Freitag, 2. Juni 2017

Schiller - Die Jungfrau von Orleans, 01.06.2017

Gut gescheitert
Zwei Stunden lang bahnte sich gestern eine Überraschung an, Optimisten konnten hoffen, daß man vielleicht Zeuge einen Paradigmenwechsels sei, denn man sah dichtes, spannendes und scheinbar schlüssiges Schauspielertheater und mit Paula Skorupa in der Titelrolle hat man eine beeindruckende Verstärkung engagiert, deren Namen man sich unbedingt merken muß. Bravo! Doch dann, als es nach zwei Stunden mitten im dritten von fünf Akten in die Pause ging, erfolgte eine weitere ernüchternde Überraschung: keine Pause, das Stück ist vorbei, ein Actus Interruptus, man hört mittendrin auf! Die Inszenierung bleibt dem Publikum die Auflösung schuldig. Wie schade und auch unverständlich, denn bis dahin gelang der Regie viel, aber anscheinend um den Preis, in einer Sackgasse gelandet zu sein. Eine Fortsetzung "Die Rückkehr der Jungfrau" ist bisher leider nicht geplant.

Um was geht es?
Ort und Zeit: Frankreich um 1430. Die Welt ist wie immer in der Krise.
Vorgeschichte: im späten hundertjährigen Krieg (1337-1453) zwischen England und Frankreich um den Machtanspruch auf den Thron scheint sich der Vorteil zur englischen Seite geneigt zu haben. Nach dem Tod des französischen Königs ist der Thron vakant, der französische Thronfolger, der spätere Karl VII. scheint verloren, das Bündnis aus England und Burgund belagert Orleans, die letzte Bastion der Franzosen. Schillers Stück ist ein Machtkrimi, der durch das wundersame Auftauchen von Johanna von Orleans in neue Bahnen gelenkt wird.
  • Es gibt die Seite des späteren französischen Königs Karl VII. mit seiner Geliebten Agnes Sorel, Karls Halbruder Graf Dunois (ein illegitimer Sohn des toten Königs), und den Feldherrn La Hire.
  • Karl hat seine Mutter Isabeau aufgrund ihres freizügigen Lebensstils verbannt. Die Königswitwe ist voller Haß auf ihren Sohn und unterstützt die Ansprüche Englands und wird aktiv an der Gefangennahme Johannas mitwirken.
  • Philipp der Gute ist als Herzog von Burgund auf Seiten Englands, denn ein Gefolgsmann des französischen Königs tötete seinen Vater. Johanna bekehrt ihn zum Seitenwechsel.
  •  Auf englischer Seite gibt es den Feldherrn Talbot und den Anführer Lionel, in den sich Johanna auf dem Schlachtfeld verliebt. In der Folge verläßt sie das Glück, es scheint als ob England wieder die Überhand gewinnt.
Johanna von Orleans, eine junge Bauerntochter, die ihr Leben mit Schafehüten verbracht hat, fühlt sich von der Jungfrau Maria auserkoren, Frankreich zu retten. Sie taucht plötzlich auf dem Schlachtfeld auf und wendet das Kriegsglück zur französischen Seite. Karl empfängt sie, macht sie zu seiner Gallionsfigur, bei seiner Königskrönung steht sie an seiner Seite. Ins Wanken bringt sie eine Verliebtheit zum Engländer Lionel, den sie nicht töten kann und entkommen läßt. (Hier ungefähr endet die neue Karlsruher Inszenierung). Ihr Stern sinkt, sie wird der Ketzerei beschuldigt, von Engländern gefangengenommen und eingekerkert. Doch Gott kehrt zu ihr zurück, sie sprengt ihre Ketten, entkommt dem Kerker, verhilft Frankreich in einer Schlacht zum Sieg und erfährt einen Verklärungstod aus der Kategorie "Schöner sterben".
   
Was ist zu sehen (1)?
Das Stück wird deutlich gekürzt, Nebenfiguren eliminiert, Szenen gestrichen, es entfallen bspw. alle Familienszenen mit Vater und Schwestern, die Szene des englischen Feiglings Montgomery, der auf dem Schlachtfeld um sein Leben bettelt und von Johanna getötet wird, ebenso das Erscheinen des geheimnisvollen schwarzen Ritters (Johanna nimmt ihn nur als innere Stimme wahr), die Beschuldigung als Hexe am Ende des dritten Akts sowie der Rest: Johannas Gefangennahme, ihr Ausbruch und ihr Tod finden nicht statt. Das Brutale und Kriegerische wird minimiert, es gibt keine Schwerter, Talbot stirbt nach einem Rededuell mit Johanna. Für das Religiöse ist kein Platz. Das göttliche Sendungsbewußtsein wird nie fanatisch oder dogmatisch, Religion ist hier eine private Sphäre, die keine aufdringlichen Symbole benötigt. Wunderlich und wundersam ist das Geschehen um Johanna und das beläßt auch die Regisseurin. Man versucht den Spagat zwischen religiösem Märtyrertum und patriotischem Verantwortungsbewußtsein (“Was ist unschuldig, heilig, menschlich gut, wenn es der Kampf nicht ist ums Vaterland?” (Vers 1782)) zu vermeiden, man suchte einen Zugang zur spröden Thematik durch weitgehende Eliminierung des Problematischen und Unzeitgemäßen. Doch diese Entschärfung geht so weit, daß man ab der anstehenden Königskrönung nicht mehr weiter weiß. 

