Donnerstag, 14. Juni 2012

Rückblick (1): Das Unbehagen im Theater. Das Karlsruher Schauspiel in der Spielzeit 2011/2012

Es war für mich eine Spielzeit ohne positiven Erinnerungswert.
Es muß zuletzt in den 1990ern gewesen sein, daß mich das Theater so kalt ließ. 2011/12 war ich deutlich weniger im Schauspiel als in den Spielzeiten zuvor; nichts sah ich bisher ein zweites Mal, nur sehr wenige Inszenierungen konnte ich guten Gewissens empfehlen; einen Theaterabend mit Freunden oder Kollegen konnte ich guten Herzens nicht organisieren. Vieles fand ich einfach zu langweilig oder holprig buchstabiert. Fast keine Schauspiel-Aufführung hat mich überzeugt, geschweige denn begeistert. Im Gegenteil! Um auf eine frühere Diagnose zurückzugreifen: es bestand bei mir in dieser Spielzeit oft eine spürbare Distanz des innerlich Erlebten zum Geschehen auf der Bühne. Einiges, vor allem viele Studio-Produktionen, habe ich erst gar nicht gesehen. Deren Themen waren für mich zu unattraktiv oder –für mich ungewöhnlich– die Meinungen und Aussagen zu gewissen Stücken waren so desillusionierend, daß ich mich negativ beeindruckt zeigte und es lieber bleiben ließ. Wo ich fast ein Jahrzehnt nichts verpassen wollte, fühlte ich mich in dieser Spielzeit nicht mehr betroffen.

Hab ich dabei etwas verpasst? Nirgendwo bekam ich dringende Empfehlungen, nirgendwo hörte ich Begeisterung. Das Karlsruher Schauspielpublikum ging dann auch anscheinend weniger ins Theater und wenn, dann in Musikrevuen wie Dylan oder Jacques Brel oder in Big Money, die ich in diesen Betrachtungen nicht berücksichtige. Ohne diese drei wäre die Besucheranzahl im Vergleich zu den Vorjahren wahrscheinlich deutlich abgestürzt. Das Programm und seine Umsetzung gingen wohl nicht nur an meinem Geschmack und meiner Realität vorbei. Das Sprechtheater scheint in dieser Spielzeit ein Experiment in Schieflage gewesen zu sein.

Ein Fehlstart also? Zumindest keine echte Aufbruchstimmung war diese Spielzeit zu spüren. Die Vorfreude auf die neue Spielzeit verblasste schnell. Die beiden vorangegangenen Spielzeiten der letzten Intendanz wirkten bereits nur noch routiniert präsentiert. Umso größer die Enttäuschung, daß es genau so schwunglos in 2011/12 weiter ging. Man setzte keine Höhepunkte zu Beginn und fast könnte man von schlechter Dramaturgie sprechen: wo es angebracht gewesen wäre, das Publikum abzuholen und mitzunehmen, mitzureißen und zu begeistern, da wurde es gelangweilt und graues Mittelmaß präsentiert. Dem neuen Schauspiel ist es im ersten Jahr nicht gelungen, sich attraktiv neu zu positionieren. Im Gegenteil: der Elan des Beginnens verlief viel zu schnell im Sande ...

EXKURS:
Gerade den Start hatte man vor einigen Jahren in Karlsruhe deutlich besser erlebt. Früher war nie alles besser, aber Vergleiche muß man trotzdem ziehen: die ersten beiden Jahre von Knut Weber waren in vieler Hinsicht überzeugend. Viele Stücke und "Downtown Projekte" Publikumsmagnete! Im zweiten Jahr meldete die BNN Ende Januar 2004 eine sensationelle Zuschauerauslastung von 97% des Schauspiels für die erste Hälfte der Saison. 

