Sonntag, 19. November 2023

Tschaikowsky: Der Nußknacker (Ballett), 18.11.2023

Wenig Flair und späte Steigerung
Wie war das noch mal mit der Handlung des Nußknackers? Ein Jahrzehntlang stand immer wieder Youri Vámos beliebte Choreographie auf dem Karlsruher Spielplan, die Dickens' Weihnachtsmärchen mit Tschaikowskys Musik verknüpfte. Bridget Breiner setzt nun mit einer Interpretation dagegen, die näher am Original ist, geographisch wechselt man von Dickens' England in die USA der 1920er und tropft ganz wenig Bitternis in die Weihnachtssüße des Balletts. Doch wie zu befürchten war, kann die neue Produktion die alte nicht umstandslos verdrängen, sie wirkt atmosphärisch weniger stimmig und szenisch nicht rundum überzeugend, erst Mitte des zweiten Akts springt der Funke über, als die Schülerinnen des Otto-Hahn-Gymnasiums einen akrobatischen Auftritt haben und in der Folge die Tänzer zum Schluß umjubelte Tanzszenen bekommen. Viel und langer Applaus für einen Übergangs-Nußknacker, bei dem allerdings kaum jemand bedauern sollte, falls er nur eine Spielzeit gegeben wird.

Worum geht es?
Das auf E.T A. Hoffmanns Erzählung Nußknacker und Mausekönig beruhende Ballettmärchen handelt von einem Mädchen (bei Hoffmann namens Marie, im Ballett meist Klara), das am Weihnachtsabend von ihrem Onkel Droßelmeier einen Nußknacker geschenkt bekommt, der nachts zum Leben erwacht und mit anderen Spielzeugfiguren in die Schlacht gegen den Mäusekönig zieht. Dahinter verbirgt sich eine komplizierte Geschichte, der Nußknacker ist tatsächlich ein verzauberter Neffe Droßelmeiers, der sich nur dann zurückverwandeln kann, wenn er den Mäusekönig besiegt und jemanden findet, der ihn mit Liebe erlöst. So geschieht es mit Hilfe des Mädchens. Bei Tschaikowkys wird aus dem Neffen ein Prinz, das Mädchen träumt sich in ein märchenhaftes Abenteuer und feiert nach der Befreiung des Nußknackers ein Fest mit Tänzern aus aller Welt. 

Was passiert in dieser Produktion?
Vorgeschichte: "Wir befinden uns im Mittwesten der Vereinigten Staaten zu Beginn des 20. Jahrhunderts, kurz vor der großen Wirtschaftskrise. Es ist Weihnachten  im Hause Stahlbaum, einer gutsituierten Bürgerfamilie. Die Eltern beschenken ihre beiden Kinder, Freddie und die kleine Clara Marie, mit wundervollen Spielsachen. Das Glück scheint ungetrübt, doch bald zeichnet sich ab, dass etwas dieses Idyll beeinträchtigen wird."
Dieses erste glückliche Weihnachten wird im 1. Akt durch ein zweites kontrastiert, das ein Jahr später zeigt, wie der Familienbesitz inklusive Weihnachtsgeschenke gepfändet und versteigert wird. Droßelmeier schenkt Klara einen Nußknacker. Nachts träumt das Mädchen: der Auktionator verwandelt sich in den Mäusekönig, der Nußknacker verwandelt sich nach gewonnenem Kampf in den Nachbarsjungen. Laut Programmheft hilft eine "Waldgöttin", beide steigen eine Strickleiter empor ins "Wolkenreich der Phantasie"
2. Akt: Im Wolkenreich der Phantasie feiern alle glückliche Weihnachten.  Breiner will eine "eine Art Übergangsritual von der Kindheit zum Erwachsenenalter" zeigen, einen "tiefgreifenden innere Wandel des Mädchens". Dazu hat die Choreographin einen belanglosen Mutter-Tochter Konflikt hinzu erfunden. Erst lehnt Klara das Geschenk (ein Ballkleid) der Mutter ab, doch dann "tanzt sie ihre ersten Schritte als heranreifende junge Frau". Wieso ein kleines Mädchen, das einen Nußknacker geschenkt bekommt und kindliche Märchenträume hat, auf einmal zur Frau werden muß und nicht Kind bleiben darf, sollte man nicht hinterfragen.
"Schließlich erwacht das Mädchen im Wohnzimmer, wo es eingeschlafen war. Dort findet sich die Familie zusammen, dankbar einander zu haben."  

