Kehrtwende zur Nostalgie
Keine Entrüstung, keine Buhs, dafür einhelliger Jubel und viel Applaus - diesmal entstellte und verhunzte die aktuelle Intendanz kein beliebtes Werk und hat die Pflichtaufgabe, das Publikum nicht durch sinnschwache Ideen zu verärgern, bestanden. Die Kür blieb ähnlich überraschungslos wie bei der letzten Karlsruher Inszenierung im Jahr 1995: man verzichtet auf Modernisierung und Aktualisierung und bleibt im London des Jahres 1912, zeigt aufwändige Kostüme und Bühnenbilder und lehnt sich an den Film an. My fair Lady - das beliebte Nostalgie-Musical, bei dem viele immer noch sofort an die Verfilmung mit Audrey Hepburn denken - erlebt in Karlsruhe eine zeitlos klassische, wunderbar leichte, schwungvolle und geglückte Umsetzung mit einer klaren Betonung am Ende: Eliza
will nichts mehr vom sturen Exzentriker Higgins wissen und verlässt ihn, und zwar "für immer", wie das Programmheft rabiat postuliert. Der Regisseur erlaubt sich dabei einen diskreten Scherz und belebt die flapsige Redewendung, daß zur Feministin wird, wer keinen Mann abbekommen hat. Dem Publikum gefiel's in hohen Maßen, vor allem die hinreißende Kristina Stanek überzeugte in der Hauptrolle als Eliza optisch und akustisch: eine bildhübsche Opernsängerin, die nicht nur singen kann, sondern auch überzeugend als Schauspielerin agiert - ein Auftritt, mit dem sie sich in die Herzen des Publikums singt und spielt.
Worum geht es?
My fair Lady - uraufgeführt vor knapp 60 Jahren im Februar 1956 mit Julie Andrews und Rex Harrison in den Hauptrollen, erfolgreich verfilmt 1964 mit Audrey Hepburn anstelle von Andrews und Rex Harrison. Die Handlung basiert auf George Bernard Shaws Komödie Pygmalion. Das Sein (und hier konkret die Sprache) bestimmt anfänglich das (Klassen-)Bewußtsein. Eliza Doolittle hat einen heftigen Unterschichtenakzent -in Karlsruhe spricht sie wie gewohnt mit Berliner Dialekt- und Phonetik-Professor Higgins will sie durch Sprechtraining Oberschichten-tauglich machen. Ein Experiment, das letztendlich gelingt und seltsame Folgen hat: die junge Frau entwickelt mehr oder weniger Neigungen zum älteren Professor, der sie wiederum als Experiment ohne Rücksichtnahme auf psychologische Wehwehchen behandelt. Das filmische Happy-End kann man als Altherren-Erzieher-und-Dominanz-Phantasie abtun, bei dem die Unterlegene den Überlegenen bewundert und bleibt, es kann aber auch eine Emanzipationsgeschichte sein, eine Beziehungsgeschichte von Gegensätzen. In Karlsruhe findet man dafür nun eine andere Lösung. Das Bewußtsein bestimmt letztendlich doch das Sein - Eliza entscheidet sich gegen Higgins und wird zur frühen Frauenrechtlerin.
Was ist zu sehen?
