Samstag, 21. Januar 2023

Wie war denn die Carmen-Premiere?

Um mal aus dem Nähkästchen zu plaudern: umso mißratener eine Premiere, desto mehr Leser hat dieser Blog. Am Folgetag schnellt die Leserzahl stets nach oben, wenn es bis Mittag bereits eintausend Besucher gab, dann waren das nicht nur Neugierige, sondern viele Enttäuschte des Vorabends, die auch in den Tagen danach verstärkt schauen, ob und welche Kommentare es gab. Der fliegende Holländer erlebte innerhalb von 72 Stunden ca. 4000 Seitenaufrufe - die Statistik verrät die Pleite, Erfolge kommen im gleichen Zeitraum auf ca. 2500 Aufrufe. Der urlaubsbedingt abwesende Autor dieses Blogs kann also aus statistischer Betrachtung erahnen, wie die Premiere von Bizets Carmen am 21.01.23 beim Publikum ankam, dennoch freue ich mich über jeden Kommentar, da ich erst die dritte oder vierte Aufführung besuchen kann. Wie war denn die Carmen-Premiere? Erfolg, Unentschieden oder Pleite? Zum Hinhören, zum Wiedersehen oder erneut zum Wegsehen? 

20 Kommentare:

  1. Lieber Honigsammler,

    die gestrige „Carmen“-Premiere hat mich ratloser zurückgelassen als die „Holländer“-Premiere.

    Dass die Dialoge/Rezitative gestrichen werden, empfinde ich bei einer „Carmen“ eher als Gewinn – wenn sie aber mit der Ausdruckslosigkeit eines Navigationsgerätes (als Einspielung) rezitiert werden, dann sollte man es sein lassen. Dass man die Handlung nicht in einem Spanien-Werbespot spielen lässt, empfand ich als dankbare Entscheidung. Ein bisschen mehr als das dominante Grau-Schwarz hätte dem Auge aber doch gutgetan.

    Hauptursache für meine Ratslosigkeit war die Personenregie. Sie beginnt noch vor der Ouvertüre mit einer starken Szene in der Form eines Flashbacks und lässt dann immer mehr Fragen offen, als dass sie sie löst. Immo Karaman lässt Micaela und Carmen als Doppelgänger auftreten und mir war bis zum Schluss nicht klar, ob Don Jose hier an einer Art Schizophrenie leidet (sprich: eine Person wird als zwei Personen wahrgenommen) oder ob es eine Variation des Tannhäusers (sprich: zwei komplementäre Teilgestalten) handelt. Es entstehen in jedem Falle zahlreiche logische Fehler in der Dramaturgie – als pars pro toto sei der zweite Akt genannt, der an gleich drei Orten (Nachtclub Bühne/Backstage; Restaurant; Wohnung) spielt, um die Linie der Regie durchzuziehen. Warum sollte sich die Bedienung Carmen nach Don Jose sehnen, wenn dieser bereits vorab bei der Solo-Gesangseinlage von Escamillo ständig bedrängt wird? Warum sollte er aus der Privatwohnung dringend in die Kaserne zurück? Vielleicht stehe ich immer noch auf dem Schlauch, aber auch nach einer Nacht drüber schlafen konnte ich hier und in vielen anderen Situationen keinen roten Faden erkennen. Gleichwohl: Bravi aus dem Publikum.

    Gut schlafen konnte ich allerdings gut, denn im Orchester hörte man noch viel vom Humperdinck des Vorabends. Das Dirigat von Yura Yang ist eher breit, wenig feurig, an manchen Momenten zu gedehnt und erstickt letzten Endes an seiner eigenen Perfektion. Auch hier: das Publikum jubelt. (Was vielleicht nicht zu viel bedeuten will, da manche Teile der Übergangsmusik nach der Escamillo-Arie tatsächlich mitklatschen.)

    Die Chöre sind bestens präpariert, die kleinen Rollen adäquat besetzt. Tomohira Takida fehlt die Tiefe für den Escamillo und stellt – wohl als Kompensation – die Höhen derart aus, als sei er Verdi-Bariton in der italienischen Provinz. Schade, weil er das mit dieser schönen Stimme eigentlich gar nicht nötig hätte, aber diese Rolle verführt eben auch zum präpotenten Gehabe. Matilda Sterby (Micaela) besitzt eine technisch gut geführte Stimme, aber mir fehlte der Schmelz. Dorothea Spilgers Carmen spielt engagiert, klingt eher robust – manchmal auch hier mehr Verdi als Bizet und wenig verführerisch – aber hier kann das an der Regie liegen. Man wüsste gerne, ob Jenish Ysmanov mehr als zwei gestalterische Nummern (Schmollen in wenigen Varianten und Frauen nötigen) abziehen kann – gesanglich war das für mich die beste Leistung: kraftvoll, wo nötig, stilistisch einfühlsam und idiomatisch im Ton.

