  in Deutschland lange erfolgreich als Margarethe auf, - auch aus Respekt vor Goethe und mit Gounods Billigung, wie Dramaturg Dr. Boris Kehrmann im Programmheft dankenswerterweise recherchierte. Gounods Faust wurde in Deutschland ein großer Erfolg. In Karlsruhe wurde das Werk 1872 zum ersten mal gespielt, "dann stand das Werk hier jährlich bis 1939 auf dem Spielplan", nur in den Kriegsjahren wurde Gounod ausgemustert.

Was ist zu sehen? 
Regisseur Walter Sutcliffe fügt in die Ouvertüre Goethes „Prolog im Himmel“ als stumme Szene in Gounods Oper ein. Gott (als Klischee - ein alter weißer Mann) und Mephisto werden als Comic-Karikatur gezeigt, die über Sprechblasen verzweifelt versuchen, irgendwie originell zu kommunizieren. Die Szene scheitert an plumper Einfallslosigkeit. Zumindest entdecken beide Faust im Zuschauerraum, 1. Reihe rechts außen sitzt er bei den Zuschauern und beginnt zu singen. Ab da wird es kurzweilig, Gornys starke Bühnenpräsenz bringt den gut inszenierten 1. Akt schnell auf Touren.

Der ebenfalls kurzweilige 2. Akt - Mephisto bei The Simpsons. Wie beim Beginn des Intro der Comic-Serie sieht man blauen Himmel mit weißen Wolken in Comic-Manier, alles ist überzeichnet, plumpe Männer und unterbelichtete Frauen füllen die Bühne, man fühlt sich an Gottfried Benns Ausspruch erinnert: "Dumm sein und Arbeit haben, das ist das Glück." Der Regisseur behauptet, daß Faust "ein Gesellschaftsmodell konstruiert. Die Handlung ist ein artifizielles Konstrukt, das den Mechanismus der Gesellschaft bloßlegt ..... Fausts Geschichte ist die Geschichte der Gesellschaft." Nur welcher Gesellschaft? Der Regisseur zeigt drei Akte lang Szenen "in der Frauen nur als grotesk überzeichnete Zerrbilder und Objekte auftreten ...die jungen Mädchen sind bei uns Lolitas", dazu "Desperate Housewives, also reifere Damen, die die letzte Chance für eine gute Partie nutzen müssen. Ebenso sind auch die Männer Klischees". Männer und Frauen als Klischees erheben keinen Anspruch auf differenzierte gesellschaftliche Analyse. Im Programmheft nimmt man sich die Relevanz, die man szenisch behauptet. Interessanterweise bleiben alle Figuren unbestimmt. Was kann man über Faust, Margarethe und Mephisto sagen? Alle drei bleiben ohne Individualität, keine Versuchung, keine Fallhöhe, nirgends.  Das ist insbesondere für Gretchen schade, denn sie wird nun in eine unsägliche Opferrolle getrieben. Eklatant ist auch die fehlende spirituelle Komponente. Es gibt neun Gebete in dieser Oper, doch Religiosität ist hier nur Oberfläche oder Heuchelei.

Der 3. Akt im Garten mit der Liebesszene zwischen Faust und Gretchen - stets der Akt, der für das Publikum Längen aufweist. Die Regie läßt dem Liebeswerben Platz, das Liebesduett ganz ohne Manierismen, fast schon klassisch schön. Keine Gewalt, keine Vergewaltigung - die Regie inszeniert nicht, was sie im Programmheft beschreibt, Gretchen wird nicht "zerstört" (s.u.), sondern erlebt eine übliche Liebesgeschichte.

Im 4. Akt sind Himmel und Wolken verschwunden, dunkle Farben dominieren. Die schwangere Margarethe ist verlassen worden. Sie betet, nicht in einer Kirche, sondern in ihrem Schlafzimmer. Eine schwach inszenierte Szene, die Mephistos Grausamkeit gegen Margarethe nicht zur Geltung bringt. Im Hintergrund  stehen die Chor-Männer mit dunklem Anzug, roter Krawatte und Aktenkoffer als "unheilvoller" Chor (erinnerte aber visuell eher an einen Sparkassen-Chor), der szenisch keine Kraft entfalten kann, weil der Regie nichts weiter eingefallen ist. Valentins Tod ist dann auch nur sängerisch bemerkenswert. Jeder Regisseur, der heute noch glaubt, Männer in Anzug, Krawatte und Aktenkoffer könnten eine Metapher sein, sollte man sofort kündigen.

