Die gestrige Wiederaufnahme von Mozarts Entführung aus dem Serail war aus verschiedenen Gründen interessant. Da ist zuerst der Gast zu nennen: Dirigent Alan Buribaev soll einer der Kandidaten für die Nachfolge von GMD Justin Brown sein. Zusätzlich hat man neue Sänger, die der fast ausverkauften Vorstellung aufgrund vieler Debüts Premierencharakter verliehen, sowie eine gut gemachte Inszenierung einer türkischen Regisseurin aus dem Jahr 2004. Damals gab es eine starke politische Aussage, die aber inzwischen überholt ist - die Realität ist an ihr vorbei gegangen, die Osmins haben die Bassa Selims schon längst abgedrängt.
Ina Schlingensiepen war gestern als einzige auf bekanntem Terrain: in der Premiere 2004 hatte sie noch als Blonde aufgetrumpft, später war sie erfolgreich zur Constanze gewechselt, die sie auch gestern voller Ausdruck und Souveränität sang. Als Belmonte gelang es Eleazar Rodriguez aus dem Schatten seines Rollenvorgängers Bernhard Berchtold zu treten und mit in der Höhe wunderbar offener Stimme und tenoralem Schmelz sich noch fester als Mozart-Sänger zu etablieren. Der neue Pedrillo Cameron Becker hat schon in anderen Vorstellungen positiv auf sich aufmerksam gemacht; er sang gestern voller Kraft und hat eine positive Bühnenpräsenz - mit ihm hat man in Karlsruhe einen Zugewinn zu verbuchen. Sowohl der Mexikaner Rodriguez als auch der Amerikaner Becker sprachen und sangen in sehr gutem Deutsch - Bravo! Bei Uliana Alexyuk als Blonde war es etwas anders: schöne Stimme, doch deutliche Aussprachedefizite. Sie ist noch nicht weit genug, um deutsche Rollen zu übernehmen, zumindest keine mit Sprechanteil. Als Osmin hatte man einen Gast: Friedemann Röhlig -er ist seit 2009 Gesangsprofessor an der Karlsruher Musikhochschule- agierte überzeugend mit klangschöner und eloquenter Stimme, der man gerne zuhört. Der zu früh verstorbene Jochen Neupert hatte Bassa Selim 2004 seine unverkennbare Stimme gegeben, Routinier André Wagner hatte damit gestern erwartungsgemäß keine Probleme und wertete seine Rolle durch präzise Nuancen auf.
Dirigent Buribaev und die Badische Staatskapelle musizierten einen
schönen, flüssigen und sängerfreundlichen Mozart ohne Auffälligkeiten
oder Balanceprobleme - es machte Spaß zuzuhören, die Konzentration wurde
nicht über Gebühr von den Sängern in den Orchestergraben geleitet.
Fazit: Eine sehr schön musizierte und gesungene Vorstellung - kaum eine Arie fiel ab, man bewegte sich auf gleichmäßig hohem Niveau.
