Sonntag, 5. Februar 2023

Bizet - Carmen, 04.02.2023

Multiple Funkenlosigkeit
Die neue Karlsruher Carmen ist keine Inszenierung für Einsteiger oder Neulinge. Das im spanischen Andalusien spielende Eifersuchtsdrama zwischen der Zigeunerin Carmen und dem Basken Don José wird einigen Perspektivwechseln und Eingriffen unterzogen: es gibt kein spanisches Flair, weder Sonne noch Hitze, sondern nur Nacht. Die Handlung wurde umgedeutet, die Regie stellt Don José so sehr in den Mittelpunkt, daß die beiden weiblichen Rollen nicht nur Nebenfiguren werden, sondern in gewisser Weise verschmelzen, denn dramaturgisch orientiert man sich weniger am Libretto und dafür an der literarischen Vorlage, die nur Carmen kennt, aber nicht Micaëla, was zu mancher Ungereimtheit führt. Dazu hat man die Rezitative gestrichen und bringt von einem Schauspieler gelesene Erläuterungen zu Josés Gedanken als Tonkonserve zwischen einzelnen Szenen und teilweise während der Musik zu Gehör. Vieles ist diskutabel und wirkt ziemlich weit hergeholt, aber man kann der Inszenierung zugute halten, daß sie konsequent und intelligent erdacht ist. Manche Stimmungsbilder lassen erahnen, daß diese Carmen einiges an Potenzial hätte haben können. Doch knapp vorbei ist auch daneben. Die neue Carmen ist zu sehr Kopfgeburt, die die Musik nicht fühlt, die die Leidenschaft nicht kennt, die kein Feuer spürt, und nicht nur die Inszenierung leidet, auch aus dem Orchestergraben tönt es seltsam farblos und wäre da nicht die bemerkenswert schöne Tenorstimme von Jenish Ysmanov als Don José, würde gar nichts in dieser Produktion Funken schlagen. Selten erlebt man eine so sterile Carmen, bei der das Publikum lange fremdelt.

Worum geht es?
Literarisch wurde Carmen als Novelle von Prosper Mérimée geschaffen, das Opernlibretto dann von Henri Meilhac und Ludovic Halévy. Bei Mérimée mußte José nach einem Tötungsdelikt aus seiner nordspanischen Heimat fliehen und arbeitet als Wachsoldat in Südspanien. Er soll Carmen, die bei einem Streit in der Zigarettenfabrik eine andere Frau mit dem Messer niedergestochen hat, ins Gefängnis bringen. Doch er läßt sie aus Verliebtheit entkommen und muß selber dafür in den Arrest. Nach seiner Entlassung und einem weiteren Tötungsdelikt (in der Novelle, nicht im Libretto, das José entkriminalisiert: er hat zuvor nicht getötet, er tötet nicht Zuniga) hilft ihm Carmen bei der Flucht, beide werden ein Paar und José wird Mitglied in der Schmugglerbande, für die auch Carmen tätig ist. Doch wie so oft, manche Beziehungen dauern nicht ewig. Carmen trennt sich wieder von José und führt eine Beziehung mit einem Stierkämpfer. José fordert sie auf, zu ihm zurückzukehren, doch sie lehnt ab und betont ihre Liebe zu dem anderen Mann. José ersticht sie. In der Novelle wird er zum Tode verurteilt. Die Figur der Micaëla gibt es nicht in der literarischen Vorlage, sie diente den Librettisten als braver Gegenentwurf zu Carmen und möglichen Ausweg für José, um den herum man sentimentale Momente komponieren konnte.

Historisches
Die Uraufführung war 1875 in Paris, die erste Aufführung von Carmen in Karlsruhe erfolgte vor 141 Jahren am 05.02.1882.