Was bleibt also von Schillers Tragödie übrig? Eine Mischung aus Polit-Thriller und Politik-Erweckung. Ersteres spielt sich überzeugend ab zwischen den drei Parteien Frankreich, Burgund und England, letzteres betrifft die Titelfigur. Das Programmheft erklärt: "Nur eines eint die Figuren und ihre Sicht auf Johanna: Sie projizieren alle etwas in sie, es ist etwas Besonderes an und um dieses Mädchen. .... Johanna wird verehrt, sie wird instrumentalisiert und dann vergessen". Nur wieso führt man das nicht konsequent durch? Das erinnert doch an den heutigen "Star". 'Helden wurden durch Stars ersetzt, beide sind zu einem frühen Ende berufen, der Held stirbt früh, der Star überlebt sich und endet in Selbstdemontage', so lautet eine Analyse von Peter Sloterdijk. Der Star lebt in einer 'permanenten Überbelichtung, ein passives Aufmerksamkeitsprivileg: man wird gesehen - und sieht selbst fast nichts'. Als Kriegs- und Propaganda-Maskottchen wird Johanna instrumentalisiert, in Karlsruhe gäbe es dann keinen Showdown, Johanna muß nicht sterben, sie ist "out", sie braucht ein Comeback. Aber soweit kommt es in dieser Inszenierung nicht, die durchaus gute Idee endet im 3. Akt im Nirwana und entwertet das ganze Regiekonzept zu einem Nichts.

Was ist zu sehen (2)?
Bühne, Kostüme und Musik sind gut, sie passen. Die Bühne von Vinzenz Gertler "vereint die beiden Themen, die das Stück von Anfang bis Ende durchziehen: Glaube und Krieg. Eine riesige Glocke hängt über einem Halbrund aus hellen, hölzernen Kirchenbänken ... ein Raum der Stille und der Ruhe als auch ein Spielfeld, eine Arena in der die persönlichen und politischen Kämpfe ausgetragen werden".
Die Kostüme von Josephin Thomas "verbinden historische Elemente mit moderner Abendgarderobe. In ihrer Zeitlosigkeit porträtieren sie eine gehobene Gesellschaft – sei es die am Hof des französischen Königs Karl VII. oder die der aktuellen Machthaber, die über Krieg und Frieden entscheiden. Nur Johanna gehört dieser Sphäre nicht an. Sie trägt einen Arbeitsanzug, bis die Figuren am Hof sie instrumentalisieren, vereinnahmen und zu einer von sich machen möchten: Sie versuchen, ihr ein goldenes Abendkleid anzuziehen, sie in Gold zu gießen." Johannas Frisur erinnert an Ingrid Bergman in der Hollywood-Verfilmung von Jeanne d'Arc 1948.
Die Musik von Daniel Freitag kombiniert 'die beiden dominierenden Themen des Stücks Glaube und Krieg mit verfremdetem Glockengeläut und Nachhall von Schlachtfeldern. Ein treibender Beat wird zu Johannas Leitmotiv'.
  
