Da ist sie endlich wieder, Pavel Fiebers zeitlose und publikumsfreundliche Inszenierung aus dem Jahr 2001, die man klugerweise noch nicht entsorgt hat (und hoffentlich noch einige Zeit behält!). Sie erlebte über die Jahre Höhen und Tiefen, die von den wechselnden Besetzungen der Sänger und des Dirigenten abhängig waren. Die gestrige Wiederaufnahme war durch zahlreiche Rollendebüts auf der Bühne geprägt und sprühte vor Spielfreude und Begeisterung.
Das Bühnenbild von Christian Floeren und die Kostüme von Götz-Lanzelot Fischer funktionieren immer noch hervorragend. In morbidem Rokoko-Ambiente als Sinnbild für eine müde gewordene Epoche bewegt sich die Feudalklasse. Adlige Figuren mit weißen Perücken und weiß geschminkter Haut haben das Alter zum Schönheitsideal erhoben. Sie haben sich überlebt, der Putz blättert von den Wänden, die französische Revolution von 1789 wird ihnen den Kopf kosten. Doch bis dahin lebten sie wie im Paradies, "Nie war es herrlicher zu leben" heißt das Tagebuch des Herzogs von Croÿ (*1718 †1784), das vor einigen Jahren im Verlag C. H. Beck erstübersetzt erschien und so geht es in der Inszenierung des früheren Karlsruher Intendanten Pavel Fieber frivol in den Untergang. Mozarts geniales Epochenbild wird hier anschaulich erlebbar. Fieber -er sah sich gestern die Vorstellung aus der Intendantenloge an- hat für die Neuaufnahme minimale Anpassungen vorgenommen, es gibt neue Details, auf andere wird verzichtet (bspw. auf den abgebrochenen Schuhabsatz im 2. Akt), inzwischen wollen sich fast alle mal im Wäschekorb verstecken - das Tempo stimmte.
Überragend war gestern die Freude und das Engagement aller Beteiligten. Sänger und Musiker waren hochmotiviert bei der Sache. Viele Sänger gaben ihr Rollendebüt: Uliana Alexyuk als Susanna zeigte erneut, wie intelligent sie Text und Stimmungen vermitteln kann. Wie sie Ausdruck in ihre Szenen legte und Nuancen betonte, das hatte schon große Klasse - sie sang uns spielte ihre Rolle in Bestform. Morgan Pearse war bereits bei den Händel Festspielen als fieser Valens im Oratorium Theodora aufgefallen, als vorbildlicher Figaro fügte er sich nahtlos ein, souverän mit schöner Stimme. Als Contessa d'Almaviva überzeugte Agnieszka Tomaszewska, ihr gelang das Seelenvolle, sie zeigte tatsächlich als Gräfin Größe.
Armin Kolarczyk ist als Conte d'Almaviva ein Routinier, als Darsteller ist er stets souverän, stimmlich ist er in hervorragender Form - auch sein Auftritt war sängerisch und darstellerisch mustergültig. Er ist als Sänger in den besten Jahren - es wird Zeit, daß man das am Karlsruher Staatstheater noch stärker nützt und mehr Opern mit Rollen für ihn auf die Bühne bringt. Daß sein Liederabend in Konkurrenz zu den Händel Festspielen lag, kann man als Fehlplanung des Staatstheaters bezeichnen.
Für Cherubino hat man in Karlsruhe mit Kristina Stanek und Dilara Baştar zwei spannende Alternativen, Stanek setzte den Maßstab gestern sehr sehr hoch. Wann hört man die Arie des Cherubino im 1. Akt so von gärender Sinnlichkeit vibrierend wie gestern bei ihr? In „Non so più cosa son, cosa faccio“ weiß Cherubino nicht, wo ihm der Kopf steht. Stanek sang das so verführerisch, so sexy (ein passenderes Wort fällt dem Verfasser dieser Zeilen nicht ein), daß es manchem im Publikum heiß und kalt den Rücken herunter gelaufen sein dürfte. In der Inszenierung ist Cherubino als großes Kind angelegt, Kristina Stanek erotisierte stimmlich ihre Rolle in einem Maße, daß die darstellerische Absicht des Regisseurs fast ausgehebelt erschien. „Voi che sapete che cosa è amor“ im zweiten Akt kontrastierte in schwärmerischer Durchtriebenheit. Ein ganz großer Auftritt der Mezzosopranistin.
Große Spielfreude gab es auch bei den kleineren Rollen, die luxuriös besetzt waren: Christina Niessen als Marcellina, Yang Xu als Dottor Bartolo, Klaus Schneider als Don Basilio, Cameron Becker als Don Curzio und Ilkin Alpay als Barberina.
Und dann war da noch Dirigent Johannes Willig. Wer ihm beim Dirigieren zusah, bekam unmittelbar den Eindruck, daß es hier um eine Herzensangelegenheit ging. Willig modellierte den Klang mit viel Körpereinsatz, er formte buchstäblich mit den Händen, teilweise hatte es etwas Tänzerisches und Elegantes, wie er das Orchester leitete. Es wurde schlank musiziert, anfänglich gelegentlich zu schlank und sängerfreundlich, die Musik begleitete und blieb manchmal im Hintergrund. Doch im Verlauf der Vorstellung durfte dann die Badische Staatskapelle auch mal etwas pastoser akzentuieren und blieb stets kantabel im Klang und flexibel in der Vorwärtsbewegung
Fazit: BRAVOOO! an alle! Wem gestern bei der Hochzeit des Figaro nicht das Herz aufging, der kann nur seine eigene Stimmung bzw. Verstocktheit verantwortlich machen. Die gestrige Aufführung war famos.
PS: bei dieser Inszenierung und Besetzung lohnt es sich, nicht nur zuzuhören, sondern auch weit vorne zu sitzen und zuzusehen.