Quelle: hier bei der BLB

Was ist zu sehen?
Erzählt wird die Geschichte von Don José, für Carmen interessiert sich der Regisseur nicht. Er verleiht der Titelfigur kein Charisma, keine Erotik (sie wirkt in manchen Szenen eher ordinär), einige wenige, immer gleiche Räkelbewegungen und Szenen in Unterwäsche als Andeutung einer altmodischen Verruchtheit - selten erlebt man eine Produktion, die Carmen so benachteiligt und keine Idee hat, was diese Figur ausmacht. Man sollte über die vielen szenischen Ungereimtheiten bezüglich der identisch aussehenden Carmen und Micaëla nicht zu viel nachdenken - sie sind lediglich Nebelkerzen, die der Regisseur auch in anderen Zusammenhängen zündet, weil er dramaturgisch in der Sackgasse steckte. Als er die Handlungsfäden nicht mehr zusammenbrachte, wollte er den Anschein der Absichtlichkeit erwecken. Dazu kommen noch Choreographien und Bühnenfiguren ohne Triftigkeit, insbesondere eine auffällige Madonnenfigur als leere Geste und Behauptung, denn das Klischee von Huren und Heiligen war nie wirklich verbreitet oder maßgeblich.
Zu Beginn sieht man das Ende: die tote Carmen (oder Micaëla?) liegt auf dem Bett, José überschüttet alles mit Benzin und zündet sie an. Carmenland ist abgebrannt, schwarz dominiert die Bühne, eine abgebrannte Zigarettenfabrik im ersten Bild. Es wirkt, als wolle man verschiedene Zeitebenen erzählen (sehr schön bspw. die schnellen Szenenwechsel mit dem Chor), nach dem Brand ist vor dem Brand, doch die Regie verzettelt sich. Das Publikum erkennt nicht, worauf die Regie hinaus will und am Ende steht keine Auflösung, die das Publikum entschädigt. Das musikalische Kolorit spanischer Rhythmen und Melodien bleibt der Inszenierung fremd, was aus dem Orchestergraben ertönt (oder hier zutreffender: ertönen sollte) findet keine spannende Entsprechung auf der Bühne - Musiksprache und Inszenierung kommen oft nicht zusammen, außer Don José stehen nur Klischees auf der Bühne, Figuren, für die sich die Regie nicht interessiert und die schnell erkennbare Stereotype darstellen sollen. Da einzelne Szenen nicht kontinuierliche Abläufe erfahren, wirkt die sonst spannende Handlung wie eine Aneinanderreihung von kürzeren Momentaufnahmen, was keinen Spannungsbogen zuläßt. Dennoch gibt es auch gute, stimmungsreiche Momente und insbesondere das stark bebilderte kurze Vorspiel zum 3. Akt als erträumtes Glücksidyll hat ein Bravo verdient.

Was ist zu hören?
Man kann ja über manche Inszenierung hinwegsehen, wenn musikalisch und sängerisch ein Feuerwerk abgebrannt wird. Doch seltsamerweise bleiben auch diese Aspekte überwiegend funkenlos. Dirigentin Yura Yang scheint keine Affinität zu Bizet zu haben und dirigiert eine spannungsarme Carmen, bei der man als Zuhörer weder nach vorne auf die Stuhlkante rutscht noch schwelgerisch sich zurücklehnt. Ein seltsam unbeteiligtes Dirigat ohne Feuer und Leidenschaft.
Nur Don José bekommt von der Regie eine Persönlichkeit und Tenor Jenish Ysmanov nutzt seine Chance: stimmschön und sicher, ein charakteristisches, männliches Timbre - seine erste Rolle in Karlsruhe überzeugt - BRAVO! Ysmanov scheint in der nächsten Saison ins Ensemble zu wechseln und wird auch Rudolfo in La Bohème singen, zusammen mit Matilda Sterby als Mimi, die gestern ein ordentliche, aber etwas emotional zu wenig berührende Micaëla sang, was man aber der Regie anlasten kann, denn auch sonst blieben alle Sänger unauffällig und unter ihren Möglichkeiten. Am stärksten leidet Dorothea Spilger unter der Regie, Carmen bleibt blaß und stereotyp, eine Figur, deren Lebendigkeit in diese Inszenierung nicht wirken will. Als Amneris in Aida darf  Spilger zeigen, was ihr in Carmen untersagt ist: Persönlichkeit und Leidenschaft. Beide - Spilger und Sterby- können in dieser Inszenierung kaum fesseln und faszinieren. Es gibt noch andere Rollen, aber gestern überzeugte der Verfasser dieser Zeilen niemand außer Ysmanov und deshalb soll hier kein weiteres Wort geschrieben werden.
Zwei Hervorhebungen sind aber erforderlich: Chor und Kinderchor singen bemerkenswert schön!

Fazit: Selten erlebt man eine so populäre Oper in so spröder Umsetzung, bei der der Funke bisher nicht ins Publikum überspringen will.

Besetzung und Team:
Carmen: Dorothea Spilger
Don José: Jenish Ysmanov
Micaëla: Matilda Sterby
Escamillo: Tomohiro Takada
Frasquita: Uliana Alexyuk
Mercédès: Fiorella Hincapié 
Dancairo: Klaus Schneider
Remendado: Merlin Wagner  
Zuniga: Yang Xu 
Moralès: Kammersänger Armin Kolarczyk   
Badsicher Staatsopernchor, Extrachor, Kinderchor (Cantus Juvenum Karlsruhe e. V.)

