Peter Grimes brachte dem Komponisten Benjamin Britten einst internationalen Ruhm, seine Oper ist ein frühes Meisterwerk und wurde als der englische Wozzeck gerühmt - die gestrige Karlsruher Premiere wurde dem gerecht und zu einem weiteren schönen, bemerkens- und empfehlenswerten Erfolg für das Badische Staatstheater.
Zum Geburtstag
Man soll die Feste feiern, wie sie fallen und runde Jubiläen gibt es 2013 genug: bspw. der 200. Geburtstag von Wagner, Verdi und Büchner und der 100. Geburtstag von Benjamin Britten. Und es scheint eine Herzensangelegenheiten für viele Mitarbeiter des Badischen Staatstheaters zu sein, die mit englischer Muttersprache aufgewachsen sind, die vielleicht bedeutendste britische Oper in Karlsruhe aufzuführen. Der Karlsruher Generalmusikdirektor Justin Brown, Bühnenbildner Charles Edwards und Tenor John Treleaven, um nur drei gestern maßgeblich beteiligte Briten zu nennen, - ihnen allen war das Engagement und der Wille zum Erfolg anzumerken.
Great Britten und Karlsruhe
Benjamin Britten (*1913 †1976) und Dimitri Schostakowitsch (*1906 †1975) erscheinen heute als die beiden bedeutendsten Komponisten innerhalb des 20. Jahrhunderts, da bei ihnen beides, ihre Biographie und ihre Musik exemplarisch für ihre Zeit und ihre Zeitgenossenschaft herangezogen werden können.
Vor ca. 55 Jahren hatte die künstlerische Leitung der Karlsruher Oper bereits den richtigen Geschmack, denn es gab fast so etwas wie eine Aufführungstradition für Brittens Bühnenwerke. Schon 1957 gab es die Karlsruher Erstaufführung von The Rape of Lucretia (Uraufführung 1946), 1958 folgte Peter Grimes (UA 1945) -es wäre interessant zu wissen, wie man vor 55 Jahren in Karlsruhe die Oper hörte und beurteilte-, 1961 Albert Herring (UA 1947), 1967 The Beggar's Opera (UA 1948), 1968 dann die Kinderoper The little sweep (UA 1949), 1972 Noye's Fludde (UA 1958), 1982 A Midsummer Night's Dream (UA 1960), 1988 erneut Albert Herring und dann, nach 20 Jahren ohne Britten'sche Oper, erfolgte 2009 Death in Venice. Die Neuinszenierung von Peter Grimes ist also ein weiterer Schritt der Karlsruher Britten Tradition. Zwei wichtige Opern fehlen meines Wissens noch im Badischen Staatstheater: Billy Budd (UA 1951) und The Turn of the Screw (UA 1954).
Worum geht es?
Der alleinstehende Fischer und Dorfaußenseiter Peter Grimes wird von der Dorfgemeinschaft argwöhnisch beobachtet. Durch einen Unfall kam sein Lehrjunge beim Fischfang ums Leben und im kurzen Prolog wird er bei einer Gerichtsverhandlung zwar freigesprochen, aber aufgefordert keine weiteren Lehrlinge zu beschäftigen. Doch ohne Hilfe ist sein Metier kaum auszuüben und die verwitwete Lehrerin Ellen Orford bringt ihm aus dem Waisenhaus einen neuen Jungen, bei dem sie später blaue Flecken findet. Orford vermutet eine Mißhandlung und will Grimes befragen, der jedoch darüber erbost in Streit mit ihr gerät. Die Dorfgemeinschaft will Grimes zur Rede stellen, doch dann passiert ein zweites Unglück: der neue Lehrling stürzt bei einem Unfall die Klippe herab. Grimes sieht keine Chance, seine Unschuld zu beweisen und begeht nach Aufforderung Selbstmord, um dem Lynch-Mob zu entgehen.
Peter Grimes – Kinderschinder? Kinderschänder? Oder ein Opfer?
Peter Grimes ist im literarischen Vorbild von 1810 ein sadistischer Bösewicht, den die göttliche Strafe ereilt. Benjamin Britten sah die Figur anders; er sagte seinem Neffen Alan Britten, daß seine Oper von Gerüchten handele, über abscheuliche Vorurteile, eine Krankheit, die die Massen vergifte. Der Tenor Peter Pears -der erste Sänger des Grimes und Lebensgefährte Brittens- bestätigte, daß die Geschichte das Drama eines Individuums gegen die engstirnige Masse darstellen sollte. Im Libretto wurden Anspielungen auf Sadismus oder Homosexualität beseitigt und erst rückblickend, mit Wissen um Brittens Leben (in seinen Opern geht es generell oft um das Unglück tabuisierten Verlangens) kann man erahnen, daß es auch die Tragödie eines Homosexuellen sein könnte. Warum begeht Grimes Selbstmord? Wird er nur durch Feindseligkeiten und Ablehnung seiner Umwelt in den Tod getrieben? Oder in welchem Maße ist die Einsicht in die eigenen charakterlichen Defizite, die Ablehnung der sadistischen oder päderastischen Tendenzen seiner Persönlichkeit ausschlaggebend? Die Karlsruher Inszenierung gibt eine klare (und für einige wenige vielleicht etwas zu einfache und einseitige) Antwort: Grimes ist ein Opfer. Regisseur Christopher Aldens Regie übernimmt und entspricht damit Benjamin Brittens Sicht.
