Es war perfekt! Um den Triumph der gestrigen Ballettpremiere gerecht zu werden, müsste man eine Sprache der aufrichtigen Superlative finden, bei der es keine Zweifel gibt, daß Wörter wie großartig, berührend oder Meisterwerk ihrem wahren Sinn nach verstanden werden. Mit Momo gelingt dem Ballett des Badischen Staatstheaters eine Sternstunde und das Kunststück, eine rundum geglückte Romanadaption in Form eines philosophischen Balletts für unsere Zeit zu präsentieren, das vielleicht nur eine Hürde für sein Publikum stellt: es ist von Vorteil Momo zu kennen.
Lesen Kinder und Jugendliche heute denn noch Michael Ende? Kennen Sie noch Die unendliche Geschichte, Momo oder Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer? Einige werden bemerken, es wäre gut, wenn überhaupt noch gelesen wird, andere beklagen, daß das Unmittelbare vom Mittelbaren immer weiter zurückgedrängt wird und die wenigsten den 1973 erschienen Roman Momo gelesen haben, sondern wenn, dann die Zusammenfassung bei Wikipedia.
Wo schnelles und einfaches Downloading zum Symptom der Zeit wird, verlieren die beiden Säulen der Selbsterfahrung -Wahrnehmung und Reflexion- an Bedeutung. Man spart nur scheinbar Zeit, wenn man nicht mehr die Gemütsruhe aufbringt, durch die das Erfahrene klar, dauerhaft und lebensnützlich wird und Hast und Zeitmangel die Fähigkeit zur Hingabe verdrängen.
Manch einer wird also einen Paradigmenwechsel wünschen, hin zur besseren Erkenntnis, daß man auf einem langen Weg mehr erlebt als auf einem kurzen, daß das Frische mehr zu bieten hat als die Konserve, das Live-Erlebnis nicht durch die Aufzeichnung ersetzt werden kann und das Ganze mehr bietet, als ein auszugshaftes Bruchstück, daß also die Erfahrung der Unmittelbarkeit, wie sie nur ein Buch oder eine Bühne liefern können, aufgrund der Gedankenfülle, Erlebnisdichte, Spannung und Freude unersetzlich ist und den Mehrwert von Kultur und Kulturinstitutionen am lebendigsten verkörpert. Michael Endes Momo ist also in doppelter Hinsicht eine Stück von gesellschaftlicher Relevanz, betont es doch die reflektierte Selbstentdeckung im Jetzt und Heute und zeigt die Mängel eines Lebens in falschen Gleichwertigkeiten, das Sinnlosigkeitsgefühle in hastenden Arbeitseifer übersetzt.
Ähnliche Überlegungen scheinen Choreograph Tim Plegge inspiriert zu haben, der mit seinem ersten Handlungsballett nun ein unübersehbares Ausrufezeichen gesetzt hat. Ihm glückt eine abwechslungsreiche, vielseitige und jederzeit überzeugende Tanzsprache. Seine Choreographie hinterlässt den Eindruck, daß es nicht besser umgesetzt hätte werden können. Eine Uraufführung, die Maßstäbe setzt. Als Plegge auf die Bühne kam, gab es einhelligen Jubel und der Großteil des Publikums im Parkett stand auf, um ihm (und dann allen Akteuren) seine Ovationen stehend entgegenzubringen. Auch Sebastian Hannaks Bühne und Judith Adams Kostüme waren stimmig und beide wurden lange mit Applaus bedacht.
Die Premiere war tänzerisch perfekt! Alle Tänzer waren sehr ausdrucksstark, jeder ging in seiner Rolle auf. Die Stars des Abends waren Blythe Newman als Momo, Flavio Salamanka als Beppo, Zhi Le Xu als Gigi sowie Bruna Andrade, Admill Kuyler, Shiri Shai und alle anderen Einzel- und Gruppentänzer. Sensationell, wie in Karlsruhe über Jahre ein Ballettcorps zusammengewachsen ist, bei dem inzwischen alle auf sehr hohem Niveau ihre Rollen gestalten und bei dem deutlich zu bemerken ist, wie über die Jahre die Ausstrahlung und Ausdrucksfähigkeit zugenommen hat. Der gestrige Abend war in dieser Hinsicht eine weitere Steigerung und ein neuer Höhepunkt, den auch das Publikum lange und ausdauernd feierte.
