Es war für mich eine Spielzeit ohne positiven Erinnerungswert.
Es muß zuletzt in den 1990ern
gewesen sein, daß mich das Theater so kalt ließ. 2011/12 war ich deutlich weniger im Schauspiel als in den Spielzeiten zuvor; nichts sah
ich bisher ein zweites Mal, nur sehr wenige Inszenierungen konnte ich
guten Gewissens empfehlen; einen Theaterabend mit Freunden oder Kollegen
konnte ich guten Herzens nicht organisieren. Vieles fand ich einfach zu
langweilig oder holprig buchstabiert. Fast keine Schauspiel-Aufführung hat mich überzeugt, geschweige denn
begeistert. Im
Gegenteil! Um auf eine frühere Diagnose zurückzugreifen: es bestand bei
mir in dieser Spielzeit oft eine spürbare Distanz des innerlich Erlebten
zum
Geschehen auf der Bühne. Einiges, vor allem viele Studio-Produktionen, habe ich erst gar
nicht gesehen. Deren Themen waren für mich zu unattraktiv oder –für mich ungewöhnlich– die Meinungen und Aussagen zu gewissen
Stücken waren so desillusionierend, daß ich mich negativ beeindruckt
zeigte und es lieber bleiben ließ. Wo ich fast ein Jahrzehnt nichts verpassen wollte, fühlte ich mich in dieser Spielzeit nicht mehr betroffen.
Hab ich dabei etwas
verpasst? Nirgendwo bekam ich dringende
Empfehlungen, nirgendwo hörte ich Begeisterung. Das Karlsruher
Schauspielpublikum ging dann auch anscheinend weniger ins Theater und
wenn, dann in Musikrevuen wie Dylan oder Jacques Brel oder
in Big Money, die ich in diesen Betrachtungen nicht
berücksichtige. Ohne diese drei wäre die Besucheranzahl im Vergleich zu
den Vorjahren wahrscheinlich deutlich abgestürzt. Das Programm und seine
Umsetzung gingen wohl nicht nur an meinem Geschmack und meiner Realität
vorbei. Das Sprechtheater scheint in dieser Spielzeit ein Experiment in Schieflage
gewesen zu sein.
Ein Fehlstart also? Zumindest keine
echte Aufbruchstimmung war diese Spielzeit zu spüren. Die Vorfreude
auf die neue Spielzeit verblasste schnell. Die beiden vorangegangenen Spielzeiten der letzten Intendanz wirkten bereits nur noch routiniert präsentiert. Umso größer die Enttäuschung, daß es genau so schwunglos in 2011/12 weiter ging. Man setzte keine Höhepunkte zu Beginn und fast könnte man von schlechter Dramaturgie sprechen: wo es angebracht gewesen wäre, das Publikum abzuholen und mitzunehmen, mitzureißen und zu begeistern, da wurde es gelangweilt und graues Mittelmaß präsentiert. Dem neuen Schauspiel ist es im
ersten Jahr nicht gelungen, sich attraktiv neu zu
positionieren. Im Gegenteil: der Elan des Beginnens verlief viel zu
schnell im Sande ...
EXKURS:
Gerade den Start hatte man vor einigen Jahren in Karlsruhe deutlich besser erlebt. Früher war nie alles besser, aber Vergleiche muß man trotzdem ziehen: die ersten beiden Jahre von Knut Weber waren in vieler Hinsicht überzeugend. Viele Stücke und "Downtown Projekte" Publikumsmagnete! Im zweiten Jahr meldete die BNN Ende Januar 2004 eine
sensationelle Zuschauerauslastung von 97% des Schauspiels für die erste Hälfte der
Saison.
Wo damals Lessings Klassiker Nathan der Weise zum brandaktuellen Werk wurde und die Inszenierung 100(!) gute besuchte Aufführungen erlebte, gab es dieses Jahr wenig Relevanz und Aussage bei Schiller oder Kleist. Wo damals das Publikum bei Außer Kontrolle und Hasko Webers für mich unvergesslicher Inszenierung von Der Diener zweier Herren Tränen lachte (beide sah ich x-mal!), gab es dieses Jahr keine richtige Komödie. Wo zu Beginn Per Anhalter durch die Galaxis in der Karlsruher Straßenbahn ein Ausrufezeichen setzte und die wenigen Tickets zum kostbaren Gut wurden, da wurde in dieser Spielzeit mit Supermen KA kein Blumentopf gewonnen. Diese Reihe ließe sich fortsetzen.