Musikalische Leitung: Yura Yang
Regie: Immo Karaman
Bühne: Nicola Reichert
Kostüme & Choreografie: Fabian Posca
Licht: Rico Gerstner
Chorleitung: Ulrich Wagner
Einstudierung Kinderchor: Clara-Sophie Bertram

5 Kommentare:

  1. @M.C.: Vielen Dank für Ihre Mitteilung, die allerdings auf einer Fehlinterpretation beruht: Herr Fritzschs Dirigat des Fligenen Holländers habe ich nicht gelobt, sondern kritisiert. Sie bezeichnen die Orchesterleistung beim Holländer als "absoluten Tiefpunkt, eine schmerzliche Erfahrung, die den Ohren und dem Herzen weh tat", das ist für mich nachvollziehbar, allerdings bin kein Fan davon, Bühnenkünstler, Orchester und Dirigenten anhand einer Vorstellung zu harsch zu kritisieren, vieles kommt zusammen, Wohlbefinden, Gesundheit, Launen, Konflikte, äußere Umstände - da kann eine Vorstellung schon mal schief gehen. Inzwischen könnte sich der Fliegende Holländer anders anhören, im Orchester scheint die Zustimmung zu Herrn Fritsch zwar etwas gesunken, aber 85% sollen letzten Sommer für ihn als GMD gestimmt haben. Den Anspruch der Badischen Staatskapelle an sich selber bezweifle ich nicht, Profis wissen selber, was ihnen nicht gelungen ist. Doch ich habe in der Regel zu viel Respekt vor denen, die ihre Haut zu Markte tragen, um über sie sofort den Stab zu brechen. Deswegen konzentriere ich mich in meinem Tagebuch überwiegend auf Konzepte, Ideen und Inszenierung.
    Ich freue mich für Sie, wenn sie die Carmen musikalisch genossen haben, mich ließ sie kalt, allerdings läßt sich auch über musikalische Geschmackfragen schlecht streiten, Perfektion kann steril wirken, Makel und Manierismen können begeistern - manche, auch ich, lieben Glenn Goulds Goldberg-Variationen von 1980, andere lehnen sie ab. Für mich ist es müßig, darüber zu diskutieren und letztendlich ist dieser Blog ein Tagebuch, der nur auf meiner unzureichenden Wahrnehmung des Moments beruht. Wenn ich meinen bisherigen Erlebnishorizont zurück korrigieren könnte, dann würde mir zweifellos mehr gefallen.

    AntwortenLöschen
  2. Ich habe in meinen über 20 Jahren am Badischen Staatstheater selten solchen Applaus für eine/n Dirigent/in erlebt wie bei dieser Carmen. Ja, es stimmt. feurig war es nicht, aber z.T, bildschön und CD-reif musiziert. Das Publikum honorierte dies bisher in jeder Aufführung.

    AntwortenLöschen
    Antworten
    1. Vielen Dank für Ihren Hinweis. Manche Opernhäuser haben sogenannte Partiturplätze, an den man nichts oder kaum etwas sieht, dafür aber zuhören kann. So einen Platz wünschte ich mir für meinen nächsten Besuch dieser Carmen, bei der ich wahrscheinlich nur zuhören werde, um festzustellen, ob der Funke doch noch auf mich überspringt.

      Löschen
  3. Mit dieser Carmen-Inszenierung habe ich meine Lieblingsoper sechsundzwanzig Mal an verschiedenen Bühnen gesehen, aber mehrmals im Bad.Staatstheater und ich mußte leider feststellen, daß diese Inszenierung die Übelste und Geschmackloseste war, was ich je auf der Karlsruher Bühne sah.
    Doch zum Glück gibt es auch eine Pause, in der man sich des in den Schritt gerutschten Gedankengutes des Regisseurs entledigen konnte.
    Es ist sehr traurig, daß die kostbaren Opernwerke immer häufiger derart vergewaltigt werden.

    AntwortenLöschen
    Antworten
    1. Vielen Dank für Ihren Kommentar, Es handelt sich ja eigentlich hier nicht um Bizets Oper "Carmen", sondern um "Don José" zu Bizets Musik, denn durch die stark überzogene Drehung der Perspektive, erlebt man diese Oper nur aus seiner Sicht. Carmen hingegen ist nur der anlaßgebende äußere Umstand, die als Animierdame und Prostituierte ein Klischee bedienen soll und eine Nebenrolle spielt - ein Umstand, den ich weniger als geschmacklos, sondern als abgestanden und muffig bezeichnen würde, denn zu Carmen ist der Regie nichts Originelles eingefallen.

      Löschen