Was ist zu sehen (3)?
Paula Skorupa ist neu im Ensemble (zuvor war sie in Frankfurt und Dresden engagiert), nach ihrem großartigen gestrigen Debüt kann man sich auf die kommende Saison freuen. Ihre Johanna ist keine Hochstaplerin oder Phantastin. Sie ist oft ruhig und unaufgeregt, ihre Entwicklung beginnt mit Fragen und Unverständnis, durchaus naiv und unschuldig, aber mit wachsender Empörung. Im Laufe des Abends steigert sich dies weiter zu Wut und Unversöhnlichkeit, am nebulösen Schluß meint man fast auch Hetze herauszuhören. Ob das der Versuch der Regisseurin Juliane Kann ist, den Werdegang eines Wutbürgers als Vorbild zu nehmen, erschließt sich leider nicht. Wie Skorupa ihre Figur entwickelt und steigert, ist große Kunst und perfekt balanciert. Ihre Monologe sind fesselnd, sie steht nie neben sich und bleibt stets fokussiert. Hier hat man eine junge Schauspielerin, die bei ihrem ersten Auftritt in Karlsruhe gleich einen Maßstab und ein Ausrufezeichen setzt. Bravo!
Daß die gestrige Premiere stark war, lag auch an Skorupas Kollegen. Philipp der Gute, Herzog von Burgund ist bei Jannek Petri ein Testosteron gesteuerter Macho, seine Wendung vom Feind zum Freund ist sehenswert gelungen - Bravo! Karl der Siebente ist bei Sascha Tuxhorn leichtfertig und überfordert, Sithembile Menck ist als Agnes Sorel eine aufopfernde und loyale Geliebte. Heisam Abbas spielt einen seriösen und sonoren Graf Dunois,  Luis Quintana ist ein rücksichtsloser Talbot, Meik van Severen ein draufgängerischer Lionel und Annette Büschelberger glänzt als haßerfüllte und leidenschaftliche Königin Isabeau. Nur Jens Koch als La Hire weiß zu wenig aus seinem Text machen.
Alle zusammen ergänzen sich herausragend, die Wendungen und Entwicklungen klappen, fast immer wissen sie, die Schillerschen Verse zum Leben zu erwecken, nur gelegentlich spricht man noch zu schnell über den Inhalt hinweg.

Fazit:  Fast drei Akte lang ist man überzeugend und setzt einen Maßstab. Aber eine Inszenierung, die mittendrin aufhört? Die Karlsruher Schauspielleitung sollte sich nichts vormachen oder mit der eigenen Ideenlosigkeit kokettieren. Das Parfüm ist toll, aber es riecht nicht gut. Die Inszenierung ist spannend, aber sie scheitert. Dennoch lohnt der halbe Abend unbedingt wegen der Schauspieler! Nur sollte man sich fragen, wieso man defizitäres Theater überhaupt auf die Bühne läßt. Daß dieses Ergebnis für das Publikum nicht zufriedenstellend ist, kann man leicht erahnen.

PS(1): Abschweifung: Johanna als Superheldin und Comic-Figur

Seit Highlander und Star Wars vor fast 40 Jahren sind Schwertkämpfer wieder in Mode. Die Entwicklung Johannas vom Schafe hütenden Mädchen zur metzelnden Schwertjungfrau, die unter einem Baum von einer übernatürlichen Erscheinung ihre Bestimmung erfahren hat und durch das irdische Liebesverbot auch den tragischen Preis ihrer Auserwählung kennt, erinnert im modernen Kontext an die Geschichte einer Superheldin. Sie erfährt ihre Berufung, folgt ihr, unterwirft sich ihrer Mission, kämpft gegen das Böse (ihr Motto: "Doch tödlich ist's, der Jungfrau zu begegnen." (Vers 1598)) und verhilft dem Guten zum Sieg. Dennoch wird sie und die Lauterkeit ihrer Motive in Frage gestellt und auch Johanna erkennt Grautöne, wo zuvor Schwarzweiß vorherrschte. Erst als sie ihre Selbstzweifel und die damit verbundene Krise überwindet, kann sie als gereifte Heldin ihre Bestimmung vollenden. Der Pathos der Auserwählung scheint heute nur noch in Comic- und Fantasy-Verfilmung möglich, der allerdings in Hollywood oft durch eine gehörige Prise Selbstironie relativiert ist.

PS(2): Geflügelte Worte

"Wie kommt mir solcher Glanz in meine Hütte?" (Thibaut d'Arc, Vers 122)
"Mit der Dummheit kämpfen Götter selbst vergebens" (Talbot, Vers 2319)
  
Besetzung und Team:
Karl der Siebente: Sascha Tuxhorn
Königin Isabeau, seine Mutter: Annette Büschelberger
Agnes Sorel, seine Geliebte: Sithembile Menck
Philipp der Gute, Herzog von Burgund: Jannek Petri
Graf Dunois, Bastard von Orleans: Heisam Abbas
La Hire, ein königlicher Offizier: Jens Koch
Talbot, Feldherr der Engländer: Luis Quintana
Lionel, ein englischer Anführer: Meik van Severen
Johanna, Tochter des Thibaut d'Arc: Paula Skorupa

Regie: Juliane Kann
Bühne: Vinzenz Gertler
Kostüme: Josephin Thomas
Musik: Daniel Freitag
Licht: Joachim Grüßinger

7 Kommentare:

  1. Jetzt bin ich unentschlossen: Soll ich es meiden oder mir Karten besorgen?

    AntwortenLöschen
    Antworten
    1. Tja, für den halben Schiller (korrekter ist wohl ca 70% Schiller, was fehlt ist vom Text geringer als die Hälfte) habe ich nur Kopfschütteln, aber die zwei Stunden waren für mich so gut, daß ich mir definitiv noch mal Karten besorge. Vor allem wegen der Schauspieler aber auch weil es der Inszenierung gelingt, den Text Ernst zu nehmen. Man findet einen Mittelweg, der das halbe Stück weder dekonstruiert noch verulkt und zumindest bei mir das Interesse für den Fortgang auf sehr hohem Niveau hielt. Die Spannung bis zum Abbruch kompensiert bei mir den Frust über das Defizit.