Wo damals Lessings Klassiker Nathan der Weise zum brandaktuellen Werk wurde und die Inszenierung 100(!) gute besuchte Aufführungen erlebte, gab es dieses Jahr wenig Relevanz und Aussage bei Schiller oder Kleist. Wo damals das Publikum bei Außer Kontrolle und Hasko Webers für mich unvergesslicher Inszenierung von Der Diener zweier Herren Tränen lachte (beide sah ich x-mal!), gab es dieses Jahr keine richtige Komödie. Wo zu Beginn Per Anhalter durch die Galaxis in der Karlsruher Straßenbahn ein Ausrufezeichen setzte und die wenigen Tickets zum kostbaren Gut wurden, da wurde in dieser Spielzeit mit Supermen KA kein Blumentopf gewonnen. Diese Reihe ließe sich fortsetzen.
Ich sah fast alles, vieles mehrfach, und zwar deshalb, weil ich sehr gut dabei unterhalten wurde, gerne darüber nachdachte, einiges noch mal anschauen wollte und ich anderen von den Schauspielern und Stücken vorschwärmen und sie mitnehmen konnte. Anspruch und Unterhaltungswert hatten damals die ideale Mischung für Karlsruhe erreicht. Knut Webers Schauspiel konnte dieses Mischverhältnis nicht über die komplette Zeit halten, aber das ist eine andere Geschichte.

FAZIT (1): Knut Webers Beginn verhält sich zu dieser Spielzeit wie Champagner zu stillem Wasser: damals prickelnd, in den Kopf steigend und sich nur langsam abbauend, gegenwärtig nüchtern, fad und ohne besonderen Genuß- oder Erinnerungswert.

Was ist diese Spielzeit im Schauspiel denn schief gelaufen? Was hat sich geändert?

1) Wer spielt?
Das Schauspiel Ensemble ist stark, die Qualität ist hoch. In Karlsruhe hat man ein sehr gutes Team zusammen, dem man gerne zusieht - oder besser ausgedrückt, dem man gerne zusehen würde. Zu selten gab es dafür adäquate Gelegenheit.
Vor allem bei den Schauspielerinnen ist das Niveau klar gestiegen: mit Joanna Kitzl, Cornelia Gröschel, Sophia Löffler und Ute Baggeröhr hat man endlich sehr gute junge Schauspielerinnen!
Bei den Schauspielern hat man leichte Einbußen. Früher hatte man eine überaus starke männliche Dominanz mit vielen Akteuren, die Hauptrollen übernehmen konnten und vom Publikum auch akzeptiert wurden: Timo Tank, André Wagner, Georg Krause, Gunnar Schmidt, Sebastian Kreutz, Tom Gerber und Stefan Viering. Die drei letztgenannten sind nicht mehr im Ensemble. Von den neuen männlichen Schauspielern konnte sich bisher aber keiner in dieser Spielzeit aufdrängen, keiner hat bisher eine ähnliche Bühnenausstrahlung oder Hauptdarstellerqualitäten bzw. Publikumsakzeptanz erreicht.
Positiv fielen mir Matthias Lamp und Thomas Halle auf: beide haben in Karlsruhe ihr erstes Fest-Engagement, beide haben für mich jetzt schon ihre Chance genutzt.

2) Was wird gespielt?
In Karlsruhe erlebte man in dieser Spielzeit, wie Theater ohne realen Publikumsbezug gespielt wird: man sucht ein Publikum und präsentiert den noch nicht gefundenen Zuschauern die vermeintlich passenden Werke. Ich vermute, daß einige Stücke/Inszenierungen Probeläufe sind. Probeläufe allerdings, die für ein imaginäres Publikum gemacht sind, denn unter dem Wunschpublikum hat es sich noch nicht herumgesprochen, daß man auf es wartet. Viele Inszenierungen sprachen nur kleine Gruppen an, von denen aber nicht genug kamen. Zu oft spielte man vor halbleeren oder fast leeren Rängen. Gerade die Studio-Produktionen, die nur im freien Verkauf sind und von der Mund-zu-Mund Werbung leben, waren schlecht besucht. Teilweise so schlecht, daß man gelegentlich "Vorstellung entfällt!" las. (Zumindest fließen diese abgesagten Vorstellungen dann nicht in die Statistik ein und schönen das Gesamtbild der Zuschaueranzahl und Auslastung am Ende der Spielzeit.)
Im ersten Jahr versuchte man die Erwartungshaltung des Publikums in der Hinsicht zu unterlaufen, daß man eher unbekannte und sperrige Nebenwerke und Neues präsentierte. Im zweiten Jahr wird man nun den entgegengesetzten Weg gehen und zeigt im Kleinen Haus in der kommenden Spielzeit erwartungsbelastete, prestigereiche Hauptwerke, u.a. Die Möwe (Tschechow), Dantons Tod (Büchner), Wie es euch gefällt (Shakespeare) und Prinz Friedrich von Homburg (Kleist). Damit ist für die neue Spielzeit zumindest Spannung angesagt, wie der weitere Weg verlaufen wird.

