Dienstag, 16. Juli 2013

8. Symphoniekonzert, 15.07.2013

Das 4. Violinkonzert des deutsch-russischen bzw. wolgadeutschen Komponisten Alfred Schnittke (*1934 †1998) wurde 1984 von den Berliner Philharmonikern unter Christoph von Dohnányi uraufgeführt. Der 1947 im lettischen Riga geborene Gidon Kremer spielte bereits damals den Solopart und sagte, daß er in dieser Musik die Seele seines Freundes Alfred Schnittke finde, der ihm das Konzert auch gewidmet hatte. Das viersätzige 4. Violinkonzert (bei dem jeder neue Satz länger dauert als sein Vorgänger und das durch den Einsatz von Perkussion- und Tasteninstrumenten auffällt) scheint eine anspielungsreiche biographische Musik zu sein über das Leben im Sowjetkommunismus und über die langjährige Freundschaft zwischen Interpret und Komponist. Kremer half maßgeblich, den unbekannten und in der damaligen UdSSR ignorierten Schnittke den Stellenwert zu verschaffen, den er heute besitzt.
Die heile Welt des eröffnenden Andante stürzt im 4. Violinkonzert nach wenigen Takten unerwartet und plötzlich in einem kurzen schreienden Akkord ab. Schnittke beschreibt die vordergründige Harmonie: "Zwei schöne Plüschmelodien (die eine sich als „fatum banale“ durch das ganze Stück ziehend und die andere als falsche Erlösung im 3. Satz erscheinend) sind nur zwei 'geschminkte Leichen'." Es gibt nur einen schnellen Abschnitt - das als Passacaglia angelegte Vivo ist leidenschaftlich und vorwärtststrebend und vielleicht für Hörer der interessanteste Satz: in dessen Verlauf übertönt das Orchester zunehmend den Solisten. Ein Violinkonzert mit zwielichtigem Charakter, das immer wieder auf eine verschleiernde Weise indirekt wirkt, als wollte es sich in Gegensätzen und Anführungszeichen ausdrücken.
Erhöhte Eintrittspreise im freien Verkauf - für dieses Konzert will man mehr Geld. Doch wer sich nach dem Konzert fragte, für was es sich lohnte, der könnte vielleicht antworten: für Gidon Kremer, für Justin Brown und die Badische Staatskapelle, für Bruckners Neunte. Aber wird jemand Schnittkes Konzert als Hauptgrund nennen? Freundlich starker Applaus zur Pause.
  
Anton Bruckners 9. Symphonie gehört zu den klassischen Schwerstgewichten des Symphoniebetriebs. Und gleich vorab: Justin Brown dirigierte eine sehr beeindruckende Sicht auf Bruckner, die -wollte man sie mit nur einem Wort beschreiben- zutreffend als schnell bezeichnet werden könnte. Ca. 56 Minuten benötigte Brown bei durchweg raschen Tempi, die vor allem im äußerst gelungenen mittleren Scherzo fast schon körperlich auf die Zuhörer wirkten. Dennoch -wie schon bei Browns Dirigat zu Lohengrin- könnte man Brown ein Defizit ankreiden: sein Bruckner ist zupackend und weltlich - und ganz ohne spirituelle und transzendente Momente. Es gehört zwar nicht hier her und sehr gute Aufnahmen von Bruckners 9. Symphonie sind zahlreich, doch eine liegt mir besonders am Herzen. Wer zufälligerweise eine benötigt, der höre sich die Aufnahme der Wiener Philharmoniker mit Carlo Maria Giulini an. Es ist mit ca. 68 Minuten Dauer eine der langsameren, aber für mich auch eine der spannendsten und großartigsten Einspielungen, die mich bei jedem Anhören wieder in ihren Bann zieht. Sergiu Celibidaches meditierend buddhistisches Schweben über der Partitur benötigt noch mal 10 Minuten mehr, also ca. 78 Minuten oder anders ausgedrückt: als Brown gestern den zweiten Satz beendete, hätte Celibidache gerade nur den ersten dirigiert.

