Gerade kam die offizielle Mitteilung, daß die Premiere der Neuinszenierung von Schillers Wilhelm Tell am 19.06.2016 aus nicht genannten Gründen nicht zustande kommt und auf eine spätere Spielzeit verschoben wird. Stattdessen wird die Komödie Das Abschiedsdinner vom Studio ins Kleine Haus ziehen. Doch die Absetzung hat wohl einen unkreativen Hintergrund: man hatte keine passende Idee für das Stück, peinlicherweise hat man es in über 12 Monaten Vorbereitungszeit nicht geschafft, ein Inszenierungskonzept auf die Beine zu stellen oder Ersatz vorzubereiten. Einbußen bei Qualität und Leistungsfähigkeit begleiteten den scheidenden Schauspieldirektor bis zum Schluß.
Inoffiziell hört man, daß sich Regisseur, Schauspielchef und Intendant darin einig sind, daß sich Wilhelm Tell aktuell nicht weltanschaulich verwerten läßt und man das "Stück mit einer
positiven Protestbürger-Figur in der derzeitigen gesellschaftlichen und
politischen Situation nicht inszenieren kann". Linders ergänzte "Generalintendant Peter
Spuhler und ich respektieren und teilen diese Einschätzung."
Tja, man kann sich am Badischen Staatstheater also keine positive Protestbürger-Figur vorstellen. Es
scheint, als würden sich die Bundesbürger immer mehr aus der ihnen
zugedachten Rolle des Stimmviehs emanzipieren, nicht jedem kommen Wutbürger und Aktivisten gelegen. Für mehr Bürgerbeteiligung und Volksbefragungen kann man wahrscheinlich auch kaum eine Partei motivieren, die Angst vor dem Staatsbürger geht scheinbar um. Sind negative Anthropologien und konservative Menschenbilder wieder auf dem Vormarsch? Schade, daß man am Karlsruher Schauspiel keine positiven Visionen hat und Demokratieskepsis zu herrschen scheint. Beschwert man sich mit der Absetzung Wilhelm Tells getreu dem Brecht'schen Motto:" Das Volk hat das Vertrauen der Regierung verscherzt. Wäre es da
nicht doch einfacher, die Regierung löste das Volk auf und wählte ein
anderes?"?
Seit 1988 bin ich steter Besucher des Badischen Staatstheaters. Bei vielen Opern-, Theater-, Konzert- und Ballettvorstellungen im Jahr und Besuchen in anderen Städten verliert man schon mal den Überblick. Dieser Tagebuch-Blog dient mir seit der Spielzeit 2011/12 als elektronische Erinnerung. Bitte beachten Sie meine Intention: ich bin kein Journalist oder Kritiker, sondern schreibe hier lediglich persönliche Eindrücke, private Ansichten und Vermutungen für mich und Angehörige nieder.
Ihre Überlegungen zum neuerlichen Linders-Versagen gefällt mir sehr gut. Eine "positive Protestbürgerfigur" lasse sich derzeit nicht inszenieren, meint die Intendanz. Indes wird "Antigone" für die nächste Saison angekündigt. Ist deren Prostest gegen die Obrigkeit positiv inszenierbar, weil sie am Ende stirbt?
AntwortenLöschen(Überdies: Bereits in der vor-vorigen Spielzeit gelang es Linders nicht, den Abonnenten des Schauspielpremierenabos sechs neue Stücke zu präsentieren. Es musste dann die Studio-Produktion "Richtfest" als "Premiere im Kleinen Haus" (= ärgerliche Etikettierug) die Lindersche Schaffenslücke füllen.)
Wilhelm Tell ist die letzte Premiere der Saison und hätte die letzte Premiere des scheidenden Schauspieldirektors Jan Linders werden sollen. Man hätte genug Zeit, sich über das Inszenierungskonzept Gedanken zu machen oder sich Ersatz zu überlegen. Linders ruhmlose Arbeit wird nun sang- und klanglos enden. Daß die Dernière aus Ideenlosigkeit entfällt, passt zu den letzten 5 Jahren. Daß Linders nun ein Pöstchen als Assistent des Intendanten zugeschustert bekommt, entbehrt nicht einer gewissen Komik. Wie ich überhaupt glaube, daß man diese Intendanz rückblickend künstlerisch als Komödie verarbeiten sollte. Vielleicht schreibe ich eines Tages einen Roman darüber, als Vorbild würde ich Maupassants Bel-Ami betrachtenn, die Hauptfiguren der Realsatire würden bei mir die Namen Luhler und Spinders bekommen. "Eine Hand wäscht die andere" wäre ein Kernelement dieser Geschichte.
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