Die Walpurgisnacht des 5. Akts ist eine Szene im Theater bzw. Kino. Faust sieht etwas auf der Bühne/Leinwand und frägt sich, was wohl aus Margarethe geworden ist. Diese ist durch Zuschauereingang C kommend auf dem Weg die Treppe runter auf die Bühne. Die einst geschwängerte und verlassene Margarethe ist ein heruntergekommenes Weibsbild, die wie eine Gelegenheitsprostituierte wirkt. Was aus ihrem Kind geworden ist, bleibt unklar. Gretchen sitzt weder im Kerker noch wartet sie auf ihre Hinrichtung. Niemand will etwas von ihr, niemand klagt sie an, niemand verlangt Rechenschaft von ihr, ihr Leben ist (ohne weiteres Zutun von außen!) verpfuscht. Mit Faust will sie auch nicht gehen, stattdessen zieht sie die Konsequenz ihres Lebens: sie begeht Selbstmord. Margarethes hymnisch-religiöser G-Dur Triumph am Ende der Oper trotzt keiner Versuchung, sondern ist szenisch sinnlos in einen Suizid umgewandelt. Der Comic-Gott des Prologs kommt, um sie zu retten, doch sie lehnt ab, schubst den alten weißen Mann aus seiner Wolke und nimmt überheblich seinen Platz ein - sie ist stolz, ein Opfer sein zu können und verzichtet, ihr toter, jenseitiger Feminismus rührt aus ihrer Verbitterung. Schuld sind ja bekanntlich immer nur die anderen! Der Regisseur wollte unbedingt einen Knalleffekt zum Schluß, doch seine banale Schlußszene wirkt zu simpel übers Knie gebrochen und wie eine Groteske auf einen Opfer-Feminismus, der sich toxisch durch pauschale Unterstellungen und Schuldzuweisungen aus der Eigenverantwortung stehlen will.

Ver(w)irrte Regie
Man sollte eine Magister-Arbeit vergeben, um all die Verwirrungen zu analysieren, die sich im Programmheft finden! Die Oper erzählt laut Regisseur, "wie eine Frau zerstört wird". Sogar Dramaturg Kehrmann läßt sich davon anstecken, Faust "zerstört Gretchens Unschuld". Uiuiuiuiuiuiui, was für eine rückständige Puritanersicht.  Faust vergewaltigt Gretchen nicht, er flirtet und findet Gefallen bei ihr. Daß Einvernehmlichkeit die Unschuld einer jungen Frau "zerstört", ist schon eine ziemlich altertümliche und verklemmte Ansicht, vor allem heutzutage. Die weibliche Libido mag manchen welken Feministinnen und alten weißen Theater-Männern suspekt sein, daß Sutcliffe männliches Begehren an den Pranger stellt und weibliches Begehren ignoriert, ist fahrlässig undifferenziert. Insbesondere wenn man die Geschichte ins Hier und Heute verlegt und Margarethe nicht zur Kindsmörderin werden läßt, sondern einfach nur eine schlechte Beziehung erleben läßt.

Der Regisseur wollte Faust als "grelles Gesellschaftskarussell" inszenieren. Er unterlegt der Oper eine Gesellschaft, "die von Männern dominiert wird und allein dazu da ist, die sexuellen Bedürfnisse von Männern zu befriedigen. Das ist natürlich eine Männerphantasie, in der Frauen nur als grotesk überzeichnete Zerrbilder und Objekte auftreten". Der Regisseur bastelt sich eine oberflächliche und pauschale (oder wie er es nennt: grelle) Phantasie-Gesellschaft, um sie aburteilen zu können und sich den heuchlerisch wirkenden Anschein von Relevanz zu geben, indem er den spießigen Zeigefinger hebt: böse, gewalttätige Männer beherrschen infantile Frauen, die sich "ausschließlich über Männer definieren" und von denen man keine Mündigkeit erwarten kann.Doch es ist eine unsäglich pauschale Unterstellung, daß Frauen Opfer sind, Wesen ohne Autonomie und sexuelles Selbstbewußtsein, die kein Handlungsspielraum haben, wenn sie von Männern Avancen bekommen. Diese Behauptung ist schlicht nicht zutreffend. Im Programmheft finden sich auch Verweise auf Statistiken über Gewalt gegen Frauen, wobei man hier bereits widersprechen und differenzieren muß, denn die Opfer alltäglicher Übergriffe, oft verbaler Belästigungen, Drohungen und Demütigungen, sind sowohl Mädchen und Jungs, Frauen und Männer. Übergriffe gegen Jungs und Männer auszublenden, weil für sie andere Maßstäbe gelten, ist eine fragwürdige Vereinfachung. Gewalt von Frauen gegen Kinder, Alte und Schwache wird ebenfalls nicht erfaßt. Gewalt ist überall und richtet sich gegen Schwächere. Gewalt gegen Frauen und ihre "Zerstörung" - martialischer kann man es nicht ausdrücken. Männer sind hier pauschal Täter, Frauen sind als schwaches Geschlecht auf die Opferrolle festgelegt und wie Kinder schutzbedürftig.