Was ist zu sehen?
Die Zwillingsbrüder Christopher Alden und David Alden wurden 1949 in New York geboren und sind beide seit Jahrzehnten als Opernregisseure aktiv und bekannt und werden wahrscheinlich regelmäßig verwechselt. Beide inszenieren 2013 Peter Grimes. David Aldens Regie hatte im Januar Premiere an der Deutschen Oper in Berlin (allerdings war das eine Übernahme, die 2009 in London erstmals gezeigt wurde), Christopher Alden folgte gestern in Karlsruhe. Peter Grimes ist bei Ch. Alden vor allem also eines: das Opfer einer feindseligen Gruppendynamik, die ein Feindbild benötigt. Die Bewohner des Fischerdorfs fanatisieren sich immer stärker gegen den gesellschaftlichen Außenseiter und werden zu einer paranoid faschistischen Masse, die leicht den Schritt zum Lynch-Mob nimmt.
Alden beweist sich als gewiefter, geschickter und einfallsreicher Opernregisseur: ihm genügt ein (übrigens sehr gut gemachter) Einheitsraum auf der Bühne, um alle Szenen zeigen zu können. Die Kostüme passen zur Entstehungszeit der Oper, Aldens Figuren erhalten ein klares Profil. Immer wieder ergeben sich spannende Situations- und Szenenwechsel, Stimmungsumbrüche und phantasievolle Momente. Wenn man etwas an dieser Inszenierung kritisieren will, dann, daß sie zu
plakativ moralisierend ist. Armbinden und Fahne, die Verbindung zum
englischen Faschismus eines Oswald Mosley und der doppelte Tod am Ende
der Oper (Grimes begeht Selbstmord - doch dieser wird auch noch als
gesellschaftlicher Mord gezeigt): deutlicher hätte der Regisseur nicht
werden können.
Was ist zu hören?
Peter Grimes ist eine große Choroper und deshalb zuerst ein Bravo an die Chorsänger des Opern- und Extra-Chores, die von Ulrich Wagner sehr gut vorbereitet erschienen. Und auch die Badische Staatskapelle spielte unter Justin Brown eindrucksvoll und auf gewohnt sehr hohen Niveau. Peter Grimes ist vielen dadurch bekannt, daß Britten für den Konzertsaal fünf der sechs orchestralen Zwischenspiel als Sea Interludes zusammenstellte. Im Programmheft schreibt Justin Brown:
"Die Darstellung des Nebeneinanders von Mensch und Natur ist das
eigentliche Charakteristikum in Peter Grimes und vielleicht Brittens
allergrößte Leistung". Brown brachte das zu Gehör: in den Zwischenspielen, der Sturmszene. Immer wieder gab es große und beeindruckende szenische und musikalische Momente, berückend schön gelang z.B. das Frauen-Quartett des zweiten Akts. Bravo!
John Treleaven hörte ich vor ca. 18 Jahren zum ersten Mal in Karlsruhe und seitdem u.a. als Siegmund, Tristan, Apollo,... und im Konzert (Lied von der Erde). Gestern nun -zu einem späten Zeitpunkt in seiner Karriere- hatte er vielleicht seinen größten Auftritt am Badischen Staatstheater: seine Rolleninterpretation als Peter Grimes setzte einen Maßstab, an den man sich erinnern wird. Bravo!
Neben Treleaven bekam Heidi Melton als warmherzige und zweifelnde Ellen Orford besonders viel Applaus und auch alle anderen Sänger an diesem spannenden Premierenabend verdienten sich ein herzliches Bravo für eine dichte und hochwertige Aufführung!
Fazit: Nach Tannhäuser und Die Passagierin folgt nun mit Peter Grimes die dritte außergewöhnliche und besondere Operninszenierung der Spielzeit. Glückwunsch an das Opernteam des Badischen Staatstheaters für ein wirklich sehr gutes Inszenierungsjahr und einen starken Saisonabschluß!
