Sonntag, 25. November 2012

Peter Stamm - Agnes, 24.11.2012

Soviel vorab: Agnes ist Theaterglück! Die Inszenierung im Studio glänzt mit großartigen Schauspieler: die fabelhaften Cornelia Gröschel und André Wagner, ergänzt von Stephanie Biesolt in einer Nebenrolle, bieten 100 Minuten dichte und spannende Theaterkunst, wie man sie in Karlsruhe schon seit einiger Zeit vermisst hat.

Warum Agnes?

Es ist nicht ohne weiteres ersichtlich, wieso das 1998 erschienene schmale Buch von Peter Stamm für die Bühne dramatisiert wird. Die Antwort ist dann auch einfacher als vermutet: das Premierenpublikum bestand überwiegend aus Schülern, denn Stamms Agnes wird (wie Dantons Tod im Büchner-Gedenkjahr und Max Frischs Homo Faber, das im Sandkorn-Theater gezeigt wird) zur Pflichtlektüre an Gymnasien für die aktuelle Oberstufe. Die Bestimmung zur Schullektüre verdankt Agnes seiner perfekt konstruierten Architektur: der Autor verteilt seine Informationen puzzleartig geschickt über das ganze Buch; jede Szene hat eine Bedeutung, die man zur Interpretation und Vertiefung heranziehen kann. Stamm erzählt dabei nie um des fabulierenden Erzählens Willen, sondern schrieb eine sehr gut durchdachte und ökonomisch aufgebaute Geschichte, bei der nichts dem Zufall überlassen ist und die auch zeitdiagnostisch einigen Interpretationsspielraum bietet.

Worum geht es?
Es ist die Geschichte einer Beziehung zwischen zwei Personen, die sozial nur gering vernetzt sind und bei der beide ihrem Leben eine Form gegeben haben, bei der sie ihre zwischenmenschliche Defizite durch ihre Arbeit kompensieren. Beide scheinen ihre Einzelgänger-Position als Möglichkeit zu sehen, keine fremden Erwartungen zu enttäuschen, sich von der Erwartungshaltung anderer zu befreien und Konflikte aus dem Weg zu gehen. Agnes -eine an ihrer Dissertation schreibende Physikerin- lernt den namenlosen Ich-Erzähler -einen schweizer Sachbuchautor, der ein Werk über Luxuseisenbahnwagen schreiben will- in einer Bibliothek in Chicago kennen. Durch Zufall kommen sie sich näher, trennen sich in einer Krise, kommen wieder zusammen und erleben doch kein Happy End. Das Ende ist im Buch von Anfang an bekannt, trotzdem ist das Warum bis zum Schluß unklar und hält die Spannung im Buch aufrecht. In dem ruhigen, unspektakulären und beziehungsreichen Text erschließen sich die Verknüpfungen nicht unbedingt sofort beim ersten Lesen, sondern sind erst rückblickend richtig einzuordnen.

Nur eine Liebesgeschichte?
Trotz der vielen Schüler bei der Premiere sollte nicht daß Mißverständnis aufkommen, daß Peter Stamm einen Jugendroman geschrieben hat. Agnes ist nicht nur einfach eine unglücklich endende Liebesgeschichte, sondern auch eine seelische Kostümstudie. Wie sich die Bekleidungsmode ändert, Stil und Geschmack einem stetigen Wandel unterzogen sind (man denke nur an freizügige Zeiten, in denen das offene Cabrio der bevorzugte PKW war und vergleiche die schutzbietenden, bullig-überbreiten Allradautos, die der heutigen, sich abschottenden und rücksichtsloseren Krisen-Mentalität entsprechen), so folgt auch die Liebe den Mustern ihrer Epoche. Gerade die Literaturgattung des Romans war lange Lern- und Orientierungsmedium in Liebesangelegenheiten: bei Goethes Werther wird Liebe erleidet,  bei Jane Austen ist die Ehe noch vernunftgesteuerte Versorgungsgemeinschaft. Die Liebe wurde später romantisch überfrachtet und der Partner zum einzigartigen Individuum und Traumprinzen, wahre Liebe wurde spontan und schicksalsträchtig, die Ehebegründung änderte sich zum Liebesbeweis. Die Paarbildung ist inzwischen autonom, ihre Voraussetzungen liegen nicht mehr außerhalb der Partnerschaft, sondern werden in der Regel durch sexuelle Beziehungen erzeugt. Ob also damals  Madame Bovary oder Effi Briest oder heute Monika Marons Animal triste, Dieter Wellershoffs Der Liebeswunsch oder Peter Stamms Agnes: diese Bücher zeigen auch, wie sich die Semantik der Liebe durch gesellschaftlichen Wandel ändert.
 