Ich sah fast alles, vieles mehrfach, und zwar deshalb, weil ich sehr gut dabei
unterhalten wurde, gerne darüber nachdachte, einiges noch mal anschauen
wollte und ich anderen von den Schauspielern und Stücken vorschwärmen
und sie mitnehmen konnte. Anspruch und Unterhaltungswert hatten damals die ideale Mischung für Karlsruhe erreicht. Knut Webers Schauspiel konnte dieses Mischverhältnis nicht über die komplette Zeit halten, aber
das ist eine andere Geschichte.
FAZIT (1): Knut Webers Beginn verhält sich zu dieser Spielzeit wie Champagner zu stillem Wasser: damals prickelnd, in den Kopf steigend und sich nur langsam abbauend, gegenwärtig nüchtern, fad und ohne besonderen Genuß- oder Erinnerungswert.
Was ist diese
Spielzeit im Schauspiel denn schief gelaufen? Was hat sich geändert?
1) Wer spielt?
Das Schauspiel Ensemble ist stark, die Qualität ist hoch. In
Karlsruhe hat man ein sehr gutes Team zusammen, dem man gerne
zusieht - oder besser ausgedrückt, dem man gerne zusehen würde. Zu
selten gab es dafür adäquate Gelegenheit.
Vor
allem bei den Schauspielerinnen ist das Niveau klar gestiegen: mit Joanna Kitzl, Cornelia Gröschel, Sophia Löffler und Ute Baggeröhr hat man
endlich sehr gute junge Schauspielerinnen!
Bei den Schauspielern
hat man leichte Einbußen. Früher hatte man eine überaus starke männliche
Dominanz mit vielen Akteuren, die Hauptrollen übernehmen konnten und
vom Publikum auch akzeptiert wurden: Timo Tank, André Wagner, Georg Krause, Gunnar Schmidt, Sebastian Kreutz, Tom Gerber und Stefan Viering.
Die drei letztgenannten sind nicht mehr im Ensemble. Von den neuen
männlichen Schauspielern konnte sich bisher aber keiner in dieser
Spielzeit aufdrängen, keiner hat bisher eine ähnliche Bühnenausstrahlung
oder Hauptdarstellerqualitäten bzw. Publikumsakzeptanz erreicht.
Positiv fielen mir Matthias Lamp und Thomas Halle auf: beide haben in Karlsruhe ihr erstes Fest-Engagement, beide haben für mich jetzt schon ihre Chance genutzt.
2) Was wird gespielt?
In Karlsruhe erlebte man in dieser Spielzeit, wie Theater ohne realen Publikumsbezug
gespielt wird: man sucht ein Publikum und präsentiert den noch nicht
gefundenen Zuschauern die vermeintlich passenden Werke. Ich vermute, daß
einige Stücke/Inszenierungen Probeläufe
sind. Probeläufe allerdings, die für ein
imaginäres Publikum gemacht sind, denn unter dem Wunschpublikum hat
es sich noch nicht herumgesprochen, daß man auf es wartet. Viele
Inszenierungen sprachen nur kleine Gruppen an, von denen
aber nicht genug kamen. Zu oft spielte man vor halbleeren oder fast
leeren Rängen. Gerade die Studio-Produktionen, die nur im freien Verkauf sind und von der Mund-zu-Mund Werbung leben, waren schlecht besucht. Teilweise so schlecht, daß man gelegentlich "Vorstellung entfällt!" las. (Zumindest fließen diese abgesagten Vorstellungen dann nicht in die Statistik ein und schönen das Gesamtbild der Zuschaueranzahl und Auslastung am Ende der Spielzeit.)
Im ersten Jahr versuchte man die Erwartungshaltung des
Publikums in der Hinsicht zu unterlaufen, daß man eher unbekannte
und sperrige Nebenwerke und Neues präsentierte. Im zweiten Jahr wird man nun den
entgegengesetzten Weg gehen und zeigt im Kleinen Haus in der kommenden Spielzeit erwartungsbelastete,
prestigereiche Hauptwerke, u.a. Die Möwe (Tschechow), Dantons Tod (Büchner),
Wie es euch gefällt (Shakespeare) und Prinz Friedrich von Homburg (Kleist). Damit ist für die neue Spielzeit zumindest Spannung angesagt, wie der weitere Weg verlaufen wird.
