Nach der Premiere war das Publikum begeistert, und auch der gestrige Besuch bestätigte den Eindruck der Uraufführung. Momo ist Siegfried im künstlerischen Ausdruck überlegen: ein zu Herzen gehendes poetisch-philosophisches Ballett; Siegfried ist hingegen Spektakel: handlungsreich und spannend und mit grandiosem Live-Orchester zur Unterstützung. Beide sind also sehr unterschiedlich und ergänzen sich durch ihre verschiedenen Ausdruckswelten. Beide konkurrieren Kopf an Kopf um die Krone der spartenübergreifend besten Inszenierung der Spielzeit.
Für Kinder oder Jugendliche ist diese Inszenierung von Momo allerdings weniger geeignet: im Mittelpunkt stehen die Symptome und Diagnose der durch die "Zeitkrankheit" ausgelösten Defizite, bei der die Menschen sinnlos Zeit sparen, anstatt sinnbewußt Zeit zu erleben. Das Ballett greift dabei nur sehr wenige Handlungsstränge auf. Der Gegensatz zwischen Momo und den grauen Herren (in diesem Fall auch graue Damen) ist der
zentrale Spannungspunkt und Momos Rolle als Therapeutin und Erlöserin die zentrale Rolle. Blythe Newman gibt Momo im besten Sinne ein Gesicht; eine Hauptrolle, wie man sie als Tänzerin nicht oft bekommt. Newman passt ideal und überzeugt das Publikum durchgehend. Ein Glücksfall!
Die Choreographie von Tim Plegge öffnet Horizonte. Zu Beginn des Balletts wird erst die Lebensfreude der Protagonisten eingängig vermittelt. Für die grauen Herren und Damen fand Plegge eine
Tanzsprache der Nervosität und Anspannung, die unmittelbar auf die Zuschauer wirkt. Höhepunkt ist im ersten Teil der Weg zum Ursprung der Zeit (Hier wird die Zeit zum Raum, sozusagen eine Umkehrung von Wagners Parsifal. Unterlegt mit Musik von Lepo Sumera) und dort der Aufenthalt beim Hora-Paar (Bruna Andrade und Admill Kuyler haben zwei starke Auftritte), musikalisch genial unterlegt mit dem langsamen Satz von Philip Glass' Klavierkonzert. Eine Szene, bei der man spürt, wie das Publikum staunt und begeistert wird, wie es in die Aufführung gezogen und fasziniert wird. Im zweiten Teil bleiben besonders Momos Tanz über die Tische in Erinnerung (unterlegt mit Ausschnitten aus Schostakowitschs Kammersinfonie für Streichorchester op. 110a) und die Schlußszene, bei der sich die grauen Tänzer in Luft auflösen und von der Bühne rollen.
Für die Karlsruher Ballett Compagnie ergeben sich viele dankbare Rollen und Szenen. Bewährte Künstler wie der erste Solist Flavio Salamanka (Beppo) zeigen die Stärke ihres Könnens und auch die kleineren Rollen sind sehr gut besetzt, z.B. Shiri Shai als Kassiopeia, Zhi Le Xu als Gigi und besonders der ausdrucksstarke Arman Aslizadyan als Agent BLW/553/c.
Im voll besetzten Badischen Staatstheater wurde gejubelt, lange applaudiert und man konnte den Gesichtern der Zuschauer die Freude ansehen. Momo ist -wie Siegfried- in jeder Hinsicht ein Glücksfall. Birgit Keil und Vladimir Klos haben es spätestens diese Spielzeit
geschafft, das Ballett zur unumstritten populärsten Sparte des Badischen
Staatstheaters zu machen.
Seit 1988 bin ich steter Besucher des Badischen Staatstheaters. Bei vielen Opern-, Theater-, Konzert- und Ballettvorstellungen im Jahr und Besuchen in anderen Städten verliert man schon mal den Überblick. Dieser Tagebuch-Blog dient mir seit der Spielzeit 2011/12 als elektronische Erinnerung. Bitte beachten Sie meine Intention: ich bin kein Journalist oder Kritiker, sondern schreibe hier lediglich persönliche Eindrücke, private Ansichten und Vermutungen für mich und Angehörige nieder.