In Agnes werden Individualismus und Subjektivität zu Schlüsselphänomenen der Jahrtausendwende. Der Roman  zeigt Figuren, die nur noch marginal in ein soziales Ganzes eingefügt sind oder Anschluß daran suchen. Ihr Leben ist kein Teilhaben und Teilnehmen, sondern eher eine Form der Teilnahmeverweigerung: die Mitwelt wird zum bedeutungslosen Hintergrund.  Die Partnerbeziehung ist der Ort eines Zusammenstehens gegen die Welt: Agnes und der Ich-Erzähler schaffen sich diese Zweierwelt, bei der keiner am sozialen Leben des anderen aktiv teilnimmt und keine gemeinschaftlichen Kontakte mit Freunden oder Familien bestehen. Ihre Liebesbeziehung ist losgelöst und zweipolig, andere Personen erscheinen darin als Störung. Die Figuren können bei unterschiedlichsten Aktivitäten in Beruf und Freizeit keinen inneren Zusammenhang mehr herstellen: ihr Leben ist fragmentarisiert.  

Der Beziehungsversuch scheitert und auch darin ist Agnes exemplarisch auf der soziologischen Höhe der Zeit. Eine funktionierende Beziehung fordert heute in der Regel wechselseitige Komplettanerkennung, uneingeschränktes Verständnis und eine sehr hohe Aufmerksamkeit zweiter Ordnung: man muß situationsbedingt erahnen, was der Partner erwartet. Beziehungen scheitern an Überanspruchung oder am Nichtertragenkönnen von Routine und an fehlender Relevanz und Anerkennung. Die Krisen in der Beziehung zwischen Agnes und dem  Ich-Erzähler entstehen durch nicht erfüllte Erwartungen an den Partner, da beide nicht direkt miteinander über ihre Wünsche und Vorstellungen sprechen können. Das Ende des Buchs wird zum Kommentar: Der Ich-Erzähler entscheidet sich für die Fortführung der Folgenlosigkeit seines Lebens (dazu passt seine Namenslosigkeit im Buch), Agnes resigniert angesichts seiner Liebesunfähigkeit und der unterbliebenen Sinnstiftung eines gemeinsamen Kindes. 

Was passiert auf der Bühne? 

Regisseur Christian Papke kopiert nicht buchstabengetreu Stamms Roman, sondern entwickelt seine eigene Vorstellungen, die aber den Absichten des Autors nicht widersprechen. Wer das Buch kennt, erkennt die Szenen wieder, auch wenn sie nicht in der Reihenfolge des Buches erzählt werden. Papke hat dabei seine Zielgruppe stets im Blick und einige Einfälle zielen klar auf die zukünftigen Abiturienten. Dennoch ist seine Inszenierung kein Schülertheater, sondern junges und zeitgemäßes Schauspiel, das sich auf die Liebesgeschichte konzentriert. Man kann nur hoffen, daß Agnes von vielen Zuschauergruppen den Zuspruch bekommt, den es verdient. Die komplette Produktion ist sehr gut gemacht - die anfangs leere Bühne füllt sich schnell im Verlauf der Liebesbeziehung und leert sich wieder gegen Ende und wird ergänzt durch Videoeinspielungen, Lichteffekte und Musik sowie wechselnde Kostüme - kurz: alles ist einfallsreich, variabel und stimmig.

Endlich stehen mal wieder die Schauspieler im Mittelpunkt - sie sind die Stars des Abends.
Für Cornelia Gröschel ist Agnes eine Hauptrolle, mit der sie sich in die Herzen des Publikums spielen wird.
Frisch verliebt oder in tiefer Depression, voller Energie oder in lähmender Angst - sie spielt ihre Entwicklung glaubhaft und mit großer Intensität. André Wagner ist in Karlsruhe etablierter Hauptrollendarsteller und bewies auch gestern sehr eindrucksvoll seine Vielseitigkeit beim Spagat zwischen Liebeswunsch und Unabhängigkeitsdrang. Dazu die junge Stephanie Biesolt mit einem starken und überraschenden Auftritt in der kleinen Rolle als Louise. An alle drei: BRAVO!

Fazit: Agnes wäre auch zu besten Zeiten des letzten Schauspieldirektors Knut Weber ein Erfolg gewesen, wenn  -ja ,wenn es damals eine so tolle Schauspielerin wie Cornelia Gröschel im Ensemble gegeben hätte! Sie ist das Herzstück dieser sehenswerten Bühnenfassung.