Die erste Handlungsballettpremiere der Spielzeit Siegfried überwältigte musikalisch. Diesmal gibt es kein Orchester: die Musik kommt vom Band. Viel zeitgenössische Musik der letzten vier Jahrzehnte und überwiegend lebende Komponisten oder Komponisten des letzten Jahrhunderts aus Russland, dem Baltikum, Deutschland und den USA. Es ergibt sich ein ideales Klangbild von perfekter Folgerichtigkeit und Geschlossenheit, die Musikzusammenstellung ist grandios (s.u. in Anhang eine Zusammenstellung von Komponisten und Titeln).
Fazit: Eine Sternstunde und höchstwahrscheinlich der spartenübergreifende Höhepunkt der Spielzeit, den man sich nicht entgehen lassen sollte!
Man kann Birgit Keil und Vladimir Klos nur voller Bewunderung beglückwünschen! Wir erleben gerade ein goldenes Zeitalter des Balletts in Karlsruhe an das man sich später lange erinnern wird.
PS: Eine weitere Sensation war im Zuschauerraum zu beobachten: das mit Abstand jüngste Premierenpublikum an das ich mich erinnern kann. Birgit Keil hat zwei Kunststücke geschafft: eine außergewöhnlich hohe Zuschauerzahl für alle Ballettvorstellungen und ihr Ballett zieht alle Altersstufen an.
Anhang: Hier eine Übersicht der Musiktitel
Lera Auerbach (*1973) - 24 Präludien für Violine und Klavier (Nr. 2 A- Moll, Nr. 3 G-Dur, Nr. 4 E-Moll, Nr. 7 A-Dur, Nr. 8 Fis- Moll, Nr. 11 B-Dur, Nr. 14 Es-Moll, Nr. 15 Cis-Dur, Nr. 20 C-Moll) (1999), Postludiem, Fragile Solitudes
Sebastian Currier (*1959) - Time Machines (2007)
Philip Glass (*1937) - Klavierkonzert Tirol (2000), Why does someone have to die
Max Richter (*1966) - The Twins (2002)
Alfred Schnittke (*1934 †1998) - Gogol Suite (1980), Clowns und Kinder (1976), Suite im alten Stil (1987), In Memoriam (1978), Klavierquintett, Time and again, Rikki-Tikki-Tavi
Dimitri Schostakowitsch (*1906 †1975) - Kammersinfonie für Streichorchester op. 110a (1960)
Lepo Sumera (*1950 †2000) - Symphonie Nr. 2 (1984)
Peteris Vasks (*1946) - Musica adventus, Klavierquartett (1996)
Bernd Alois Zimmermann (*1918 †1970) - Un petit rien
Lesen Kinder und Jugendliche heute denn noch Michael Ende? Kennen Sie noch Die unendliche Geschichte, Momo oder Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer? Einige werden bemerken, es wäre gut, wenn überhaupt noch gelesen wird, andere beklagen, daß das Unmittelbare vom Mittelbaren immer weiter zurückgedrängt wird und die wenigsten den 1973 erschienen Roman Momo gelesen haben, sondern wenn, dann die Zusammenfassung bei Wikipedia.
Wo schnelles und einfaches Downloading zum Symptom der Zeit wird, verlieren die beiden Säulen der Selbsterfahrung -Wahrnehmung und Reflexion- an Bedeutung. Man spart nur scheinbar Zeit, wenn man nicht mehr die Gemütsruhe aufbringt, durch die das Erfahrene klar, dauerhaft und lebensnützlich wird und Hast und Zeitmangel die Fähigkeit zur Hingabe verdrängen.
Manch einer wird also einen Paradigmenwechsel wünschen, hin zur besseren Erkenntnis, daß man auf einem langen Weg mehr erlebt als auf einem kurzen, daß das Frische mehr zu bieten hat als die Konserve, das Live-Erlebnis nicht durch die Aufzeichnung ersetzt werden kann und das Ganze mehr bietet, als ein auszugshaftes Bruchstück, daß also die Erfahrung der Unmittelbarkeit, wie sie nur ein Buch oder eine Bühne liefern können, aufgrund der Gedankenfülle, Erlebnisdichte, Spannung und Freude unersetzlich ist und den Mehrwert von Kultur und Kulturinstitutionen am lebendigsten verkörpert. Michael Endes Momo ist also in doppelter Hinsicht eine Stück von gesellschaftlicher Relevanz, betont es doch die reflektierte Selbstentdeckung im Jetzt und Heute und zeigt die Mängel eines Lebens in falschen Gleichwertigkeiten, das Sinnlosigkeitsgefühle in hastenden Arbeitseifer übersetzt.