      Löschen
  2. Ich habe den schlimmen Verdacht, dass ein Liebäugeln mit Schulklassen als Besucherzahlen-Garantie bei der Auswahl Pate gestanden hat - dem Schelm sei erlaubt, den Paten mafiös übermächtig zu sehen.
    Tatsächlich ist das Thema zur Zeit doch heiß, und eine Aussage muss unmissverständlich sein, sonst kann ja schnell Schillers Empathie und der Schauspieler Interpratation als Legitimation von gottgewolltem - das muss man ja nicht weiter begründen - "Mords-Hass" auf der Bühne sehen.
    Beim Anziehen sämtlicher Bremsen in dieser Richtung kam dann eben jene inhaltliche Leere zustande - aber noch mit heiß gelaufenem Ensemble, das Sie schön beschreiben. Am Rande des Scheiterns mobilisieren wir eben oft Kreativität, wenn zumindest nicht alles verloren scheint.Dann setzten wir als hineingeborene Routiniers sogar auf Hirtenmädchen...
    Schade, dass die so gesehen gewagte Stückauswahl nicht zu einem wirklich packenden 2017er Schiller georden ist. Und hoffentlich kein Zeichen, dass der Inhalt im Schauspiel weiterhin Ursachen nur im aktuellen Unterrichtsstoff hat (Danton, Agnes, Tschick, Werther, Johanna, Goldne Topf, Faust) oder unverfänglich sein muss (Meisterklasse, Willkommen, Hair). Bitte mehr Durchdringung, Biss, Nutzung des ja vorhandenen Potentials, mehr Staunen!

    AntwortenLöschen
    Antworten
    1. Vielen Dank für Ihren interessanten Kommentar. Die Schrumpf-Johanna taugt kaum für Schüler und es stellt sich schon die Frage: wieso bringt man die so gewagte und unzeitgemäße Schillersche Johanna, wenn man doch gar keine bemerkenswerte Idee für die Umsetzung hat. Umso länger ich darüber nachdenke, desto rätselhafter erscheint mir die Entscheidung für dieses Stück.

      Sie haben recht, Faust und Der goldene Topf sind kommende Abitur-Themen. Mal schauen, was dabei herauskommt ....

      Löschen
  3. Statt mit einer festlichen Operngala eröffnete Eduard Devrient am 17. Mai 1853 mit Schillers "Jungfrau von Orléans" den Neubau des Karlsruher Hoftheaters, sicher nicht mit einer „Schrumpf-Johanna“. Und nun? „Johanna geht und nimmer kehrt sie wieder“?

    AntwortenLöschen
    Antworten
    1. Sie kehrt sicher wieder.
      Im 19. Jahrhundert war Schillers "Jungfrau v. Orleans" sehr beliebt, eines der meistgespielten Stücke der Epoche. Es gibt auch heute Regisseure, die damit etwas anfangen können, in Karlsruhe hat man dafür meines Erachtens nicht die richtigen Verantwortlichen, die den Willen und die Standkraft besitzen, um große historische Dramen auf die Bühne zu bringen (z.B. Wallenstein oder denken Sie an die Shakespearschen Rosenkriege, die man im letzten Jahrzehnt gebracht hat und und an einem Tag als Marathon Theater 10 Stunden am Stück spielte). Dazu fehlt es an Mut, Wille und Phantasie, aber das kann sich schnell wieder ändern, alle 10 Jahre sollten die Schlüsselstellen in einem Theater neu besetzt werden .....

      Löschen
    2. @anonym
      Die aktuelle Intendanz steht für ein eng begrenztes Konzept, ich glaube nicht, daß sie etwas mit den großen Historiendramen anzufangen weiß. Wenn sie Wallenstein oder die Rosenkriege als spannende Geschichten schätzen, haben Sie wahrscheinlich aktuell keine Verbündeten bei den Entscheidern. Aber das ist legitim, für mich besteht in vielen Aspekten meiner Schauspielpräferenzen wahrscheinlich erst wieder Hoffnung, wenn der nächste Intendantenwechsel ins Haus steht.

      Löschen