Nach Ansicht des britische Regisseurs Sam Brown zufolge "sind Zeit und Ort für die Handlung
wesentlich", es ist ihm "eine besondere Ehre und Freude, für das
Karlsruher Publikum diese besondere Atmosphäre und das London Edwards
VII. und George V. aufs Neue heraufzubeschwören". Die neue Karlsruher My fair Lady ist ein Ausstattungsstück, Bühne und Kostüme sind aufwändig. Brown zeigt "eine durch und durch britische Gesellschaft ...., eine Gesellschaft, in der mangelhafte sprachliche Fähigkeiten ein ernst zu nehmendes Hindernis auf dem Weg zum Erfolg darstellen. Für viele Zuschauer in den USA, aber auch in Europa, war und ist My Fair Lady eine Reise in eine andere Welt: ins frühe 20. Jahrhundert, nach Großbritannien, in dieses rätselhafte Land mit seinem strengen System von gesellschaftlichen Klassen und Traditionen". Der Regisseur erlaubt sich eine Besonderheit: London zur Zeit My Fair Ladys war ein Zentrum des frühen Kampfes für Frauenrechte. "Die Geschichte der Suffragetten in Großbritannien ist eine Geschichte der Mittel- und Oberschicht." Brown erklärt, er "habe in Eliza immer eine frühe Feministin gesehen", sie kommt mit dieser Bewegung in Berührung. Brown lässt in seiner Inszenierung "einen stummen Suffragettenchor auftreten zu lassen, der Eliza auf ihrem Weg begleitet. Auch wenn Eliza selbst möglicherweise zunächst nicht versteht, wer diese Frauen sind und was sie wollen, so stellt diese politische Bewegung einen wichtigen historischen Hintergrund für ihre Entwicklung zu einer selbstbestimmten Frau dar". "Higgins und Eliza steht in krassem Kontrast zu den traditionell romantischen Liebesbeziehungen des Musiktheaters jener Zeit." Daß gerade dieser Kontrast von der unterschwelligen Anziehung zwischen den beiden einen wesentlichen Teil des Stückes darstellt, wird vom Regisseur übersehen. Dabei ist es seit Shakespeares Widerspenstigen Zähmung ein beliebtes Hollywood-Sujet: die unmögliche Liebe gegensätzlicher Persönlichkeiten, die zum Happy-End kommt, ist ein Dauerbrenner. Bei Brown wird niemand gezähmt, das Ende ist hinsichtlich der Beziehung unversöhnlich. "Am Ende steht für mich eine Eliza, die bereit ist für ein neues Zeitalter. .... Higgins hingegen hat wegen seiner Eitelkeit und anderer charakterlicher Defizite eine Möglichkeit verpasst, glücklich zu werden." Der Exzentriker Higgins kann sich nicht ändern, die gedemütigte Eliza schließt sich den Suffragetten an. Die eigentliche Pointe dieser Inszenierung ist also, daß man aus enttäuschter Liebe zur Feministin wird. Das sonst so verkrampft "politisch korrekt" agierende Staatstheater erlaubt sich wahrscheinlich unbeabsichtigt einen kleinen, "politisch inkorrekten" Seitenhieb auf den Feminismus.
Was ist zu hören?
Beschwingt und mit leichter Hand glückt diese Premiere, vor allem Kristina Stanek ist als Eliza Doolitle ein Volltreffer: sie spielt, singt und agiert bewundernswert souverän - besser geht es kaum, Stanek ist eine Idealbesetzung. Vielleicht kann man noch mehr Berliner Schnauze einbringen, aber im Südwesten ist das kein echtes Kriterium. Die junge Opernsängerin wird im Sommer den Romeo in Bellinis wunderschöner Romeo-und-Julia Oper I Capuleti e i Montecchi singen - eine Rolle, auf die sie sich besonders freue, erklärte Stanek zu Beginn der Saison. Und auch im Publikum werden nun einige freudig gespannt auf Bellini warten.
Mit Holger Hauer hat man einen Schauspieler, der den exzentrischen und originellen Higgins trotz seiner herablassenden Überlegenheitspose durch seine Offenheit und Direktheit nie unsympathisch werden lässt. Pavel Fieber soll 1.500 mal als Prof. Higgins auf der Bühne gestanden haben, hier hat er einen starken Auftritt als Oberst Hugh Pickering, seine 74 Jahre merkt man ihm nicht an. Alfred P. Doolittle ist bei Edward Gauntt bestens aufgehoben, viel Applaus bekamen Cameron Becker als Freddy Eynsford-Hill und Eva Derleder in verschiedenen Rollen sowie alle Beteiligten. Chor, Statisten, Gäste und Artisten - viel Aufwand, der sich gelohnt hat. Dirigent Steven Moore gelingt das Kunststück die Badische Staatskapelle wie ein Musical-Orchester klingen zu lassen: frech und schwungvoll und voller Elan.