Ähnliche Überlegungen scheinen Choreograph Tim Plegge inspiriert zu haben, der mit seinem ersten Handlungsballett nun ein unübersehbares Ausrufezeichen gesetzt hat. Ihm glückt eine abwechslungsreiche, vielseitige und jederzeit überzeugende Tanzsprache. Seine Choreographie hinterlässt den Eindruck, daß es nicht besser umgesetzt hätte werden können. Eine Uraufführung, die Maßstäbe setzt. Als Plegge auf die Bühne kam, gab es einhelligen Jubel und der Großteil des Publikums im Parkett stand auf, um ihm (und dann allen Akteuren) seine Ovationen stehend entgegenzubringen. Auch Sebastian Hannaks Bühne und Judith Adams Kostüme waren stimmig und beide wurden lange mit Applaus bedacht.
Die Premiere war tänzerisch perfekt! Alle Tänzer waren sehr ausdrucksstark, jeder ging in seiner Rolle auf. Die Stars des Abends waren Blythe Newman als Momo, Flavio Salamanka als Beppo, Zhi Le Xu als Gigi sowie Bruna Andrade, Admill Kuyler, Shiri Shai und alle anderen Einzel- und Gruppentänzer. Sensationell, wie in Karlsruhe über Jahre ein Ballettcorps zusammengewachsen ist, bei dem inzwischen alle auf sehr hohem Niveau ihre Rollen gestalten und bei dem deutlich zu bemerken ist, wie über die Jahre die Ausstrahlung und Ausdrucksfähigkeit zugenommen hat. Der gestrige Abend war in dieser Hinsicht eine weitere Steigerung und ein neuer Höhepunkt, den auch das Publikum lange und ausdauernd feierte.
Die erste Handlungsballettpremiere der Spielzeit Siegfried überwältigte musikalisch. Diesmal gibt es kein Orchester: die Musik kommt vom Band. Viel zeitgenössische Musik der letzten vier Jahrzehnte und überwiegend lebende Komponisten oder Komponisten des letzten Jahrhunderts aus Russland, dem Baltikum, Deutschland und den USA. Es ergibt sich ein ideales Klangbild von perfekter Folgerichtigkeit und Geschlossenheit, die Musikzusammenstellung ist grandios (s.u. in Anhang eine Zusammenstellung von Komponisten und Titeln).
Fazit: Eine Sternstunde und höchstwahrscheinlich der spartenübergreifende Höhepunkt der Spielzeit, den man sich nicht entgehen lassen sollte!
Man kann Birgit Keil und Vladimir Klos nur voller Bewunderung beglückwünschen! Wir erleben gerade ein goldenes Zeitalter des Balletts in Karlsruhe an das man sich später lange erinnern wird.
PS: Eine weitere Sensation war im Zuschauerraum zu beobachten: das mit Abstand jüngste Premierenpublikum an das ich mich erinnern kann. Birgit Keil hat zwei Kunststücke geschafft: eine außergewöhnlich hohe Zuschauerzahl für alle Ballettvorstellungen und ihr Ballett zieht alle Altersstufen an.
Anhang: Hier eine Übersicht der Musiktitel
Lera Auerbach (*1973) - 24 Präludien für Violine und Klavier (Nr. 2 A- Moll, Nr. 3 G-Dur, Nr. 4 E-Moll, Nr. 7 A-Dur, Nr. 8 Fis- Moll, Nr. 11 B-Dur, Nr. 14 Es-Moll, Nr. 15 Cis-Dur, Nr. 20 C-Moll) (1999), Postludiem, Fragile Solitudes
Sebastian Currier (*1959) - Time Machines (2007)
Philip Glass (*1937) - Klavierkonzert Tirol (2000), Why does someone have to die
Max Richter (*1966) - The Twins (2002)
Alfred Schnittke (*1934 †1998) - Gogol Suite (1980), Clowns und Kinder (1976), Suite im alten Stil (1987), In Memoriam (1978), Klavierquintett, Time and again, Rikki-Tikki-Tavi
Dimitri Schostakowitsch (*1906 †1975) - Kammersinfonie für Streichorchester op. 110a (1960)
Lepo Sumera (*1950 †2000) - Symphonie Nr. 2 (1984)
Peteris Vasks (*1946) - Musica adventus, Klavierquartett (1996)
Bernd Alois Zimmermann (*1918 †1970) - Un petit rien
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