Es gab gestern langanhaltenden Applaus nach der pausenlosen 75-minütigen Frühjahrs-Ballettpremiere, vor allem für den ersten Solisten Flavio Salamanka. Es gibt viel Sehens- und Bemerkenswertes bei dieser Uraufführung. Der Prozess wird optisch dominiert durch eine großartige Bühnenbildinstallation von rosalie. Dennoch ist dieses Ballett weniger überzeugend als erwartet: choreographisch und dramaturgisch fehlt die innere Kohärenz, denn auch wenn auf dem Etikett Kafka und Der Prozess steht - inszeniert hat man ein fast abstraktes Ballett, dessen kaum erkennbare Handlung mit Kafka nur noch als Ahnung in Zusammenhang steht. Das Ganze ist hier weniger als die Summe seiner Teile.
Worum geht es?
oder
Weder 'Kafka' noch 'Der Prozess'
"Jemand musste Josef K. verleumdet haben, denn ohne dass er etwas Böses getan hätte, wurde er eines Morgens verhaftet." Einer der berühmtesten ersten Sätze der Literaturgeschichte und ein Roman, der Raum für vielfältigste Interpretationsmöglichkeiten gibt, bspw. über Machtmißbrauch, über Schuld, das Böse an sich und die Erbsünde oder Sinnlosigkeit und bürokratisches Ausgeliefertsein. An seinem 30. Geburtstag wird Josef K. angeklagt, am Abend vor seinen 31. Geburtstag hingerichtet. Welche Tat er begangen haben soll, erfährt er in den 365 Tagen nicht. Er steht hilflos und alleine gegen einen obskuren institutionellen Apparat sowie Fehl- und Vorurteile seiner Umwelt.
Davide Bombana - früher ein erstklassiger Tänzer (u.a. Erster Solist
an der Bayerischen Staatsoper) und heute ein profilierter und gefragter
Choreograph gibt dazu folgende Erklärung: "Unser Ballett erzählt von krankhafter Furcht und dem Gefühl, verloren zu sein in unserer modernen technologischen Welt." Der Choreograph versucht seinen Blick nach innen auf Psychologisches zu richten und verortet den Prozess nicht politisch, historisch oder mit konkretem Zeitbezug: "Der Aspekt, der mich besonders
fasziniert hat, war die traumhafte Atmosphäre des Romans. Es ist wie ein
Albtraum, die Szenen sind weniger realistisch zu lesen, sie spiegeln
viel mehr die Komplexe und Probleme, die der Protagonist Josef K. hat."
Doch als Albtraum oder Halluzination wird man Kafkas Roman nicht gerecht! Im Ausdruck bleibt dieses Ballett zu unbestimmt: das Rätselhafte und Schwebende, das Verhängnisvolle und Unbestimmte Kafkas kommen in diesem Ballett so wenig zur Geltung wie die hier optisch möglicherweise angestrebte Hilflosigkeit in Zeiten der Überwachung durch technische Vernetzung, bei der es keine Aspekte des Lebens gibt, die nicht protokolliert werden. Der Choreograph schafft es also leider nicht, eine überzeugende Linie und Aussage in sein Ballett zu bringen. Handlung oder Sinnzusammenhänge sind hier kaum zu bemerken. Ob das nun Kafkas Prozess oder irgendeine andere Romanvorlage ist, macht hier keinen Unterschied.
Was ist zu sehen (1)?
Ein futuristisches Design - eine hochästhetische, ideenreiche und phantasievolle Bühneninstallation, die man gesehen haben sollte! Als Zuschauer fühlt man sich in eine Science-Fiction Geschichte versetzt. Für Choreograph Davide Bombana lebt der Roman "von der inneren Welt des Josef K", deswegen "haben rosalie
und ich anstatt nur Szenen aus dem Roman zu reproduzieren auch Bilder
geschaffen, die von der Verrücktheit und Wildheit, die die Welt
gegenüber Josef K. an den Tag legt, erzählen und sein Gefühl spiegeln".
Bühnen- und Kostümbildnerin rosalie hat jede Zeitgebundenheit entfernt und das Geschehen in eine zukünftige Phantasiewelt verlegt: "Das Bühnenbild – als mediale Skulptur – als digitaler Dschungel. Darin spiegelt sich der Überwachungsstaat mit seinem Netzwerk von undurchschaubaren, undurchdringlichen Systemen, kinetisch automatisierten Matrizen, alles in aktuellen Assoziationen – immer auf Zukunft gerichtet, denn zurück in die Schreibmaschinenästhetik des Biedermeierdenkens. Beim Kostüm eine uniformierte formale Strenge – mit starker, greller, synthetischer Farbgebung, zeitgenössischen Materialien, akzentuiert mit Emblemen und Pattern als Brandmarken der Gegenwart. Jeder ist sichtlich codiert. Alles natürlich in enger Beziehung zur Choreografie und zum literarischen Sujet. Keine Schwarz-Weiß Ästhetik der gewohnten und/oder gewöhnlichen Kafka- Welt, sondern eine extreme Perspektive auf diese schrägen Verhältnisse der Entfremdung jeglicher Existenz."
