George Crumb (*1929) komponierte Star Child (eine Parabel für Sopran, antiphonale Kinderstimmen, Männer-Sprechchor, Glockenspieler sowie großes Orchester) 1977. Die lateinischen Texte sind aus biblischer und mittelalterlich-christlicher Quelle und als Reise aus dem Dunkel ins Licht kombiniert. Nach der langsam-leisen Introduktion klagt eine Stimme in der Wildnis und bittet Gott in Todesangst um Erlösung (Vox Clamans In Deserto - Die Stimme des Rufers in der Wüste), Sopran und Solo-Posaune stehen im Zentrum. Dann erfolgt der Aufstieg der Mächte der Finsternis (u.a. mit rasselnden Metallketten), der zentrale dritte Satz ist eine Musica Apocalyptica, die sich mit verdichtetem Klang, wildem Schlagzeug, Blechbläsern und lautem Männerchor wie ein Dies Irae anfühlt. In den folgenden Sieben Trompeten der Apokalypse wird das jüngste Gericht angekündigt. Dann wird es lichter, am Ende steht nach der Ankunft der Kinder des Lichts die Hoffnung auf das göttliche Licht in Form eines Hymnus auf das neue Zeitalter, der mit Kinderchor, Oboen, Orgel und Glocken charakterisiert wird.
So viele zeitgenössische klassische Musik wird vernachlässigt und nicht gespielt. Crumbs Star Child steht als "stellares" Genre nicht singulär, thematisch verwandt könnte man u.a. György Ligetis Lux Aeterna, Pendereckis Kosmogonia, Wolfgang Rihms Astralis oder Thomas Adès' Polaris nennen. Die Uraufführung von Star Child spielten die New Yorker Philharmonikern mit Dirigent Pierre Boulez und Crumb gewann einen Grammy dafür. Das von Raphael Rösler hochinformativ und lesenswert verfaßte Programmheft erläutert dazu: "Die Orchesterbesetzung mit vierfachen Holzbläsern, sechs Hörner, sieben Trompeten, drei Posaunen und Tuba sowie acht Schlagzeugern, Orgel und Streichern ist nicht nur für Crumb außergewöhnlich groß. Hinzu kommt ein einzigartiger Orchesteraufbau, der der Partitur – neben zahlreichen anderen Hinweisen zur Aufführung – in Form einer Skizze vorangestellt ist. Die Streicher sind ausnahmsweise ganz hinten platziert und spielen zur Seite, davor sitzen die Holzbläser und das Blech und ganz vorne die Sängerin und die Solo-Posaune, flankiert von Kinder- und Männerchor sowie zwei Schlagzeugern. Darüber hinaus platziert Crumb mehrere Musiker im Zuschauerraum: So sind fünf der sieben Trompeten um das Publikum verteilt – die zwei übrigen sitzen auf dem Orchesterpodium –, und hinter den Zuhörern spielt ein unsichtbares Fernensemble, bestehend aus drei Solo-Violinen und Vibraphon. Der komplexe Orchesterapparat wird von vier Dirigenten geleitet: der erste dirigiert die Bläser und sechs Schlagzeuger, der zweite die Streicher [das entfällt in Karlsruhe, für das Streichorchester war kein Platz mehr, die Musik kommt vom Band. Man sah als nur drei Dirigenten] und die zwei übrigen Schlagzeuger; der dritte und vierte Dirigent kommen nur im letzten Satz „Hymn for the New Age“ zum Einsatz, in dem die Bläser in unabhängige Untergruppen aufgeteilt sind. Ein Grund dafür, vier Dirigenten einzusetzen, liegt für Crumb in der Vorstellung und dem Wunsch, daß die unterschiedlichen musikalischen Ebenen „ihr eigenes Tempo und ihren eigenen Takt“ haben sollen. Ein weiterer Grund liegt in dem bereits angesprochenen theatralen Charakter der Aufführung, den Crumb betonen möchte."
