Sonntag, 18. April 2021

Der Feuervogel (Ballett als Livestream), 17.04.2021

Weiterhin bleiben die Theater geschlossen, aber seit dem 17.04. wird nun in Karlsruhe zurückgestreamt. Das Badische Staatsballett hat eine Ballettpremiere im Livestream kostenlos gezeigt, die Produktion soll nun 14 Tage kostenpflichtig zum Anschauen zur Verfügung stehen. Und auch wenn man am Bildschirm geringdimensionaler und beengter wahrnimmt, so lag der Reiz der gestrigen Live-Übertragung zumindest im Flair einer Aufführung ohne Netz und doppelten Konservenboden. Vieles gelang, tänzerisch, szenisch und musikalisch ist dieser Feuervogel reizvoll mit guten Momenten und man konnte glücklich feststellen, daß das Badische Staatstheater das Live-Erlebnis nicht verlernt hat.

Märchenballett Nr. 2
Der Ballettabend ist zweigeteilt. Zu Anfang steht der Prolog Verzaubert von Bridget Breiner, der "verzauberte Märchenfiguren von Schneewittchen über den Froschkönig lebendig werden läßt". Die Märchenfiguren bilden eine lose thematische Klammer, die Figuren und Märchen werden als Stimmung, nicht als Handlung, kombiniert, Schneewittchen trifft es besonders hart - sie muß mehrfach in den vergifteten Apfel beißen. Breiner knüpft an ihr wunderbares Ballett Ruß an (mehr hier). Wie bereits in diesem modernisierten Aschenputtel kombiniert die Karlsruher Ballettdirektorin in Verzaubert zwei unterschiedliche Klangwelten: Klaviermusik von Maurice Ravel mit Musik des Jazzkomponisten Jelly Roll Morton. Wie bereits in Ruß fällt Francesca Berruto als Schneewittchen besonders positiv in der homogen starken Gruppe der fünf Tänzer auf. Ein Prolog, der insbesondere Vorfreude auf ein Wiedersehen mit Ruß weckt.

Der Tanz bannt die Dämonen
Im Zentrum: der Feuervogel (L'oiseau de feu) in der Choreographie von Jeroen Verbruggen. Das von Impressario Sergej Djagilew für die Ballets Russes in Auftrag gegebene Handlungsballett machte den jungen Igor Strawinsky nach der Premiere 1910 in Paris schnell international bekannt, die Zusammenarbeit wurde mit Petruschka und Sacre de Printemps fortgeführt. Der Feuervogel kombiniert russische Folklore und Märchen. Prinz Iwan fängt im Garten des Zauberer Kastschej einen Vogel, der um Gnade bittet und ihm als Dank für seine Freilassung eine Zauberfeder gibt, mit der Iwan bei Gefahr den Feuervogel zur Unterstützung anfordern kann. Im Garten hält der Zauberer 13 Jungfrauen gefangen, Iwan verliebt sich dort in Prinzessin Zarewena. Dämonen bedrohen Iwan, der den Feuervogel zu Hilfe ruft. Dieser tanzt erst Zauberer und Dämonen in eine tiefe Bewußtlosigkeit und zeigt dann Iwan ein Ei, in dem Katschej seine Seele versteckt hat. Iwan zerstört das Ei und damit dessen Macht (das sind ein Jahrhundert später bei Harry Potter die Horkruxe Voldemorts). Lieto fine.

Für Karlsruhe verwendet der belgische Choreograph einen üblichen Kunstgriff: er verlegt die Handlung grob in die Zeit der Entstehungsgeschichte, und zwar in eine "Welt des Varietés und Nachtlebens, die in den „Goldenen Zwanzigern“ ihren Höhepunkt feierten". Die Figuren finden sich hinter einer Bühne wieder: der Zauberer wird zum Magier eines Varieté, die Prinzessin ist ein Tänzerin, der Feuervogel ist der Star des Clubs und Iwan ein Varieté-Besucher. Cabaret trifft also den Feuervogel. Doch diese angekündigte Profanierung des Magischen findet nicht statt, man sieht kein interessantes Handlungsballett, sondern eine Umsetzung zwischen Phantastik und Symbolik, die nicht recht gelingen will. Choreographisch überzeugt Verbruggen, sein Ballettstil hat starke Momente, als Geschichtenerzählung wirkt das Ballett hingegen dramaturgisch unausgereift. Die Macht des Magier scheint männliche Dominanz zu sein, nicht die Tänzerin des Feuervogels, sondern Iwan überwältigt ihn, eignet sich seine Macht an und übt sie ebenfalls aus. Doch das Ergebnis ist ein mißglückter Zwitter (die Prinzessin trägt ein halb weibliches und halb männliches Kostüm) und Iwan läßt buchstäblich die Hosen fallen und geht mit den letzten Tönen nackt ab. Das Ende des patriarchischen Zeitalters? Die musikalische pompöse Schlußszene verpufft in ungeschickt inszenierter Symbolik. Was genau denn dieser Feuervogel bedeuten soll, erschließt sich entweder nicht oder ist dramaturgisch ungeschickt erdacht. Es mag daran liegen, daß man über den Bildschirm nicht alles wahrnehmen kann und von der Kameraführung abhängig ist; Dazu kam, daß die Bühne oft ins Dunkel getaucht ist. Auf dem Bildschirm dominierte schwarz, vieles ist zu düster für einen Stream, manche Bewegungen und Wendungen konnte man nur erahnen und nur bedingt dem Geschehen folgen - letztendlich ein obskures Ballett für den Fernzuschauer.

