Sonntag, 20. November 2022

Giselle (Ballett), 19.11.2022

Irgendwie Giselle
Mit dem Ballett Giselle und in drei Wochen dem Fliegenden Holländer in der Oper zeigt das Badische Staatstheater in diesem Winter kernromantisches Repertoire um Schuld, Tod und übersinnliche Phänomene. David Dawson choreographierte diese Giselle 2008 für das Ballett der Semperoper in Dresden, 2014 ließ Bridget Breiner als damalige Ballettdirektorin des Theater im Revier Dawsons Giselle in Gelsenkirchen einstudieren und tanzte auch noch selber die Titelfigur. Gestern war nun die Karlsruher Premiere, die mit viel Applaus für die Tänzer belohnt wurde, doch die Freude war getrübt. Die enttäuschende Produktion interpretiert die Handlung reduziert und abstrahiert jenseits der romantischen Schauergeschichte und wirkt zwar irgendwie wie Giselle, aber mit wenig dramatischer und atmosphärischer Überzeugungskraft.

Worum geht es?
1. Akt: Giselle - eine junge Frau aus einfachen Verhältnissen - und Albrecht sind verliebt. Was Giselle nicht weiß: Albrecht ist tatsächlich ein Graf und mit der adligen Bathilde verlobt. Der in Giselle verliebte  Hilarion entdeckt Albrechts wahre Identität und enthüllt sie bei einem Fest, auf dem Giselle und Albrecht glücklich tanzen. Der Schock angesichts des verlobten Geliebten aus unerreichbarem Stand läßt Giselle Selbstmord begehen (sie stirbt also nicht dem Wahnsinn verfallen zu Tode getanzt an gebrochenem Herzen,  wie in manch anderer Choreographie).
2. Akt:  Am Grabe Giselles. Um Mitternacht erscheinen die Geisterkönigin Myrtha und ihre Wilis - Geister junger Frauen, die vor ihrer Hochzeit starben -, um Giselle in ihre Reihen aufzunehmen. Die Wilis sind nur nachtaktiv, treffen sie auf einen Mann, so tanzen sie ihn zu Tode. Albrecht erscheint, Giselle lehnt sich gegen Myrtha auf und verteidigt den immer noch Geliebten gegen ihre Mitgespenster bis sie sich zum Morgengrauen wieder auflösen und Giselle und Albrecht für immer Abschied nehmen.

Was läuft bei dieser Produktion schief?
oder
Rückblick: Giselle 2004
Wer erinnert sich noch an die letzte Karlsruher Giselle? Es sind tatsächlich 18 Jahre vergangen: die umjubelte Premiere war im Dezember 2004! Ballettdirektorin Birgit Keil entschied sich für die Choreographie von Peter Wright aus dem Jahr 1965, in der sie selber mit 21 Jahren debütierte, zuerst als Königin der Wilis, später auch in der Titelrolle. 2004 waren Anaïs Chalendard als Giselle, Emmanuelle Heyer als Königin der Wilis und Flavio Salamanka als Graf Albrecht zu sehen; in der Neueinstudierung 2012 übernahmen Elisiane Büchele und Bruna Andrade die weiblichen Hauptrollen. Wrights Inszenierung wirkte bei Bühne und Kostümen im ersten Akt deutlich angestaubt und in die Jahre gekommen und lief im zweiten Akt zu großer dramatischer Form auf. Keil konnte 24 Gruppen-Tänzerinnen im grandios wirkenden 2.Akt aufbieten; die neue Inszenierung kann bzw. will da nicht mithalten: Lediglich 12 Tänzerinnen wirken deutlich weniger beeindruckend.
David Dawson reduziert Giselle, die Handlung soll ohne Zeit- und Ortsbezug erfolgen, der Choreograph versteigt sich zu einer Fehlkonzeption: "Meine Giselle ist eine Vertreterin meiner Generation. Sie ist eine junge Frau mit einem freien Willen und voller Hoffnung, sie übernimmt die Verantwortung für ihr Handeln und ist unabhängig von gesellschaftlichen Zwängen. .... Als Albrechts wahre Identität enthüllt wird, treiben Verletzung und Schmerz über das Verlassenwerden und die Schande die nun folgenden Ereignisse voran." Doch wenn sie unabhängig von gesellschaftlichen Zwängen ist, dann gibt es auch keine Schande, und auch der fehlende Klassenunterschied verhindert nicht die Liebe des Adligen mit der nichtadligen Frau. Der schnelle Selbstmord eines depressiven Teenagers ist nur schwach motiviert. Die Wilis des zweiten Akts sind bei Dawson folglich keine Gespenster, sondern Erinnerungen Albrechts, Produkte seiner Vorstellungskraft. Myrtha, die Königin der Wilis verliert ihre Bedeutung als Gegenspielerin, das Drama des zweiten Akts findet nicht statt, der zweite Akt verpufft fast wirkungslos als Bewegungsfolge ohne Leidenschaft.  Laut Programmheft: "Die Erscheinungen, die er im Mondlicht sieht, sind Bilder von Giselle, gefangen in der Erinnerung an ihre letzten Augenblicke. .... Er klammert sich an die reinen Gefühle, die durch die Erinnerung an sie hervorgerufen werden (Anmerkung: was für ein sentimental kitschiger Quatschsatz!) .... Er erlangt die Erkenntnis, daß nach dem Tod und dem Leid nur die Liebe von Bedeutung ist und für immer bleibt. Sein liebevolles Andenken an Giselle ermöglicht es Albrecht, seiner Traurigkeit zu entkommen, der Reue zu entfliehen und seine Trauer abzulegen." Ach ja, Happy End, Giselle ist Tod, ihr Pech, Albrecht entlastet sich gedanklich selbst. Wirklich dramatisch ist diese innere Egobespiegelung nicht. Die Transzendenz des zweiten Akts findet nicht statt.