Spektakulär ist der Anspruch und der visuelle Eindruck, doch nicht das Hörerlebnis. Aus heutiger Sicht scheint Star Child ein Werk ohne Melodien zu sein, es dominieren Klangflächen und rhythmische Passagen, die Annäherung zu Beginn und das Entfernen am Ende sind leise er- bzw. verklingende Passagen, die dramatische und emotionale Kraft des Stücks ist überschaubar - ein öder Beginn, ein lärmendes visuelles Mittelstück und ein fahles Ende, denn der Hymnus auf das neue Zeitalter hat keine Wirkung - viel Aufwand für wenig Ergebnis, und das lag nicht an der hochkonzentrierten Interpretation durch alle Beteiligten, sondern an der musikdramaturgischen Schwäche dieses läßlichen Werks. Dominic Limburg dirigierte die Badische Staatskapelle, den Staatsopernchor, den Cantus Juvenum Karlsruhe e. V. Kinderchor und den Handglockenchor Karlsruhe und kam mit den Massen souverän zurecht, als Sopran sang Christina Niessen ausdrucksstark.
Verdoppelte Vergänglichkeit
Von 1977 bis 1996 war Germinal Casado (*1934 †2016) Karlsruher Ballettdirektor, danach wurden nun über 20 Jahre keine seiner Choreographien mehr am Badischen Staatstheater getanzt. Er choreographierte 1983 Carl Orffs (*1885 †1982) Carmina Burana (UA1937). Nach Casados Tod machte sein Lebenspartner Giulio Ragnoli Birgit Keil dieses Werk zum Geschenk. Daß es nun wieder choreographiert und mit großem Aufwand auf die Bühne kommt, ist eine schöne Geste, daß die ursprünglich angesetzten elf Vorstellungen bereits alle frühzeitig quasi ausverkauft waren, zeugt von der Zugkraft der Namen Orff, Casado und Birgit Keils Ballettkompagnie.
Programmheft des Badischen Staatstheaters 1983. Vor Carmina Burana wurde damals Poulencs Gloria getanzt. |
Pierre Tavernier -einst unter Casado Solist in Karlsruhe- studierte die Carmina Burana neu ein. Wer, wie der Autor dieser Zeilen, Casado erlebt hat, quasi Ballett vorrangig durch ihn kennenlernte und kannte, der wird ein Déjà-vu erleben, Bewegungen und Ausdruck - typisch Casado, ein wehmütiges Glück, ein Erinnern an eine Ära, die vorbei ist und nun noch mal neu zurückkehrt und doch auch Zweifel hinterläßt. Casados Choreographie funktioniert nicht mehr durchgängig, sie ist nicht gut gealtert, manches wirkt heute irgendwie einfältig oder naiv. Man merkt, daß Casado Tänzer und Schüler beim großen Maurice Béjart war (hier findet sich bei youtube Béjarts berühmte Choreographie zu Ravels Bolero mit Maya Plisetskaya), in Carmina Burana findet man Stilelemente wieder: der Einsatz von Händen und Armen, starke Posen und große Gesten, Tanz oft tief unten im Plié. Dieser Stil ist nicht androgyn, sondern ausgesprochen maskulin und feminin - der männlichste Mann begehrt die weiblichste Frau. Carmina Burana ist handfest und lebenszugewandt, ein mittelalterliches Sex & Drugs & Rock'n'Roll mit Trinkliedern (manche würden eher Saufgesänge sagen) und pralles Liebeslob. Bei der gestrigen Aufführung fehlte es teilweise an femininer Sinnlichkeit und zu stark an herber Männlichkeit - es tanzten zu oft Jungs, nicht Männer. Alle erste Solisten waren im Einsatz, vor allem Blythe Newman und Admill Kuyler gelang das körperliche Zusammentanzen, Moeka Katsuki und Pablo Octavio paßten zum zärtlichen Frühlingsflirt, Andrey Shatalin hat ebenfalls die Statur für Casados Konzept, Zhi Le Xu hatte das stärkste Solo zu Estuans interius. Bruna Andrade als Fortuna hatte den Beginn und das Ende für sich.
Der Anfangs- und Schlußchor von Carl Orffs Carmina Burana ist in seiner fast schon gewaltvollen, unterwerfenden Unerbittlichkeit genial. Das Rad des Schicksals als Symbol menschlicher Geworfenheit und Schicksalsabhängigkeit wird hier zu bleibenden Hymne, deren archaische Theatralik quasi universal ist und gar nicht zum christlichen Mittelalter zu passen scheint. Die Popularität der vertonten lateinischen Lieder nach Texten einer mittelalterlichen Handschrift, die man im Kloster Benediktbeuern fand, hat zwei Gründe: das Sujet und die Eingänglichkeit, mit der dies anschaulich wird und die den Schicksalschor kompatibel für TV, Werbung und Sportveranstaltungen macht. Man besingt nicht die Gnade, sondern das Glück: O Fortuna imperatrix mundi - eine Theatralik der menschlichen Ungleichheit.