Team und Besetzung
Peter Grimes: John Treleaven
Ellen Orford: Heidi Melton
Balstrode: Jaco Venter
Auntie: Suzanne McLeod
Mrs. Sedley: Katharine Tier
Swallow: Renatus Meszar
Ned Keene: Gabriel Urrutia Benet
Bob Boles: Steven Ebel
Horace Adams: Eleazar Rodriguez
Hobson: Lucas Harbour
Erste Nichte: Melanie Spitau
Zweite Nichte: Lydia Leitner
Fischer: Thomas Rebilas
Advokat: Doru Cepreaga
Fischersfrau: Susanne Schellin
Erster Bürger: Andreas Netzner
Zweiter Bürger: Marcelo Angulo
Dritter Bürger: Thomas Krause
Vierter Bürger: Alexander Huck
Fünfter Bürger: Doru Cepreaga
Sechster Bürger: Kwang-Hee Choi
Sopran Solo: Maike Etzold
Junge: Lino Weber
Musikalische Leitung: Justin Brown
Regie: Christopher Alden
Bühne: Charles Edwards
Kostüme: Doey Lüthi
Seit 1988 bin ich steter Besucher des Badischen Staatstheaters. Bei vielen Opern-, Theater-, Konzert- und Ballettvorstellungen im Jahr und Besuchen in anderen Städten verliert man schon mal den Überblick. Dieser Tagebuch-Blog dient mir seit der Spielzeit 2011/12 als elektronische Erinnerung. Bitte beachten Sie meine Intention: ich bin kein Journalist oder Kritiker, sondern schreibe hier lediglich persönliche Eindrücke, private Ansichten und Vermutungen für mich und Angehörige nieder.
Ich stimme Ihnen zu! Wie schon die Passagierin eine sehr sehenswerte Inszenierung. Hoffentlich nimmt man den Maskenball und die Fledermaus genau so ernst und bringt die populären Opern endlich mit gleichem Schwung auf die Bühne.
AntwortenLöschenVielen Dank und ja: ich erwarte viel von der nächsten Saison und besonders auch vom Maskenball und der Fledermaus, da beide auch wieder ein größeres Publikum anziehen sollten. Aber auch bei den Meistersingern und Boris Godunow kann man einiges erwarten. 2013/14 könnte ein sehr schönes Opernjahr in Karlsruhe werden.
LöschenVielen Dank für Ihren umfassenden, interessanten und meinerseits vollumfänglich zuzustimmenden Bericht! Es ist mir immer eine Freude, Ihrem Blog vor oder nach von mir selbst besuchten Vorstellungen zu folgen.
AntwortenLöschenMit dieser erneuten Britten-Inszenierung - ich hatte bereits das Vergnügen mit "Death in Venice" - zeigt das Staatstheater wieder einmal, dass es auch jenseits der - von mir durchaus geschätzten - Klassiker der Opernliteratur neue, spannende Inszenierungen umzusetzen vermag, die dann gelegentlich auch unbequem und nicht ganz so wohlig wie Mozart oder Verdi daherkommen. So passte die düstere Geschichte um den Außenseiter Grimes dann auch nicht zum lauen Julisommerabend, und die lynchgierige Meute (wirklich toll und beeindruckend, wie der Chor neben dem hervorragenden Gesang auch durch sein Schauspiel dem gesamten Geschehen Kontur und Nachdruck verlieh) ließ einem mit ihren "Peter Grimes"-Rufen die Haare zu Berge stehen. Das war ganz großes MusikTHEATER.
Einziger Wermutstropfen für mich persönlich: Leider saß ich anscheinend inmitten des "konservativen" Abonnementpublikums, das nach der Vorstellung die Inszenierung mit konsequentem Nichtapplaus bedachte. Nun lässt sich ja bekanntlich über Geschmack nicht streiten. Aber selbst wenn einem die Musik nicht gefällt, einem die Handlung zu unbequem ist und man außerdem mit der Inszenierung inhaltlich nicht übereinstimmt, so muss man dieser Aufführung doch ihre künstlerische Qualität zuerkennen. Die Buhs für Regie und Bühnenbild empfand ich daher als Frechheit. Und an der Qualität der musikalischen Darbietung gab es meines Erachtens sowieso nichts zu kritisieren. Im Gegenteil.
Also: Weiter so, liebes Staatstheater, lieber Herr Spuhler und liebe MitarbeiterInnen! Sie befinden sich auf dem richtigen Weg ins 21. Jahrhundert. Gut, dass Sie nicht nur an das Publikum des 20. Jahrhunderts denken (was Sie in Teilen Ihres Programms aber auch gerne weiter tun können). Ich jedenfalls freue mich auf beides: auf "klassische" Opern, durchaus zeitgemäß inzeniert, auf "Klassiker der Moderne", aber auch auf "Modernes".