PS(1): Für welchen Zuschauer taugt Agnes? Es handelt sich um eine unglückliche Liebesgeschichte, die für ein Publikum inszeniert ist, das im Durchschnitt ca 17 Jahre alt ist. Es ist eine persönliche Genre-Entscheidung, ob man sich in diesem Zielgruppenumfeld wohl fühlt. Mehr dazu bei untenstehendem Kommentar.

Team & Besetzung
Agnes: Cornelia Gröschel
Schriftsteller: André Wagner
Louise: Stephanie Biesolt
Regie: Christian Papke
Bühne & Kostüme: Alois Gallé
Ausstattungsmitarbeit: Viktoria Strikić
Musik: Georg Luksch

11 Kommentare:

  1. Da kann ich ausnahmsweise mal gar nicht zustimmen. Ich finde den Text überladen mit kitschigen Plattitüden, und Frau Gröschel bot mir mit ihrem minutenlangen Herumgezerre an ihrem Pullover und dem ebenso quälend minutenlangen Gezittere das Bild einer überforderten Schauspielerin, der alles äußerlich ist und bleibt. Auch André Wagner habe ich schon stärker gesehen, weswegen ich dieses Manko der Regie anlaste, die die beiden in etwas zu starkem Aktionismus über die Bühne hetzte statt den Wörtern zu vertrauen. Mir fehlten die Differenzierungen, die Zwischentöne.

    Schade, aber ich kann in diesem Fall nur eine dringende Warnung aussprechen.

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    1. Vielen Dank für Ihren Kommentar, den ich nachvollziehen kann, aber auch relativieren möchte.
      Liebesgeschichten und Liebesfilme sind stimmungsabhängig: für die einen Kitsch, für die anderen zum Heulen (egal ob aus Glück oder Unglück). Vielleicht ist der Text mit kitschigen Plattitüden überladen, aber er ist kein kitschiger "Trash" . Ich fand das Stück nicht unerträglich sentimental oder kitschig genug, um es abzulehnen. Einerseits handelt es sich meines Erachtens um eine wirklich gelungene Romanadaption, andereseits ist der Text für eine Zielgruppe inszeniert, die durchschnittlich 17 Jahre ist. Deshalb kann ich auch Ihre Warnung gut nachvollziehen: wer die genannten Rahmenbedingungen kritisch sieht, wird bei dem Stück nicht glücklich.
      Cornelia Gröschel fand ich durchweg glaubwürdig - die Änderungen in Mimik und Haltung haben mich beeindruckt und überfordert war sie für mich zu keinem Zeitpunkt - ich fand sie sehr souverän.
      Das "Herumgezerre an ihrem Pullover" und "Gezittere" war mir auch etwas zu lang und hätte vom Regisseur durchbrochen werden sollen.
      Wie sie oben lesen konnten, sind für mich die Defizite vernachlässigbar - aber schieben wir es in dem Fall auf das Genre, daß unsere Beurteilung bei Agnes nicht übereinstimmen.

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    2. soll ich heute abend nun reingehen mit meiner frau, oder nicht...., immerhin anfahrt von BadBad...
      robert

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    3. Hallo Robert, ich kenne Ihren Geschmack nicht. Agnes ist für ein junges Zielpublikum adaptiert. Wenn Sie den Roman gerne gelesen haben, wird es Ihnen wahrscheinlich gefallen.
      Parallel gibt es heute Abend im Großen Haus das Ballett Siegfried. Wenn Sie sich unsicher sind, einigen Sie sich doch auf das Ballett, das auch ein beeindruckendes Symphoniekonzert ist.

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  2. Können Sie mir weiterhelfen? Wie erkenne ich welche Vorstellung für Schulklassen sind und welche für dir normalen Zuschauer? Verstehen Sie ich habe da schon schlechte Erfahrung mit störenden und schwätzenden Schülergruppen gemacht und will nur in Agnes wenn es schulklassenfreie Termine gibt

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  3. Ich glaube, daß Staatstheater macht da keine Unterscheidung. Vielleicht kann der Vorverkauf (Telefon 0721 93333. Montag bis Freitag 10 bis 18.30 Uhr, Samstag 10 bis 13 Uhr) Ihnen sagen, welche Vorstellungen Schüler-frei sind.
    Ich empfehle Ihnen den SAMSTAG, 22.12. – da gibt es noch Karten und es sind Schulferien – sehr wahrscheinlich eine Erwachsenen-Vorstellung!