Man könnte fast vermuten, daß rosalies Bühne zu dominant für Bombanas Choreographie geworden ist. Mit der optischen und akustischen Vorgabe kann er choreographisch nicht Schritt halten.
Was ist zu sehen (2)
Josef K. ist selbstverständlich Flavio Salamanka, der als zentrale Hauptfigur fast durchgehend auf der Bühne steht und Großes leistet. Alle weiteren Tänzer sind nur in Nebenrollen zu sehen. Drei Frauenfiguren begegnen Josef K., zu allen dreien gibt es unterschiedliche erotische Spannungen, die in drei zentralen Pas de deux ihren Ausdruck finden. Bruna Andrade tanzt die zurückhaltende Fräulein Bürstner, eine Nachbarin, der sich K. gerne nähern würde. Rafaelle Queiroz als Frau des Gerichtsdieners tanzt die Figur mit einer nymphomanisch-erotischen Ausstrahlung. Leni -getanzt von Blythe Newman-, die Bedienstete des Advokaten, ist die verspielte und freizügige Frau, die sich K. schnell hingibt. Die schwierigen und anspruchsvollen Rollen werden vom Badischen Staatsballett hochkonzentriert und hochklassig getanzt - der ganz große Ballett-Sog wie bei Momo oder Mythos entsteht bei Bombana allerdings nicht.
Was ist zu hören?
Dramaturgie und Musikauswahl betonen das Surreale, das Unruhige und Gequälte, für Bombana 'erzählt der Text von Komplexen und inneren Ängsten'. Die Musik wurde dementsprechend passend gut gewählt und kombiniert und löst doch keine Begeisterung aus. Eine klare Zuordnung der (den meisten nicht geläufigen) Musik, Klänge und Töne zu den Szenen ist im Programmheft diesmal leider nicht ersichtlich. Für die Auswahl nahm man vier Komponisten und Ausschnitte aus diversen Werken:
- Walter Fähndrich (*1944): Räume, Viola Chaconette, Klang Bewegung Raum, Musik für Räume
- Olivier Messiaen (*1908 †1992): Quator pour la fin du temps, Vingt regards sur l'enfant jesus
- Einojuhani Rautavaara (*1928): Angel of Dusk, Symphonie Nr. 7
- Pēteris Vasks (*1946): Grāmata čellam, Līdzenuma ainavas, Mūsu māšu vārdi, Piedzimšana, Zīles ziņa.
Zu Beginn und Ende des Balletts liest eine Stimme Sätze aus Kafkas Roman, um die Situation zu verdeutlichen. Eine Maßnahme, die den zu schwachen Bezug des Balletts zum Roman noch verstärkt.
Fazit: Tolle Tänzer, eine erinnerungswürdige Bühnen-Licht-Installation und ein zu zusammenhangloses und sprödes Ballett. Wer Kafkas Buch kennt, erfährt aus dieser getanzten Version kaum neue emotionale Erkenntnisse; wer es nicht kennt, bekommt keinen zutreffenden Eindruck.
Team und Besetzung
Josef K.: Kammertänzer Flavio Salamanka
Fräulein Bürstner: Bruna Andrade
Frau des Gerichtsdieners: Rafaelle Queiroz
Leni: Blythe Newman
Richter: Admill Kuyler
Priester: Andrey Shatalin
Advokat: Bledi Bejleri
Maler: Pablo dos Santos
Wächter: Arman Aslizadyan, Zhi Le Xu
Landsmann: Brice Asnar
Choreografie, Inszenierung & Libretto: Davide Bombana
Bühne & Kostüme: rosalie
Seit 1988 bin ich steter Besucher des Badischen Staatstheaters. Bei vielen Opern-, Theater-, Konzert- und Ballettvorstellungen im Jahr und Besuchen in anderen Städten verliert man schon mal den Überblick. Dieser Tagebuch-Blog dient mir seit der Spielzeit 2011/12 als elektronische Erinnerung. Bitte beachten Sie meine Intention: ich bin kein Journalist oder Kritiker, sondern schreibe hier lediglich persönliche Eindrücke, private Ansichten und Vermutungen für mich und Angehörige nieder.
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Diese Geschichte kann man mittels Tanz m.E. nicht erzählen. Tanz kann die Atmosphäre, die Grundstimmung, das Beklemmende durchaus ausdrücken (was auch hervorragend gelungen ist), aber das füllt halt keine siebzig Minuten.
AntwortenLöschenWenn man das Stück als Tanz um seiner selbst willen betrachtet (so wie z.B. IN DEN WINDEN IM NICHTS), dann lohnt der Besuch auf jeden Fall.
Vielen Dank und ja, da kann ich Ihnen nur beistimmen: diese Produktion ist sehenswert als Tanz um seiner selbst Willen und dazu in besonderer Bühnensituation. Ein kafkaeskes Erlebnis hatte ich gestern nicht - und das ist mehr eine Feststellung als eine Kritik.
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