Bei der Inszenierung der türkischen Regisseurin Yekta Kara wird die Ungleichzeitigkeit von Kulturen gezeigt, nicht nur international, sondern auch national. Daß Belmonte einen Anzug und Sonnenbrille trägt, das Mobiltelefon am Ohr hat, von Börsenkursen begleitet wird und als Spekulant, ungeduldig und ignorant gezeigt wird oder Pedrillo als respektloser Tourist in Jeans, Turnschuhen und Hawaiihemd auftritt sowie Osmin und Bassa Selim in traditionellem/historischem Gewand gezeigt wird, ist deutliche Kostümsprache. Doch auch die Türken sind gespalten. Den stärksten Moment entfaltete die Regisseurin 2004 im Schlußbild, wenn sich der Chor entflechtet und sich zwei Parteien gegenüber stehen. Die Türken haben sich inzwischen für die religiösen Traditionalisten entschieden und der türkische Ministerpräsident Erdoğan wird nirgendwo in Europa von den türkischen Exklaven stärker unterstützt als in Deutschland: ca. 60 Prozent der hier lebenden Türken wählten die islamisch-konservative Partei des umstrittenen Staatschefs und zeigten ihre Ablehnung gegenüber dem säkularen Westen. Der frühere langjährige Korrespondent der Wochenzeitung Die Zeit in Istanbul, Michael Thulmann berichtete vor wenigen Wochen über seine Zeit in der Türkei (mehr hier): "Ein Hindernis, uns in Istanbul zu Hause zu
fühlen, wuchs mit der Zeit. Es waren die polarisierten Debatten in der
Gesellschaft, die zunehmende Feindschaft der Türken untereinander. Erst
ging sie von den Säkularen und Kemalisten aus. Säkulare Eliten
fürchteten die Konkurrenz der aufsteigenden gläubigen Mittelklasse, sie
verabscheuten den Anblick von Kopftüchern in den ehemals kopftuchfreien
schicken Vierteln der Stadt. Und sie hassten Ministerpräsident Erdoğan,
unter dem die Gläubigen einen besseren Platz im öffentlichen Leben
erhielten. .... Doch dann antwortete der Gehasste mit noch
viel mehr Hass und verfolgte seine Gegner rigoros. Erdoğan wurde ab
2011 zunehmend autoritärer. Die Polizeigesetze wurden verschärft, die
Justiz gleichgeschaltet. Immer mehr Internetseiten wurden gesperrt. Mit
uns befreundete Journalisten verloren ihre Jobs. Gegen manche von ihnen
wurde eine regelrechte Hexenjagd entfesselt. Dagegen brachten das
staatliche Fernsehen und Radio von früh bis spät Erdoğan-Reden."
Karas Regie führte 2004 diese Konfrontation dem sehenden Publikum bereits vor Augen. Was damals wie ein innertürkischer Konflikt aussah, ist inzwischen ein weitreichendes Problem. Die Folgen der islamisch-konservativen Rückbesinnung sind nicht nur durch das Wahlergebnis in Deutschland spürbar: "Ein Staat, zwei Welten" titelte das ZDF eine Dokumentation über Moslems in Deutschland, die zwar hier leben, aber das Grundgesetz für sich kaum oder nicht anerkennen und in einer Parallelwelt leben. Das ZDF stellte dabei die Fragen: "Gibt es Grenzen der Toleranz? Müssen wir dulden, daß die Gleichberechtigung ignoriert wird, Andersdenkende unterdrückt werden, daß es eine Paralleljustiz gibt?" Nicht wenige fürchten, daß der politische Islam auch hier Ansprüche im öffentlichen Leben anmelden wird. Damit wird wiederum eine Ablehnung provoziert, die manche oberflächlich als Islamophobie diffamieren wollen, tatsächlich aber andere Gründe hat; der Karlsruher Philosoph Peter Sloterdijk erklärte es aus atheistischer Sicht: "ein vormaliger Indifferentismus, dem angesichts der neuen Frechheit der Religiösen der Kragen platzt".
Team und Besetzung:
Constanze: Ina Schlingensiepen
Blonde: Uliana Alexyuk
Belmonte: Eleazar Rodriguez
Pedrillo: Cameron Becker
Osmin: Friedemann Röhlig a.G.
Bassa Selim: André Wagner
Musikalische Leitung: Alan Buribaev a. G.
Regie: Yekta Kara
Bühne & Kostüme: Michael Scott
Seit 1988 bin ich steter Besucher des Badischen Staatstheaters. Bei vielen Opern-, Theater-, Konzert- und Ballettvorstellungen im Jahr und Besuchen in anderen Städten verliert man schon mal den Überblick. Dieser Tagebuch-Blog dient mir seit der Spielzeit 2011/12 als elektronische Erinnerung. Bitte beachten Sie meine Intention: ich bin kein Journalist oder Kritiker, sondern schreibe hier lediglich persönliche Eindrücke, private Ansichten und Vermutungen für mich und Angehörige nieder.