    Ihnen gute Erholung!

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    1. Herzlichen Dank Herr Kaspar für Ihre ausführliche Stellungnahme!

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  2. Nach den vielen Buh-Rufen beim Holländer gab es gestern überraschende Bravo-Rufe, die teilweise auf mich so unverständlich wirkten, als ob Angehörige als Claqueure beauftragt wurden. Mit Spanien hat die Inszenierung nicht viel am Hut, schwarz dominiert, auch mir blieb manches unverständlich. Dorothea Spilger merkte man die Aufregung der ersten Carmen an, aber die Rolle passt zu ihr! Die Sänger der Micaela und des José gefilen mir gut, das Dirigat war etwas zu gewöhnlich der Chor präsent. Im Resultat durchwachsen, keine Inszenierung, die man immer wieder sehen will.

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    1. Vielen Dank für Ihren Kommentar!

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  3. Sagen wir mal so, ich habe mir das letzte Drittel nach der Pause geschenkt. Nicht, weils grauenhaft war, aber weil ich sehr gelangweilt war. Kam da noch was anderes, außer schwarz, schmollen und Frauen nötigen?

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  4. Vielen Dank! Sollte nach der Pause noch etwas Bemerkenswertes passieren, werde ich nach meinem Besuch darüber schreiben.

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  5. Ein Blick auf die Statistik in o.g. Hinsicht: über eintausend Seitanaufrufe sprechen eher eine skeptische Sprache hinsichtlich der Inszenierung.

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  6. Hat denn niemand den Chor vermißt? Ich finde es befremdlich, eine der größten musikalischen Partien dieser Oper, nämlich eben den Opernchor, fast komplett unsichtbar zu machen. Die Männer waren entweder im Off oder ganz in Schwarz mit Tarnhaube und sogar Handschuhen ausgestattet, damit sie die Inszenierung nicht störten! Bei den Damen war es kaum besser und sowieso auch zumeist im Off. Traurig!
    Ich dachte immer, so etwas macht man dort, wo es keinen fest angestellten Chor gibt, um es kostengünstiger zu machen, da fast nur musikalische Proben notwendig sind.
    Stattdessen sieht man außer den Solisten nur Statisterie.
    Soll das die Zukunft der Oper sein?
    Ich fand es befremdlich und bedenklich.

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    1. Man kann den schwarz gekleideten und visuell somit kaum erkennbaren Chor tatsächlich vermissen, aber in einem Regiekonzept, das eigentlich nur eine toxische Beziehung zwischen Don Jose und Carmen/Micaela zeigen will, ist eine derartige künstlerische Entscheidung zumindest folgerichtig.

      Das heißt ja nicht, dass das jetzt "die Zukunft der Oper" sein wäre.

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    2. Vielen Dank für den Hinweis zum Chor. Es gibt immer wieder Choropern, in denen der Chor mehr oder weniger vom Regisseur verbannt wird. Vor einem Jahr bei dem schnell wieder abgesetzten Don Pasquale ließ der Regisseur eine der schönsten Chorstellen dadurch verpuffen, daß der Chor unsichtbar blieb. Es scheint mir, der Regisseur hat sein Konzept bei Carmen konsequent durchgezogen.

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  7. Einen wunderbaren Opernabend habe ich erlebt. Eine faszinierende Inszenierung, die zwar zunächst rätseln lässt, aber den Kopf wachhält. Schade, dass im Programmheft zwar der Dramaturg, nicht aber der Regisseur mit seinen Ideen zu Wort kommt. Die Beziehungsgeschichte wird frei von spanisch-folkloristischem Klamauk in die Welt des Jedermann übertragen. Die Kastagnetten klingen (nur) bedrohlich im Hintergrund. Die häusliche Enge wird mit einem auf und abfahrendem Schuhkarton - Etablissement bedrückend vermittelt. Manchmal thront Carmen als beängstigendes Libertinage - Weib auf diesem. Herrlich die Chorszene, die Escamillo und Carmen wie aus einer öffnenden und schließenden schwarzen Rose auftauchen und verschwinden lässt. Ausgewogene Stimmen und unaufdringliche, wenig schlagerhafte Carmen - Orchestermusik bescheren einen lohnenswerten Opernbesuch.