Fazit: Bravo! Das Musical-Publikum kommt auf seine Kosten. My fair Lady macht Freude und wird ein Zuschauermagnet werden. Kristina Stanek in der Hauptrolle sowie alle Beteiligten an dieser engagierten Produktion werden viele Zuschauer glücklich und zufrieden machen.
PS (1): Gelingt
es doch wieder, verscheuchtes Publikum zurück zu locken?
Wie bereits
bei der so unnötig vertanen La Bohème im Januar hatte man nun auch gestern ein volles
Premieren-Haus. Bereits früh im November waren die A- und B-Premiere und erste Folgetermine von My fair Lady
so gut wie ausverkauft. Ein bemerkenswerter Vorgang - hat man doch
sonst eher mit nachlassendem Publikumsinsteresse zu kämpfen. Trifft man
mit diesem Musical den breiten Publikumsgeschmack oder weckt man
nostalgische Reflexe? Kommt neues Publikum, Musical-Fans, Gelegenheitsbesucher oder
frühere Stammzuschauer zurück? My Fair Lady ist erst mal ein Zuschauermagnet und wird im Gegensatz zu La Bohème oder der Fledermaus auch kein Publikum abschrecken, sondern hat im Gegenteil die Chance, ein großer Erfolg zu werden.
PS (2): Die verhinderte Doppelnostalgie
Es hätte auch in anderer Hinsicht ein nostalgischer Abend werden sollen, bei dem zwei frühere Karlsruher Intendanten mitspielten: Achim Thorwald in der Hauptrolle als Higgins und Pavel Fieber in der Nebenrolle des Oberst Hugh Pickering. Doch 25 Tage vor der Premiere ließ das Badische Staatstheater offiziell verlauten, daß Thorwald "wegen gravierender Unterschiede in der Auffassung von Charakter und Darstellungsweise der Rolle „Prof. Higgins“ zwischen Regisseur und Darsteller auf eigene Initiative die Rolle zurückgegeben hat und auf eine weitere Zusammenarbeit in der Produktion verzichtet". Der Grund für Thorwalds Rückzug hat allerdings wohl keine inszenatorische, sondern eine zwischenmenschliche Ursache.
Besetzung und Team:
Prof. Henry Higgins: Holger Hauer
Eliza Doolittle: Kristina Stanek
Alfred P. Doolittle: Kammersänger Edward Gauntt
Oberst Hugh Pickering: Pavel Fieber
Freddy Eynsford-Hill: Cameron Becker
Mrs. Pearce: Christina Niessen
Mrs. Higgins / Ärgerliche Frau / Mrs. Hopkins: Staatsschauspielerin Eva Derleder
Harry / 1. Obsthändler / 1. Diener: Nando Zickgraf
Jamie / 2. Obsthändler / 2. Diener: Daniel Pastewski
sowie Chor, Statisten und Artisten
Musikalische Leitung: Steven Moore
Regie: Sam Wood
Bühne: Annemarie Woods
Kostüme: Ilona Karas
Choreografie: Lucy Burge
Seit 1988 bin ich steter Besucher des Badischen Staatstheaters. Bei vielen Opern-, Theater-, Konzert- und Ballettvorstellungen im Jahr und Besuchen in anderen Städten verliert man schon mal den Überblick. Dieser Tagebuch-Blog dient mir seit der Spielzeit 2011/12 als elektronische Erinnerung. Bitte beachten Sie meine Intention: ich bin kein Journalist oder Kritiker, sondern schreibe hier lediglich persönliche Eindrücke, private Ansichten und Vermutungen für mich und Angehörige nieder.