    Zu Ihrer anderen Frage: ja, ich kann Sie gut verstehen. Jugendliche, die zum Besuch gezwungen werden, rächen Sie oft auf Kosten aller Zuschauer. In diesem Fall haben Sie es mit Schülern zu tun, die 2014 Abitur machen wollen. Die anwesenden Schulklassen waren bei der Premiere diszipliniert genug, um freundlicherweise nicht zu stören.
    Es war aber auch eine interessante Feldstudie für mich als Besucher. Hätte ich Agnes nicht so interessant, gut und spannend gefunden, wäre ich als Beobachter auf meine Kosten gekommen. Die Unterschiede bei den ca 17jährigen waren enorm – einerseits wirkten einige wie junge Erwachsene, andere als wären sie noch Kinder und nur im Frühstadium der Pubertät. Vor mir saß eine Gruppe eher noch kindlicher Jungs, denen man den Besuchszwang ansah, die teilweise Jacken und Schals anbehielten und ihre Bereitschaft sofort wieder zu gehen und die Verachtung für entweder das Buch, das Umfeld und/oder den Deutschlehrer zeigten. Sie klatschten auch nicht am Schluß, sondern blieben mit verschränkten Armen sitzen. Solange Jugendliche ihre Ich-Findung nur durch Abgrenzung von anderen(m) definieren können, sind sie die borniertesten Wesen der Welt.
    Einige Mädchen klatschten nicht und während des Stücks konnte ich ihnen bereits ansehen, daß ihnen die Liebesgeschichte nicht gefiel. Und dann gab es noch die, die nicht klatschen konnten, weil sie befürchteten, daß ihre aufgeklebten Fingernägel abfallen könnten.
    Sie sehen, ich hatte viel Spaß auf zwei Bühnen. Aber: es gab gerade bei der Gruppe der jungen Erwachsenen viele aufmerksame Zuschauer, denen man das Interesse ansah. Es ist wohl doch eine Frage der persönlichen Reife, ob man offen genug ist für neue Eindrücke.

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  4. Interessanterweise war bei der Premiere eine Klasse mit französischen Schülern dabei, viele mit Jacken. Die, die ich gesehen habe, haben auch sehr herzlich applaudiert.
    Zum Glück bin ich von sich rächenden Schülern bisher verschont geblieben, das Schlimmste, was ich leider immer wieder erlebe, sind Angehörige des Hauses, Schauspieler, die meinen, sie müssten mit juchzendem Lachen und anderen, leider oft unpassenden Äußerungen die Stimmung anheizen - da habe ich in Karlsruhe schon viele nervige Momente erlebt, im Moment geht es eigentlich. Und das andere war einer meiner Lieblingsschauspieler, der sich während der Premiere in seinem Sitz lümmelte und immer wieder aus einer mitgebrachten Wasserflasche trank. Benehmen ist anscheinend Glückssache.

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    1. Ich habe auch etwas erstaunt wahrgenommen, daß französisch gesprochen wurde, dachte aber an wenige Austauschschüler.

      Während der letzten Intendanz gab es Schauspieler, die als Zuschauer an wenig passenden Momenten gelacht haben. Allerdings war das für mich schauspielinterne Kritik: ein Auslachen, wenn der andere an einer Stelle so gar nichts aus seinem Satz machen konnte.

      Ich habe eine Vermutung, wer der oben angesprochene Lieblingsschauspieler gewesen sein könnte, falls er nicht mehr im Ensemble ist. Ich habe ihn ebenfalls als Schauspieler sehr geschätzt, glaube aber auch, daß ich ihn nicht persönlich kennenlernen wollte. Er hat übrigens gerne andere "ausgelacht"

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  5. Hallo Honigsammler,

    ich möchte mich herzlich bei Ihnen bedanken :-)
    Da ich gerne Liebesromane lese, habe ich Ihre Anregungen getestet und fand Marons "Animal triste" und Wellershoffs "Der Liebeswunsch" spannend und toll.
    Haben Sie noch weitere Empfehlungen für mich?

    VG
    Julia

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    1. Das freut mich. Beide Romane sind ja keine einfachen Happy-End Bücher, deshalb anbei zwei spontane Empfehlungen, die ebenfalls keine vordergründigen Geschichten enthalten.
      Einer meiner absoluten Lieblingsautoren: John Updike. Testen sie von ihm "Ehepaare".
      Und wenn Sie Peter Stamm gerne gelesen haben, das schauen Sie sich mal "Sieben Jahre" an

      Falls mir noch etwas anderes einfällt, werde ich es hier ergänzen.
      Viel Spaß beim Lesen!

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    2. So, und noch ein Tipp, der aber umfangreich ist (ca 900 Seiten), nicht günstig (als Taschenbuch ca 25€) und auch eine anspruchsvolle, aber sehr schöne Erfahrung bietet:
      Albert Cohen: Die Schöne des Herren (Originaltitel: La Belle de Seigneur)
      Wundern Sie sich nicht: die Liebesgeschichte beginnt erst richtig auf Seite 300, bis dahin darf man viel lachen

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