ABER: Widerspruch in eigener Sache. Es geht nicht um die Programmplanung. Theater ist meines Erachtens Formsache. Es zählt dort weniger genau zu treffen, als gut zu zielen. Denn es geht nicht um das Was, es geht um das Wie. Die Form darf dabei nicht weniger im Auge behalten werden als der Inhalt, der Regisseur nicht minder als das Stück. Meines Erachtens muß mich die Materie nicht unbedingt interessieren, sondern vorrangig die Art und Weise, wie es umgesetzt wird. Alles kann also inszeniert werden, der Regisseur muß aber für die Umsetzung die richtige Form finden. Und damit kommen wir zum entscheidenden Punkt:

3) Wie wird gespielt? 
Von Gottfried Benn stammt das Diktum, daß das Gegenteil von Kunst mit der Formel "gut gemeint" treffend beschrieben ist. In Karlsruhe wurde Theater in dieser Spielzeit überwiegend als Handwerk praktiziert, daß nicht zur Kunst werden wollte - ohne Zauber und Erinnerungswert, ohne Faszination und Spannung wurde ich nur selten in den Bann der Vorführung gezogen. 
Warum? Die Figuren blieben oft Behauptung: selten nahm ich sie ernst, meistens hatte ich den Eindruck einer Versuchsanordnung an einer Schauspielschule zuzuschauen: wie wirkt es wohl, wenn ich es mal so versuche? scheinen die Regisseure im Trial and Error Verfahren zu experimentieren. Man sieht Wut, Empörung, Verletzlichkeit, Freude etc., wundert sich aber über die Ursachen. Affekte erscheinen gesetzt, statt daß sich Emotionen ergeben. Den Charakteren fehlte dadurch die Tiefschichtigkeit. Sie wirkten künstlich zusammengesetzt und von den Regisseuren zu wenig durchdacht, zu einseitig konzipiert und fremd. Es fehlt die Wahrhaftigkeit des Charakters und die psychologische Folgerichtigkeit der Handlung. Ich sah auf der Bühne oft Unmotiviertes, das mir fremd und verschlossen blieb. Ich erkannte keine Haltung oder Aussage, die mich betraf oder sich mir erschloss. Selten zuvor fand ich das Theater so langweilig, selten zuvor habe ich auch so wenig im Theater lachen können, als in dieser Spielzeit. Keine gute Komödie in Sicht und ansonsten oft ein sehr angestrengter Humor, der nicht komisch werden wollte. Zusammengefasst also ein sehr unsinnliches Theater, mehr im Kopf konzipiert als aufrichtig gefühlt, mehr schlecht als recht erfunden als lebendig und ansprechend.

4) Wie hat man sich präsentiert?
Die Hinwendung und Orientierung zum Publikum ist noch deutlich ausbaufähig. Im neuen Spielzeitheft ergeht man sich bereits in Selbstlob, wie toll es doch für das Publikum sei, daß man ansprechbar ist. Das war man allerdings früher auch schon, nur weniger ostentativ und demonstrativ. Man bemüht sich nun um den Zuschauer am Vorstellungsabend: Einführungen vor der Aufführung, ausgewiesene und ansprechbereite Theatermitarbeiter in der Pause, die als Informationsgeber und Blitzableiter fungieren. Man versucht damit einerseits die Deutungshoheit zu behalten und man schafft sich eine mögliche präventive Knautschzone, wenn Inszenierung und Inhalt nicht zusammenpassen wollen. Gleichzeitig stellt man theaterfremden Besuchern eine Orientierungshilfe zur Verfügung. Ebenfalls gut gemeint, aber auch gut gemacht? Die wenigen Male, bei denen ich zugehört habe, vermittelten mir eher das Gefühl einer Alibi-Veranstaltung. Nett geplaudert, doch wenig gesagt. Dennoch sind die Einführungen gut besucht - sie scheinen ihr Publikum zu erreichen.