Zu den positiven Aspekten: tolle Kostüme, eine passende Bühne (soweit erkennbar) und insbesondere die Tänzer überzeugen. Corona ist in vielerlei Hinsicht eine Katastrophe, für die Tänzer bedeutet es ein verlorenes Jahr in einer zeitlich begrenzten Karriere. Umso wichtiger, daß sie nun wieder tanzen können und auch wenn Bridget Breiner und ihre Kompagnie noch nicht richtig bei Publikum ankommen konnten und die Vertrautheit mit dem Publikum noch fehlt, so kann man doch auch nach der gestrigen Streaming-Vorstellung klar die Vorzüge der Kompagnie benennen: typenreich, qualitativ überzeugend und ausdrucksstark. Im Feuervogel tanzte sich Joshua Swain als Iwan in den Vordergrund - ein Tänzer, dessen Bewegungen eine starke, bühnenwirksame Individualität haben. Virusbedingt gab es keinen Pas de deux, Swains Duett mit Carolin Steitz als Prinzessin bezog seinen Reiz aus der nicht vollzogenen Annäherung eines Nebeneinander. Ebenfalls im Mittelpunkt: Paul Calderone, der gestern in beiden Choreographien den Zauberer tanzte, und Lucia Solari als Starlet-Feuervogel. Das Quartett und die Gruppentänzer überzeugten in einem gut choreographierten Wechsel von Solo- und Ensemblemomenten, dem letztendlich nur der rote dramaturgische Faden fehlte.

Was ist zu hören?
Man kann den Feuervogel als letzte Partitur der Rimsky-Korsakowschen Schule (bspw. der Scheherazade) bezeichnen: großes Orchester, vielfarbig instrumentiert, komplexen Rhythmen, wirkungs- und prachtvolle musikalische Momente - man hört es immer wieder gerne. Strawinsky erstellte drei Suiten (1911, 1919 und 1945) als konzertante Orchestermusik, doch als Gesamtballett ist das Erlebnis ergiebiger. In Corona-Zeiten paßt kein großes Orchester in den Graben, Dirigentin Yura Yang läßt eine extra erstellte Fassung (Arrangement: Tom Smith) für drei Klaviere, drei Schlagzeuger und eine Harfe musizieren, die das Klangbild verändern und weniger Rimsky-Korsakowsche Magie bieten. Doch die Instrumentierung unterstützt die symbolhafte Inszenierung, man kann gespannt sein, wie das große Orchester diese Choreographie ergänzen wird. Als Stream war die Vorstellung musikalisch spannend und hörenswert.

Fazit: Ein Lebenszeichen, das gut tut und die Freude auf die Rückkehr zur Normalität verstärkt. Ein großer, besonderer, bemerkenswerter und sich lang haltender Ballettabend jenseits der Virusepidemie ist der Feuervogel allerdings nicht geworden, doch wer weiß, vielleicht kann man sich in diesem Jahr noch live vor Ort vom Gegenteil überzeugen.

Besetzung und Team:
VERZAUBERT:
Schneewittchen: Francesca Berruto
Prinzessin mit der goldenen Kugel: Nami Ito
Froschkönig: Pablo Octávio
Jack: Valentin Juteau
Zauberer: Paul Calderone
Choreografie & Inszenierung: Bridget Breiner
Klavier: François Salignat, Angela Yoffe

FEUERVOGEL
Das Starlet: Lucia Solari
Iwan, ein Varieté-Gast: Joshua Swain
Magier: Paul Calderone
Chorus-Girl: Carolin Steitz
Chorus-Girls: Désirée Ballantyne, Anastasiya Didenko, Rita Duclos, Momoka Kikuchi, Balkiya Zhanburchinova
Varieté-Gäste: Olgert Collaku, João Miranda, Timoteo Mock, Daniel Rittoles, Louiz Rodrigues
Choreographie & Inszenierung: Jeroen Verbruggen (Feuervogel)
Dirigent: Yura Yang
Klavier: Irene-Cordelia Huberti, : Alison Luz, Alessandro Praticó
Pauke: Helge Daferner
Schlagzeug: Marco Dalbon, David Panzer
Harfe: Silke Wiesner

Bühne: Jürgen Kirner
Kostüme: Ines Alda
Licht: Christoph Häcker