(Kurze Abschweifung: und was ist der so oft auf unsäglich oberflächliche Weise viel gescholtene "Kapitalismus" anderes, als das Fortuna korrigierende Angebot an die sich defizitär fühlenden, sich Gleichheit zu erwerben oder an die von Fortuna profitierenden, sich Ungleichheit bspw. in Form von extrovertierter Individualität zu leisten). Ungleichheit und Schicksal manifestieren sich heute wieder populär, bspw. in Casting-Shows. Heidi Klums seit Jahren erfolgreich laufende TV-Soap-Show Germanys next Topmodell bietet ein durchlässiges Kastenwesen, das genetisches Glück mit Talent und Fleiß im Sinne einer asiatisch wirkenden strengen Meister-Schüler Beziehung kombiniert. Meister ist, wer dort angekommen ist, wohin sein Schüler folgen möchte. Wer das hinterfragt, soll sich einen anderen Meister bzw. einen anderen Weg wählen).
Dirigent Daniele Squeo, der schon Strawinskys Sacre du Printemps großmeisterlich dirigierte, gestaltete die Carmina Burana aufregend perkussiv und rhythmisch. Leider war die Akustik nicht optimal, Orchester und Dirigent sind hinter der Bühne positioniert, dem Klang fehlt die Unmittelbarkeit. Der durchsichtige Bühnenvorhang mit dem symbolischen Rad kam gar nicht erst zum Einsatz (man sieht ihn auf den Probenfotos), wahrscheinlich hätte er den Schall zu stark gedämmt. Man hätte die Carmina Burana im Rahmen des Symphoniekonzerts besser ohne das Ballett als reines Konzerterlebnis aufgeführt, als Konzertgänger kommt man nicht uneingeschränkt auf seine Kosten. Das ist schade, denn die Aufführung war großartig. Der Bariton hat viel zu singen, zum Glück hat man mit Armin Kolarczyk eine perfekte Besetzung, der die unterschiedlichen Stimmungen anschaulich vermittelt, ob nun bei Omnia sol temperat, Estuans interius, Ego sum abbas, Dies nox et omnia (Kolarczyk gelingen die hohen Töne bewunderungswürdig gut) oder Circa mea pectora - BRAVO! Agnieszka Tomaszewska singt mit einschmeichelnd schöner Stimme das kurze Stetit puella und mit Kolarzyk das Duett Tempus est iocundu. Eleazar Rodriguez glänzt mit dem Gesang des gebratenen Schwans Olim lacus coluerum. Ulrich Wagner hat den Badischen Staatsopernchor, Extrachor und Kinderchor für dieses Konzert wie üblich erstklassig einstudiert, der lange Männerchor In taberna quando sumus gelang mitreißend.
Der durchsichtige Vorhang war am Freitag bei der Premiere bis zum Schlussapplaus abgesenkt und es gab entsprechend schöne Bilder, in denen die Tänzer und/oder das Licht das dortige (halbe) Rad komplettierten.
AntwortenLöschenÜber die Gründe kann ich nur spekulieren, ich saß weit oben im Haus und hatte trotzdem das Gefühl von "Unmittelbarkeit". Ich kann mir allerdings keinen anderen Grund als die Akustik vorstellen, den Vorhang doch nicht zu verwenden, wenn er nicht bei der Premiere kaputt gegangen sein sollte...
Vielen lieben Dank für die Info! Ich denke, es gab akustische Gründe, denn Armin Kolarczyk lief immer erst mal 2 Meter nach vorne in die Tanzfläche hinein, um in den geschlossenen Bühnenraum statt in den Bühnenbildschacht zu singen. Das kann damit zusammenhängen, daß es offiziell ein Symphoniekonzert war, bei den folgenden Ballettvorstellungen wird der Vorhang evtl. wieder Musiker und Sänger von den Tänzern trennen, um den Fokus auf die Tanzfläche zu lenken.
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