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    1. Vielen Dank Herr Ullmann für Ihre positive Rückmeldung. Ich bin gespannt, wie diese psychologisch zugespitzte Regie auf mich wirken wird.

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  8. Der Dramaturg sagte bei der Einführung, Carmen wäre eine Oper, die sich von selbst erzählt - durch die Inszenierung geschah eigentlich das Gegenteil: Viele Fragen blieben offen. Dabei wäre ja Aufgabe des Regieteams, die Oper an das Publikum zu vermitteln. Eine Inszenierung, die im Nachhinein gedeutet werden muss, verfehlt für mich ihr Ziel. In diesem Zusammenhang vermisse ich wieder einmal schmerzlich die Programmhefte früherer Jahre, in denen sich zur Inszenierung und zur Musik Beiträge finden ließen, zum Beispiel in Form von Interviews mit Regisseur oder Dirigent.
    Für mich war „Carmen“ wieder nur eine Oper zum Hören (aber immerhin etwas),

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    1. Vielen Dank für Ihren Hinweis! Die Programmhefte verraten nichts mehr zur Inszenierung. Das ist schade, allerdings waren manche Aussagen auch unfreiwillig komisch, weil die Regisseure Absichten verkündeten, die entweder nicht vom Bühnengeschehen widergespiegelt wurden oder die diskutabel abwegig waren. Man verzichtet aktuell also auf Erläuterung und damit auf Angriffsfläche bei Kritik. Doch wenn der Regisseur nicht überzeugen will, dann muß die Inszenierung eine klare Sprache sprechen.

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    2. Klar, einen Boris Kehrmann gibt es nur einmal! Aber dieser Gastdramaturg erzählt wirklich nur das, was man nachschlagen kann, sofern man es nicht eh schon weiß.

      Generell scheint mir, dass jedes Regieteam seinen Assoziationen freien Lauf lässt – was zunächst auch in Ordnung ist. Doch dann vergisst man im Rausch der eigenen Kreativität, dass das Publikum diesen Prozess nicht miterlebt hat und ggf. nicht nachvollzeihen kann. Und so klafft immer häufiger zwischen dem Wissen des Publikums und dem Ende des kreativen Prozesses des Regieteams eine riesige Lücke, die entweder in einer Einführung oder im Programmheft überbrückt werden sollte. Und genau das geschieht in letzter Zeit nicht mehr (wobei es natürlich immer besser ist, wenn sich die Produktion selbst erklärt).

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    3. Vielen Dank! Wenn ich über die Carmen selber schreibe, nehme ich Ihren Kommentar als Anregung, um meinen "Assoziationen" freien Lauf zu lassen.

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  9. Nach den überwiegend negativen Kommentaren möchte ich allen Menschen, die schon einige Carmen Aufführungen nach altem Muster und Klischee gesehen haben, diese Inszenierung empfehlen.
    Es stimmt, dass man zu Beginn bei dem Einstiegsbild etwas irritiert ist (tote Carmen auf einem Bett mit verzweifeltem Don Jose daneben) in einer Art Guckkasten, sozusagen als Ausblick auf die Katastrophe am Ende.
    Aber es ist ungeheuer fesselnd im Verlauf der Handlung in die Abgründe der menschlichen Seele zu sehen. Da der unglücklich verliebte Don Jose, dort die leichtlebige Carmen Die Inszenierung ist als eine Art Kammerspiel zu sehen. Mit sehr viel Bewegung in den Kulissen und. einer Regie, die den Sängern viel Action abverlangt.
    Einfach ein anderer Ansatz,
    der mir sehr gefallen hat.
    Verstehen kann ich, dass es für Besucher, die Folklore erwarten, nicht das Richtige ist.
    Noch ein Wort zur Musik und den Sollist:innen:
    Auf gewohnt hohem Niveau.
    Besonders erwähnenswert Jenish
    Ysmanov als Don Jose, der in der
    kommenden Spielzeit fest ans Haus kommt. Eine wunderbare Tenorstimme.
    Mein Fazit: unbedingt selbst erleben!

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    1. Vielen Dank für Ihren ausführlichen Kommentar und die Information zum neuen Ensemblemitglied.
      "Unbedingt selbst erleben" kann ich auf jeden Fall bestätigen. Nach den Kommentaren bin ich bereits gespannt, es scheint mir nach dem bisher Gelesenen eine Carmen für Kenner zu sein - durchdacht und konsequent und auch fordernd.

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  10. Interessante komentare, gut so

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  11. Vielen lieben Dank für die vielen konstruktiven Kommentare :-)

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