ABER: Widerspruch in eigener Sache. Es geht nicht um die Programmplanung. Theater ist meines Erachtens Formsache. Es zählt dort weniger genau zu treffen, als gut zu zielen. Denn es geht nicht um das Was, es geht um das Wie. Die Form darf dabei nicht weniger im Auge behalten werden als der Inhalt, der Regisseur nicht minder als das Stück. Meines Erachtens muß mich die Materie nicht unbedingt interessieren, sondern vorrangig die Art und Weise, wie es umgesetzt wird. Alles kann also inszeniert werden, der Regisseur muß aber für die Umsetzung die richtige Form finden. Und damit kommen wir zum entscheidenden Punkt:
3)
Wie wird gespielt?
Von Gottfried Benn stammt das Diktum,
daß das Gegenteil von Kunst mit der Formel "gut gemeint" treffend
beschrieben ist. In Karlsruhe wurde Theater in dieser Spielzeit
überwiegend als Handwerk praktiziert, daß nicht zur Kunst werden wollte -
ohne Zauber und Erinnerungswert, ohne Faszination und Spannung wurde ich nur selten in den
Bann der Vorführung gezogen.
Warum? Die Figuren blieben oft
Behauptung: selten nahm ich sie ernst, meistens hatte ich den Eindruck
einer Versuchsanordnung an einer Schauspielschule zuzuschauen: wie
wirkt es wohl, wenn ich es mal so versuche? scheinen die Regisseure
im Trial and Error Verfahren zu experimentieren. Man sieht Wut, Empörung, Verletzlichkeit, Freude etc., wundert sich aber über die Ursachen. Affekte erscheinen gesetzt, statt daß sich Emotionen ergeben. Den Charakteren
fehlte dadurch die Tiefschichtigkeit. Sie wirkten künstlich
zusammengesetzt und von den Regisseuren zu wenig durchdacht, zu
einseitig konzipiert und fremd. Es fehlt die Wahrhaftigkeit des
Charakters und die psychologische Folgerichtigkeit der Handlung. Ich sah
auf der Bühne oft Unmotiviertes, das mir fremd und verschlossen blieb.
Ich erkannte keine Haltung oder Aussage, die mich betraf oder sich mir
erschloss. Selten zuvor fand ich das Theater so langweilig, selten zuvor habe
ich auch so wenig im Theater lachen können, als in dieser Spielzeit.
Keine gute Komödie in Sicht und ansonsten oft ein sehr angestrengter
Humor, der nicht komisch werden wollte. Zusammengefasst also ein sehr unsinnliches Theater, mehr im Kopf konzipiert als aufrichtig gefühlt, mehr schlecht als recht erfunden als lebendig und ansprechend.
4) Wie hat man sich präsentiert?
Die Hinwendung und Orientierung zum Publikum ist noch deutlich
ausbaufähig. Im neuen Spielzeitheft ergeht man sich bereits in Selbstlob, wie toll es doch für das Publikum sei, daß man ansprechbar ist. Das war man allerdings früher auch schon, nur weniger ostentativ und demonstrativ. Man bemüht sich nun um den Zuschauer am Vorstellungsabend:
Einführungen vor der Aufführung, ausgewiesene und
ansprechbereite Theatermitarbeiter in der Pause, die als Informationsgeber
und
Blitzableiter fungieren. Man versucht damit einerseits die Deutungshoheit zu behalten und man schafft sich eine mögliche präventive Knautschzone, wenn Inszenierung und Inhalt
nicht zusammenpassen wollen. Gleichzeitig stellt man theaterfremden Besuchern eine Orientierungshilfe zur Verfügung. Ebenfalls gut gemeint, aber auch gut gemacht? Die wenigen Male, bei denen ich zugehört habe, vermittelten mir eher das Gefühl einer Alibi-Veranstaltung. Nett geplaudert, doch wenig gesagt. Dennoch sind die Einführungen gut besucht - sie scheinen ihr Publikum zu erreichen.
Die Verschiebung der
Schauspielpremieren von Samstag auf Donnerstag wurde damit
gerechtfertigt, daß man dann mehr überregionale Zeitungskritiker
anzieht. Als ob überregional ein entscheidender Besucheranteil nach Karlsruhe kommt, um ins Theater
zu gehen. Da haben Ballett und Oper eine Anziehungskraft, nicht das
Theater. Etwas mehr
Bescheidenheit und die Einsicht, daß
Theater für das Publikum vor Ort und nicht für den externen Zeitungskritiker gemacht
wird, würden gut tun. In der kommenden Spielzeit sind übrigens
wieder
öfters Premierensamstage eingeplant.