Was ist zu sehen?
Die ganz in Beige gehaltene Bühne ist abstrakt und schlicht mit gebogenen und eckigen Bauelementen. Im zweiten Akt verwandelt sich die Bühne komplett: es steht ein großer abstrakter Vollmond über dem nun nachtschwarzen Geschehen. Die Kostüme des ersten Akts sind in Pastellfarben, viel beige, aber auch mint, hellblau und grau. Die adlige Gesellschaft des verliebten Grafen wird in geheimnisvolles Schwarz gekleidet. Die Tänzerinnen der Wilis im zweiten Akt sind angemessen weiß verschleiert.
Wer sich im Vorfeld fragte, wer denn wohl Giselle und Albrecht tanzen würden, der erlebte eine Überraschung: weder Lucia Solari noch Balkiya Zhanburchinova, weder Pablo Octávio noch Timoteo Mock. Die Premiere zeigte zwei Tänzer, die dem Karlsruher Publikum kaum bekannt sein dürften. Die Französin Sophie Martin als Giselle ist neu und erst seit dieser Spielzeit in der Karlsruher Compagnie. Der Spanier Joan Ivars Ribes ist seit zwei Jahren Tänzer in Karlsruhe, doch epidemiebedingt kaum aufgefallen. Insbesondere Ribers kann auftrumpfen, er ist das eigentliche Zentrum dieser Choreographie, ein Tänzer mit Ausstrahlung, kraftvoll und elegant im Ausdruck. Bravo! Sophie Martin leidet unter der flachen choreographischen Konzeption ihrer Figur. Wer sich an die ausdrucksstarke letzte Giselle erinnert, der wird von der weniger prägnanten bzw. charismatischen Anlage dieser Figur enttäuscht sein, doch das liegt an der Choreographie, nicht an der Tänzerin.
Es gibt zwar eine Myrta, doch sie hat keine dramaturgische Bedeutung. Gina Scott darf nicht mit starken Gesten in Erscheinung treten, die Szenen der Wilis können mit der letzten Giselle nicht konkurrieren.
Starke Momente hat Dawson bei der Festszene des 1. Akts und in der sehr schönen Schlußszene des zweiten Akts, die sich auf ein historisches Vorbild berufen kann. Ein Brief des Librettisten Théophile Gautier an Heinrich Heine "bot das technisch schwierige und weitgehend vergessene Bild – das Adolphe Adam in seinen unveröffentlichten Memoiren für sich beansprucht – von einer Giselle, die in die Erde versinkt, bedeckt mit Blumen, die ihr Tränen aus Tau weinen."

Was ist zu hören?
Die Partitur von Adolphe Adam wurde in den vergangenen beiden Jahrhunderten oft adaptiert, ergänzt und verändert. Arrangeur David Coleman versucht in seiner Neufassung, der ursprünglichen Partitur nahe zu kommen. Dies scheint hautsächlich eine Reduktion zu bedeuten, die verminderte dramatische Kraft scheint auch durch Kürzungen verursacht zu sein. Die Badische Staatskapelle unter Johannes Willig musiziert tadellos eine spannende Giselle, die sowohl filigran und zärtlich als auch freudvoll und tragisch das auslotet, was dem Tanz hier nur ansatzweise gelingt

Fazit: Die schwächste Choreographie seit langer, langer Zeit. Schade für die Tänzer, die diese flache Produktion bestens aufwerten, das enttäuschende Gesamtergebnis aber nicht retten können. Von der imposanten und umjubelten 2004er Giselle ist die neue Produktion dramatisch und atmosphärisch meilenweit entfernt.

PS:
Prominente Premierenbesucher: Birgit Keil und Vladimir Klos, Flavio Salamanka und Reginaldo Oliveira.

Besetzung und Team:
Giselle: Sophie Martin, 
Albrecht: Joan Ivars Ribes
Hilarion: Valentin Juteau
Bathilde: Bridgett Zehr
Myrtha: Gina Scott a. G.
Braut: Lucia Solari
Bräutigam: Pablo Octávio
Trauzeuge: João Miranda
Brautjungfern: Momoka Kikuchi, Carolina Martins, 

Freunde: Julian Botnarenko, Olgert Collaku, Nami lto, Momoka Kikuchi, Alba Nadal, Daniel Rittoles, Balkiya Zhanburchinova, Sara Zinna
Bathildes Begleiter: Tymofiy Bykovets, Timoteo Mock, Joshua Swain
Wilis: Natsuka Abe, Anastasiya Didenko, Nami lto, Momoka Kikuchi, Marjolaine Laurendeau, Carolina Martins, Alba Nadal, Kisa Nakashima, Lucia Solari, Carolin Steitz, Balkiya Zhanburchinova, Sara Zinna

Musik: Adolphe Adam
Musikalisches Arrangement: David Coleman
Musikalische Leitung: Johannes Willig

Choreografie, Konzept & Inszenierung: David Dawson
Bühne: Arne Walther
Kostüme: Yumiko Takeshima
Licht: Bert Dalhuysen
Einstudierung: Rebecca Gladstone, Alessandra Pasquali, Fabien Voranger