Lieber Honigsammler,
AntwortenLöschennach Thorwalds Absage vermutete ich eine homosexuelle Beziehung zwischen Higgins und Pickering oder eine Vergewaltigung Elizas. Das Ende war dann doch ein wenig überraschend schal und die zur Ikone des Feminismus hindrapierte Eliza war für mich unfreiwillig komisch. Da kam dann wieder das spuhlertypische, zu einfach gestrickte "politisch korrekt" als Prinzip ohne Gespür für Zusammenhänge. Deswegen war Higgins auch nicht schwul - ein frauenfeindlicher Homosexueller würde Spuhlers Lieblingsklientel negativ betreffen. Dann lieber die wegen Männerfrust zur Feminstin gewordene Eliza.
VG, V.
Vielen Dank für den Kommentar! Es ist kein Zufall und kein Einzelfall, daß man bei My fair Lady auf das erwartete Ende verzichtet (auch wenn es in diesen Fall sogar eine plausible Lösung darstellt). Man will immer auch „gut gemeint“ erscheinen und in die Figuren eine plakative Haltung interpretieren, die man gut oder schlecht finden soll. Hätte Spuhler doch Peter Sloterdijks Buch "Du mußt dein Leben ändern" verinnerlicht (2011 mißlang ja schon der Karlsruher Versuch einer Bühnenfassung), dann wüßte er, daß der gelungene ästhetische Imperativ weder aufdringlich noch autoritär ist und im "ästhetischen Simulationsraum" eine "nicht-repressive Erfahrung" gemacht wird. Daß Standpunkte bei Intendant Peter Spuhler oft schulmeisterlich vermittelt werden, liegt an einer defizitären Theaterauffassung in vordergründig politischen Gewand. Der Mißerfolg der Spuhlerschen Intendanz ist u.a. auch ein Ästhetik-Defizit: "gut gemeint" ist nicht genug.
LöschenAber diese My fair Lady ist doch in gewisser Weise eine Kehrtwende: eine gelungene Umsetzung mit der man Risiken vermeidet und sich durch die Suffragettenbewegung doch einreden kann, irgendwie einen politisch korrekten Standpunkt zu beinhalten - zwar in altmodischer Verpackung und ohne jede Relevanz, aber vordergründig korrekt. Man setzt halt gerne auf einfach Gestricktes.
Hallo.
AntwortenLöschenZum 'Karlsruher Publikum' - was schon immer war und wohl immer bleibt - die Musik kann nichts dafür!und so finden sich treue Zuschauer,die wegen der Musik kommen und diese nicht für Bühnenbild,Intendant oder Inszenierung strafen.
Zum Thema H.Spuhler kann Stellen schaffen - nein(Stellenanzahl in Stuttgart begrenzt),ABER er kann Stellen verschieben,also dort eine weg,anderswo dafür die dann dahin,so hat er schon fast alle Heidelberger nun hier,siehe sein 'Vordenker',der nächstes Jahr ganz groß das Theater rettet,jetzt,ja,erst jetzt wird alles viel besser.Wie armselig ist dieses Eingeständnis,daß man plötzlich einen 'Vordenker' braucht?War alles doch nicht so toll,aber laut Interviews hatte Hr. Spuhler doch alles im Griff?Ach ja,einen Mediator brauchte die heile Welt komischerweise auch,und das auf eigenen Wunsch,tja,alles offiziell und öffentlich,was macht Hr. Spuhler/die Theaterleitung wohl gegen eine Flut von PRIVAT KLAGEN?Wenn der Personalrat klagt und gewinnt (6mal geschehen,6mal gewonnen)muß das Theater laut Gesetz keine Strafen zahlen,bei privaten Klagen ist das allerdings nicht so.Bis jetzt sitzt die Leitung alles aus,das wird sie auch bei privaten Klagen tun,ich wünsche dennoch schonmal 'frohe Weihnachten'....
Vielen Dank für die Informationen, wenn sie auch wieder zu belegen scheinen, was man hinsichtlich der Intendanz zu befürchten hat.
LöschenDennoch schöne Weihnachten und ein gutes und gesundes 2016!