Gibt es überhaupt noch Werbemaßnahmen?
Früher gab es die (von sehr vielen schmerzlich vermisste)
monatliche Theaterzeitung,
die jetzt leider nur noch gelegentlich (quartalsweise und zu unklaren
Terminen?) erscheint. Zu
wenig, damit alle
Produktionen wahrgenommen werden oder damit beworben werden. Zu wenig,
um im Gespräch und der Aufmerksamkeit der Leute zu bleiben. Gerade die
Schauspiel-Produktionen benötigen mehr Aufmerksamkeit, wenn sie gesehen
werden wollen. Das Internet ersetzt die Printmedien eindeutig noch
nicht.
FAZIT (2): Über 20 Jahre Karlsruher Theatererfahrung sagen mir, daß es schon schlechtere, aber auch deutlich bessere Zeiten gab. Das ist umso bedauerlicher, als das Potential vorhanden ist. Es gibt sehr gute Schauspieler, denen ich gerne zuschauen möchte. Die Zuschauerreaktionen und Besucherzahlen zeigen für mich, daß das erste Jahr nicht genutzt wurde, um sich attraktiv zu positionieren. Ganz im Gegenteil: man ist weit davon entfernt, Begeisterungsstürme zu entfachen. Man hat die Chance des Beginnens vertan, nun gilt es, verlorene Zuschauergunst zurückzugewinnen. Nur das kann das Ziel sein.
PS (1): Zum Schluß etwas Positives. Es gab für mich keine großartigen Momente, aber doch einige gute. Sehr gerne erinnere ich mich an Handkes Immer noch Sturm. Schade, daß es nicht als Abo-Vorstellung im Kleinen Haus gezeigt wurde. Das variable Bühnenbild der Kleistschen Hermannsschlacht war grandios erdacht. Und der Doppelabend Lessing/Lotz war auf eigenwillige Weise unterhaltsam. Jakob der Lügner hatte starke Ansätze und ein gutes Bühnenbild, Verrücktes Blut ist auf intelligente Weise diskutabel und auf den Punkt inszeniert.
FAZIT (2): Über 20 Jahre Karlsruher Theatererfahrung sagen mir, daß es schon schlechtere, aber auch deutlich bessere Zeiten gab. Das ist umso bedauerlicher, als das Potential vorhanden ist. Es gibt sehr gute Schauspieler, denen ich gerne zuschauen möchte. Die Zuschauerreaktionen und Besucherzahlen zeigen für mich, daß das erste Jahr nicht genutzt wurde, um sich attraktiv zu positionieren. Ganz im Gegenteil: man ist weit davon entfernt, Begeisterungsstürme zu entfachen. Man hat die Chance des Beginnens vertan, nun gilt es, verlorene Zuschauergunst zurückzugewinnen. Nur das kann das Ziel sein.
PS (1): Zum Schluß etwas Positives. Es gab für mich keine großartigen Momente, aber doch einige gute. Sehr gerne erinnere ich mich an Handkes Immer noch Sturm. Schade, daß es nicht als Abo-Vorstellung im Kleinen Haus gezeigt wurde. Das variable Bühnenbild der Kleistschen Hermannsschlacht war grandios erdacht. Und der Doppelabend Lessing/Lotz war auf eigenwillige Weise unterhaltsam. Jakob der Lügner hatte starke Ansätze und ein gutes Bühnenbild, Verrücktes Blut ist auf intelligente Weise diskutabel und auf den Punkt inszeniert.
PS (2): Und gerade weil man ein gutes Schauspiel-Ensemble hat, habe ich mich umso mehr über das Programm der kommenden Spielzeit gefreut; es verspricht einige Profilierungsmöglichkeiten und wird hoffentlich die uninspirierte erste Saison vergessen machen.
@Jan L.
AntwortenLöschenVielen Dank für den Tipp: tatsächlich habe ich bisher aus terminlichen Gründen Nis Momme Stockmanns DER MANN DER DIE WELT ASS leider stets verpasst und prüfe noch die restlichen Möglichkeiten. Vielleicht klappt es ja noch ...
@Peter W.
AntwortenLöschenVielen Dank für den freundlichen Kommentar, der mich sehr gefreut hat. Ich gebe Ihnen in allen Punkten Recht und werde mich dazu noch zu Wort melden.