Die Verschiebung der Schauspielpremieren von Samstag auf Donnerstag wurde damit gerechtfertigt, daß man dann mehr überregionale Zeitungskritiker anzieht. Als ob überregional ein entscheidender Besucheranteil nach Karlsruhe kommt, um ins Theater zu gehen. Da haben Ballett und Oper eine Anziehungskraft, nicht das Theater. Etwas mehr Bescheidenheit und die Einsicht, daß Theater für das Publikum vor Ort und nicht für den externen Zeitungskritiker gemacht wird, würden gut tun. In der kommenden Spielzeit sind übrigens wieder öfters Premierensamstage eingeplant.

Gibt es überhaupt noch Werbemaßnahmen? Früher gab es die (von sehr vielen schmerzlich vermisste) monatliche Theaterzeitung, die jetzt leider nur noch gelegentlich (quartalsweise und zu unklaren Terminen?) erscheint. Zu wenig, damit alle Produktionen wahrgenommen werden oder damit beworben werden. Zu wenig, um im Gespräch und der Aufmerksamkeit der Leute zu bleiben. Gerade die Schauspiel-Produktionen benötigen mehr Aufmerksamkeit, wenn sie gesehen werden wollen. Das Internet ersetzt die Printmedien eindeutig noch nicht.   

FAZIT (2):
Über 20 Jahre Karlsruher Theatererfahrung sagen mir, daß es schon schlechtere, aber auch deutlich bessere Zeiten gab. Das ist umso bedauerlicher, als das Potential vorhanden ist. Es gibt sehr gute Schauspieler, denen ich gerne zuschauen möchte. Die Zuschauerreaktionen und Besucherzahlen zeigen für mich, daß das erste Jahr nicht genutzt wurde, um sich attraktiv zu positionieren. Ganz im Gegenteil: man ist weit davon entfernt, Begeisterungsstürme zu entfachen. Man hat die Chance des Beginnens vertan, nun gilt es, verlorene Zuschauergunst zurückzugewinnen. Nur das kann das Ziel sein.

PS (1):
  Zum Schluß etwas Positives. Es gab für mich keine großartigen Momente, aber doch einige gute. Sehr gerne erinnere ich mich an Handkes Immer noch Sturm. Schade, daß es nicht als Abo-Vorstellung im Kleinen Haus gezeigt wurde. Das variable Bühnenbild der Kleistschen Hermannsschlacht war grandios erdacht. Und der  Doppelabend Lessing/Lotz war auf eigenwillige Weise unterhaltsam. Jakob der Lügner hatte starke Ansätze und ein gutes Bühnenbild, Verrücktes Blut ist auf intelligente Weise diskutabel und auf den Punkt inszeniert.

PS (2): Und gerade weil man ein gutes Schauspiel-Ensemble hat, habe ich mich umso mehr über das Programm der kommenden  Spielzeit gefreut; es verspricht einige Profilierungsmöglichkeiten und wird hoffentlich die uninspirierte erste Saison vergessen machen.

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2 Kommentare:

  1. @Jan L.
    Vielen Dank für den Tipp: tatsächlich habe ich bisher aus terminlichen Gründen Nis Momme Stockmanns DER MANN DER DIE WELT ASS leider stets verpasst und prüfe noch die restlichen Möglichkeiten. Vielleicht klappt es ja noch ...

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  2. @Peter W.
    Vielen Dank für den freundlichen Kommentar, der mich sehr gefreut hat. Ich gebe Ihnen in allen Punkten Recht und werde mich dazu noch zu Wort melden.

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