Angesichts dieser lächerlichen Generalisierung und der fehlenden Differenzierung, muß man der Inszenierung deutlich widersprechen. Das Handeln liegt halt auch in der Verantwortung des Einzelnen, egal welchen Geschlechts. "Das Böse ist der Preis der Freiheit", wie es der Philosoph Rüdiger Safranski so treffend formulierte.

Was ist zu hören?
Gespielt wird die üblicherweise musizierte Fassung von 1869, bei der für diese Inszenierung die Ballettmusik größtenteils gestrichen wurde. Dramaturg Kehrmann hat für das Programmheft eine umfassende und unbedingt lesenswerte Analyse der Partitur verfaßt. Dirigent Daniele Squeo und die Badische Staatskapelle fingen gestern ein wenig zu lahm an, doch dann entwickelte sich eine genüßlich-süßlich-süffig-melodische Milieu- und Koloritoper mit grandioser Musik, wirkungsvollen Szenen und einer perfekten Lichtgestaltung durch Stefan Woinke.

Die letzte Karlsruher Inszenierung war ein Triumph für Konstantin Gorny als Mephisto in Thomas Schulte-Michels Inszenierung aus der Spielzeit 2000/2001 (einer Karlsruher-Salzburger Koproduktion). Manuela Uhl war damals eine wunderbare Margarethe. Schulte-Michels war in jeder Szene einfallsreich und originell (kann sich noch jemand an den Schlußchor erinnern, bei dem sich der Chor als Skelette auf das Publikum zubewegten oder die in unheimliche Kunstnebel getauchte Kirchenszene?). Knapp zwei Jahrzehnte später ist es erneut Konstantin Gorny, der Mephisto stimmlich und darstellerisch mit einer Autorität und Lust auf die Bühne bringt, daß man einfach nur BRAVO! rufen kann. Und was er evtl. an Agilität eingebüßt hat, kompensiert er durch Ausdruck und Bühnenpräsenz.
Als Margarethe ist der lyrische Sopran von Ina Schlingensiepen prädestiniert. Sie hat die Stimme für die zurückhaltenden und sanften Momente, sehr schön die Ballade vom König von Thule, die Juwelen-Arie war fast zu unschuldig und zu wenig sinnlich, doch in der Summe ist dies eine weitere Paraderolle für sie. Schade, daß die Regie sie nicht optimal in Szene setzt und sie zu blaß beläßt.
Der junge Tenor Nutthaporn Thammathi überraschte bereits im 1. Akt mit deklamatorischer Kraft, seine Stimme hat ein attraktives Timbre, die Kavatine gelang ihm hingebungsvoll lyrisch. Die Höhen manchmal etwas forciert, was aber auch der Premierenanspannung geschuldet sein kann. Beim Schlußapplaus schien er erleichtert, daß der erste Applaus des Karlsruher Publikums herzlich und begeistert war. Viele Bravos gab es für Seung-Gi Jung, der mal wieder bewies, was man in Karlsruhe an ihm hat. Alexandra Kadurina nutzte die Rolle als Siebel, obwohl die Regie auch sie etwas im Stich ließ. Und wie schon in den letzten Jahren seit der Übernahme durch Ulrich Wagner üblich, zeigte sich der Chor bestens aufgelegt. 

Fazit: Musikalisch und sängerisch ein Genuß. Von der wichtigtuerischen Regie sollte man sich nicht stören lassen.

Besetzung und Team:
Faust: Nutthaporn Thammathi     
Mephistopheles: Konstantin Gorny
Valentin: Seung-Gi Jung
Wagner: Barış Yavuz 
Margarethe: Ina Schlingensiepen
Siebel: Alexandra Kadurina
Marthe Schwerdtlein: Ariana Lucas

Musikalische Leitung: Daniele Squeo
Regie: Walter Sutcliffe
Bühne: Kaspar Glarner
Kostüm: Dorota Karolczak
Licht: Stefan Woinke
Chor: Ulrich Wagner