Vielen Dank für Ihren interessanten Kommentar! Bei mir war es anders: rund um meinem Platz im Parkett gab es sehr viel Applaus und für mich waren es ungewöhnlich wenig Buh-Rufe, die auch schnell wieder verstummten. Angesichts der klaren Regie-Sprache und überdeutlichen Symbolik rechnete ich mit mehr Ablehnung und war dann positiv überrascht, daß es fast nur Applaus und Zustimmung gab, obwohl es mehr Bravos hätten sein dürfen.
LöschenAber nichts wird so heiß gegessen, wie es gekocht wird und ich erinnere mich an das Beispiel von John Dews Regie zu Puccinis Tosca, die damals vehement bei der Premiere ausgebuht wurde und sich seit über 10 Jahren erfolgreich im Repertoire hält.
Wenn man sieht, wie viel Britten die Karlsruher Oper in den 1950ern/60ern brachte, dann muß man den Operndirektor Herrn Schaback unterstützen: ein gutes Opernprogramm umfasst den Zeitraum vom Barock bis zur Moderne.
ich stimme Ihnen also gerne zu: ich freue mich ebenfalls auf "klassische" Opern, auf "Klassiker der Moderne" und auf "Modernes".
Hallo Honigsammler
AntwortenLöschenIch verstehe die Buhrufer für den Regisseur durchaus, wenn ich auch selbst nicht so weit gegangen wäre. Christopher Alden gehört genau wie sein Bruder David der vergangenen Aera des Regietheaters an. Dieses Regietheater brachte Faschisten bei jeder Gelegenheit auf die Bühne und ich meine: es ist genug.
Das Einheitsbühnenbild (als solches sehr gut) erzeugte Bilder on beinahe elementarer Wucht (vor allem, wenn der Chor agierte) und wechselte dann zu einer Abstraktion, die nicht zum Naturalismus von Kneipe, Gerichtssaal oder Schule passen wollte. Man hätte für Grimes‘ Boot und für seine Hütte mit Zwischenvorhängen eine deutliche Abgrenzung ohne großen Aufwand schaffen können.
Nach dem starken ersten Teil versank das Stück mehr und mehr in Symbolik. Ich vermute, dass damit die Brüche zwischen Bühne und Libretto übertüncht werden sollten.
Angesichts toller Leistungen aller anderen Beteiligten bedaure ich diese Regie um so mehr. Dennoch werde ich mir die Oper zumindest ein weiteres Mal anschauen und mit den genannten Einschränkungen auch empfehlen.
Guten Tag Herr Kiefer,
Löschenwas mir an der Regie gefiel: sie entspricht den Vorstellungen des Komponisten. Britten sah den Außenseiter als Produkt der Gesellschaft. Die Symbolik (der Prolog ist ja schon ein Symbol: Grimes alleine, draußen die feindliche Mitwelt, die später Gasmasken hält - ein Zeichen für eine vergiftete Atmosphäre) ist mir gelegentlich zu stark, aber ich will Alden keinen Vorwurf dafür machen, daß er deutlich und klar ist. Wie viele andere Regisseure bewegen sich in nichtssagenden und vagen Andeutungen oder Rätseln, wenn sie nichts zu sagen haben. Alden nimmt klar Stellung und ist ein geschickter Szenen-Arrangeur: in jeder Szene hat er eine erkennbare Absicht, der Handlungsfaden ist für mich überwiegend folgerichtig, die Brüche konnte ich verkraften.
Auch das Einheitsbühnenbild war für mich nicht störend, die Wechsel zwischen Realmilieu und Andeutung fördern die Aufmerksamkeit (bei mir zumindest). Ich werde im Herbst auf jeden Fall noch ein bis zwei Vorstellungen besuchen, um meine Eindrücke zu überprüfen.
Haben Sie es bemerkt? Ihr
AntwortenLöschen"Und es scheint eine Herzensangelegenheiten für viele Mitarbeiter des Badischen Staatstheaters zu sein"
nahm die Opernwelt als "Herzenssache" auf:
„Dass Britten für den alle Mitwirkenden befeuernden, ja beatmenden Dirigenten (Justin Brown) Herzenssache ist, war in jedem Takt zu hören.“ So berichtet die OPERNWELT über die Premiere von Peter Grimes zum Ende der vergangenen Spielzeit.
Beste Grüße
Peter
Danke für den Hinweis. Allerdings glaube ich nicht, daß der Opernwelt-Rezensent sich durch meine Wortwahl inspirieren ließ, sondern tatsächlich die gleiche Erfahrung an diesem Abend machte: hier gab es ein ernstes und wichtiges Plädoyer für Brittens Oper zu hören.
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