Ein stark applaudierter und teilweise bejubelter Abschluß der Konzertsaison. Und wenn ich so meinen Abo-Nachbarn zuhöre, dann kann man sagen, daß Browns Beliebtheit und Reputation einen Spitzenwert erreicht hat. Glückwunsch an unseren GMD!

2 Kommentare:

  1. Lieber Honigsammler, vielen Dank für diese Zusammenfassung, mit der ich - wieder einmal - weitgehend übereinstimme.

    Schnittkes 4. Violinkonzert wird es sicher nicht unter die vielgespielten Klassiker der Musikliteratur schaffen, aber ich empfand es dennoch als sehr beeindruckend, einen Großmeister wie Kremer dieses sehr differenzierte Werk mit großer Authentizität - man merkte ihm an, dass das Stück für ihn geschrieben wurde - darbieten zu hören. Vorne im Parkett kam die Kremersche Spielweise sehr gut zur Geltung. Ich kann mir allerdings vorstellen, dass der Genuss auf den oberen Rängen beim Pianissimo eher anstrengend war. Also mehr ein kammermusikalisches Werk, ggf. für das Kleine Haus.

    Ganz anders bei Bruckners 9ter! Das Werk lebt von seinen dynamischen Schwankungen und Höhepunkten. Und die Bläser füllen ganz klar das Große Haus. In vielen Passagen haben Justin Brown und die Staatskapelle hervorragende Sinfonik dargebracht. Besonders schön m. E.: das Trio im 2. Satz! Allerdings fehlte mir etwas der Bruckners Sinfonien so eigene "Ur-Rhythmus": ein "Schreiten", eine "Unruhe", quasi auch das "Transzendente". Hierbei helfen die Generalpausen, die für mich zu kurz waren, genauso wie die differenzierte Betrachtung der (dynamischen) Höhepunkte (es sollte nur einen im Satz geben).

    Richtig: 56 min sind schon ziemlich schnell. Das hat nichts mit "entstauben der Aufführungspraxis" und "nicht getragen" zu tun. Dass es auch in 65 min stringend und unglaublich fesselnd zugehen kann, hat Günter Wand (Sie erlauben mir, hier auch eine Lieblingsaufnahme nennen zu dürfen) vor genau 20 Jahren in der Hamburger Musikhalle mit dem NDR-Sinfononieorchester gezeigt. Ich durfte damals dieses Konzert miterleben und war daher froh, gestern sowohl daran erinnert zu werden als auch Bruckner noch einmal anders zu entdecken. Es ist natürlich nicht richtig, den damals 81-jährigen, im Zenit seines Schaffens stehenden Wand mit dem dagegen "noch jungen" Justin Brown zu vergleichen, dessen Dirigate ich sehr schätze und dessen kontinuierliche Steigerung zusammen mit der Staatskapelle ein Glücksfall für Karlsruhe sind.

    AntwortenLöschen
    Antworten
    1. Herzlichen Dank für Ihre zutreffenden Ergänzungen! Günter Wands Bruckner Aufnahmen sind eine Referenz und wenn ich nicht Giulini genannt hätte, wäre er meine nächste erste Wahl.
      Browns Herangehensweise erinnerte mich etwas an einen anderen für mich wichtigen Bruckner Dirigenten: Carl Schuricht wählte vor ca 50-60 Jahren ähnliche Tempi. Das ist nicht unbedingt die Herangehensweise, die ich persönlich bei Bruckner bevorzuge. Die Satzbezeichnung "Feierlich. Misterioso" konnte ich gestern in Browns erstem Satz nicht erkennen. Dennoch eine beeindruckende Aufführung.

      Alfred Schnittke gehört für mich zu den Komponisten, von denen ich gerne mehr hören und kennenlernen würde. Gidon Kremer ist ein authentischer Anwalt seiner Werke - das 4. Violinkonzert war dennoch nicht das Erlebnis, das ich mir erhofft hatte und bei dem ich hauptsächlich Kremers engagiertes Spiel in Erinnerung behalten werde.

      Löschen