Was ist zu sehen?
Bühne und Kostüme stammen von Jürgen Franz Kirner. "Eine der anfänglichen Inspirationen für die Gestaltung dieses Ballettabends war das amerikanische Filmmusical Meet Me in St. Louis (1944) – eine Produktion unter der Regie von Vincent Minnelli mit Judy Garland in der Hauptrolle." Das amerikanische Flair bleibt eher folgenlos, es gibt einige Kostüme, nicht alle gelungen, der Mäusekönig wird eher zum Rattenkönig, seine Schar hat Skelettköpfe. Die Bühne ist variabel, aber ohne Zauber, insbesondere das "Wolkenreich der Phantasie" wirkt eher wie eine Sparversion, als ob man nach der aufwendig in Szene gesetzten Maria Stuart einsparen müßte. Der 1. Akt wirkt überaus schleppend, die in die Länge gezogene Auktion zum berühmten Marsch des 1. Akts wirkt reizlos, ebenso die Szene mit Schäferin, Wolf und Schaf. Der Kampf gegen den Mäusekönig hat keinen Spektakelwert. Besonders enttäuschend am Ende des 1.Akts der Schneeflocken-Walzer, für den Breiner eine "Waldgöttin" erfindet. Wald? Göttin?? Heidnische Metaphern an Weihnachten, die nicht weiter ausgeführt werden. Egal, wäre da nicht eine angedeutete Schneelandschaft würde der unaufregende 1. Akt ungewöhnlich steril enden, denn tänzerisch überzeugt die Szene nicht.
Der 2. Akt: Wenig attraktive und unoriginelle Marmorwolken - mehr wird beim Bühnenbild nicht mehr passieren. Die Reihenfolge der Musikstücke ist stark verändert, die Divertissments (bspw. spanischer, arabischer, chinesischer und russischer Tanz) erfolgen nicht hintereinander. Auch der 2.Akt plätschert lange vor sich hin. Die Wende (auch zum Erfolg) erfolgt mit dem Auftritt von Turnerinnen des Otto-Hahn-Gymnasiums, deren Akrobatik den ersten begeisterten Applaus auslösen. In der Folge dreht die Produktion auf, gegen Ende kriegen die Hauptrollen große Szenen, die diesen Nußknacker retten.
Viele Bravos für die Tänzer: Ledian Soto dominiert als geheimnisvoller Droßelmeier, der Klara auch im Traum begleitet. Sara Zinna tanzt und mimt die Mädchenrolle zwischen Kind und Jugendlicher überzeugend. Der neu im Ensemble befindliche Lucas Erni  ist ein Gewinn für das Staatsballett: der Figur des Vaters gibt er scheinbar mühelos ein starkes Profil, seine Frau wird von Lucia Solari als sorgengebeutelte, aber robuste Mutter dargestellt. Kraftpaket Daniel Rittoles als Nachbarsjunge und Nußknacker gewinnt beim Publikum mit Sprüngen und Drehungen und Sophie Martin nutzt ihren Auftritt als gute Fee ("Waldgöttin"?) für ausdrucksstarke Szenen. Insbesondere im zweiten Akt kommen Ballettfreunde auf ihre Kosten! Bravo!

Was ist zu hören?
Aktuell ist eine Kapellmeisterstelle am Badischen Staatstheater unbesetzt, für den Nußknacker hat man einen Gastdirigenten engagiert. Der Österreicher Walter E. Gugerbauer studierte zum fünften Mal in seiner Laufbahn einen Nußknacker ein und stellt fest: "mein fünfter Nußknacker und tatsächlich wird es das erste mal sein, dass die gesamte Musik von Tschaikowsky zum Erklingen kommt. Auch wenn der zweite Akt nicht die ursprüngliche Reihenfolge haben wird, so sind diesmal keine Sprünge oder Striche vorgesehen, was mich sehr freut. Tatsächlich wird es sogar noch eine Erweiterung durch einen Einschub aus seinem Ballett Dornröschen geben". Gugerbauer ließ die Badische Staatskapelle differenziert, klangschön und opulent musizieren. Wenn auch beim Zusehen der Funke oft nicht überspringen mag, die Musik vermag das zu kompensieren. Ein Ballett, das auch ein wunderbares Konzert ist!

Fazit: Szenisch und choreographisch durchwachsen, bemerkenswert schön musiziert und im 2. Akt können die Tänzer auftrumpfen.

Besetzung und Team:
Clara Marie, das Mädchen: Sara Zinna
Ihre Mutter: Lucia Solari
Ihr Vater: Lucas Erni
Freddie, ihr Bruder: João Miranda
Betsy, Köchin der Familie: Alba Nadal
Hieronymus, Hausangestellter der Familie: Valentin Juteau
Droßelmeier, Clara-Maries Patenonkel: Ledian Soto
Nathan, der Nachbarsjunge: Daniel Rittoles
Der Auktionator/ Der Mäusekönig: Joshua Swain
Waldgöttin: Sophie Martin
Die vier Winde: Olgert Collaku, Joan Ivars Ribes, Leonid Leontev, Timoteo Mock
Schäferin: Francesca Berruto
Wolf: Geivison Moreira
Schaf: Carolin Steitz
Käufer / Mäuse / Zinnsoldaten / Schneesturm / Blumenwalzerball: Ensemble Staatsballett, Ballettstudio Akademie des Tanzes Mannheim, Gäste der Akademie des Tanzes Mannheim
Rabauken: Schülerinnen des Otto-Hahn-Gymnasiums 

Choreografie & Inszenierung: Bridget Breiner
Musikalische Leitung: Walter E. Gugerbauer a. G.
Bühne & Kostüme: Jürgen Franz Kirner
Licht: Ingo Jooß a. G.