Donnerstag, 19. Mai 2016

Vitouch - Planet Walden, 18.05.2016

Zwischen Entfremdung und Eskapismus
Bei Planet Walden geht es um die Utopie des Aussteigens, der Zivilisation den Rücken zu kehren, alles hinter sich lassen, eine vermeintlich neue Chance zur Eigentlichkeit, es geht um den "Traum vom wahren Leben in der Natur als Gegenentwurf zur gesellschaftlichen Teilhabe" - ein Spezialfall des Wunsches, als Tourist durchs Leben zu gehen, als Auswanderer in exotischer Umgebung sich selber und/oder äußerlichen Zwängen zu entfliehen. Wieso steigt man aus? Wie steigt man aus? Welche Erfahrung macht man beim Aussteigen? In Karlsruhe wird anhand eines Extrembeispiels gezeigt, daß man Wittgensteins berühmten Satz "Die Welt ist alles, was der Fall ist." präzisieren kann: Die Welt ist alles, worin man in der Falle ist.
          
Worum geht es (1)?
Der amerikanische Autor Henry David Thoreau (*1817 †1862) lebte 1845/46 zurückgezogen in einfachsten Verhältnissen zwei Jahre am Walden-See in Massachusetts und schrieb darüber ein Buch (Walden; or, Life in the Woods / Walden oder Leben in den Wäldern), das als Grundlage für einen knapp 75minütigen Monolog des Karlsruher Schauspiels diente, der u.a. ergänzt wird durch die wahre Geschichte eines zeitgenössischen Aussteigers, dessen Leichnam man 1992 nach 113 Tagen in der Wildnis verhungert in Alaska fand und dessen Geschichte Hollywood 2007 in Into the wild verfilmte.
Das Programmheft erläutert: "Ein junger Mann allein draußen in der Wildnis. Nur mit dem Nötigsten ausgerüstet, hat er der Zivilisation den Rücken gekehrt. .... er ist auf der Suche nach mehr. In der direkten Auseinandersetzung mit den Naturgewalten, mit Schnee, Regen, sengender Sonne und reißenden Strömen sucht er die Grenzerfahrung, sich selbst, das Wahre, Gute, Schöne, den Kern des Daseins oder wie Henry David Thoreau, Autor des Buches Walden oder Leben in den Wäldern es beschrieb: 'Ich wollte tief leben, alles Mark des Lebens aussaugen, so hart und spartanisch leben, daß alles, was nicht Leben war, in die Flucht geschlagen wurde'
  
Was ist zu beachten?
Anderswo ist das Gras grüner, der Geschmack reiner, die Luft klarer, das Leben wahrer - nur wo und warum? Gibt es alternative Lebensformen, die das Leben authentischer werden lassen? Gesellschaftsreformer haben (wie es der italienische Philosoph Giorgio Agamben formulierte) "ausschließlich juristische (die Menschenrechte) und ökonomische (die Arbeitskraft, die Produktion) Abstraktionen im Blick gehabt und sich nie der Lebensformen angenommen. Es überrascht deshalb nicht, daß sie dem Kapitalismus .... in allen Belangen unterlegen ist." Wer eine andere Lebensform sucht, dem bleiben meist nur schwer zu gehende Sonderwege und theoretische Kopfgeburten mittels Verzicht und Askese, Abkehr, Zynismus und Haltungen des schweren Dagegen, die der Alternative des leichten Dafür (Genuß, Freude, Entlastung - der Konsumismus ist tatsächlich ein Humanismus) unterlegen sind. Wie und wo kann man also sein Leben intensivieren, das Eigentliche im Individuellen finden, im Einklang leben mit sich und seiner Umwelt? Störungen eliminieren und das Unbekömmliche meiden ist von jeher ein guter Ratschlag gewesen - Verzicht erscheint deshalb einigen naheliegend, Wohlstand, Luxus und Kultur erscheinen manchem in dieser Logik als Uneigentlichkeiten der Persönlichkeit. Bedürfnislosigkeit (für manche ist damit auch Armut gemeint) und Verzicht wirken dann als anti-moderne Eigentlichkeit - ein seelisches und körperliches Detox: reinigt, entgiftet und entschlackt, so die fehlgeleitete Vermutung. Es entartet dann doch regelmäßig zu einem Miserabilismus: der Mensch sei erst dann ganz Mensch, wenn er reduziert ist, wenn er verzichtet, wenn er nein sagt. Deswegen will man in einem Zuwenig, einem Mangel zu Hause zu sein. Also Ballast abwerfen! Wesentliches von Unwesentlichen durch Verzicht und Eliminierung unterscheiden lernen. "Analog ist das neue Bio" heißt aktuell ein Sachbuch über das zur Moderne dazugehörende Unbehagen in der Kultur.
In Einzelfällen bedeutet das in letzter Konsequenz ein eigenbrötlerisches bzw. einsames Leben, bei dem man sich auch sozialen Verpflichtungen und gesellschaftlichen Zwängen entzieht und sich anderen Menschen entfremdet - ein Leben ohne soziale Lasten, frei sein in der radikalsten Bedeutung: alleine, ohne Zuspruch, ohne Unterstützung, ohne Abhängigkeiten, kein Kümmern, keine Verantwortung, einsam (asozial in der ursprünglichen Bedeutung, unsozial könnte ein Antrieb sein).
Manch einer will gerne glauben, daß sich hinter Anti-Modernismus Gesellschaftskritik verbergen könnte, doch tatsächliche ist es nur Psychologie, individuelle Gestimmtheit, nichts anderes. Von Johann Gottlieb Fichte stammt der passende Satz „Was für eine Philosophie man wähle, hängt sonach davon ab, was man für ein Mensch ist: denn ein philosophisches System ist nicht ein toter Hausrat, den man ablegen oder annehmen könnte, wie es uns beliebte, sondern es ist beseelt durch die Seele des Menschen, der es hat.“

Was ist zu sehen? 
oder

Ein Stück gegen ein Buch
Der aus Wien stammende Autor Anatol Vitouch beschäftigt sich mit dem Thema "Aussteigen" und dem Traum einer vermeintlichen "Rückkehr" zu einem authentischen Leben jenseits von Wohlstand und Technik, oder wie es das Badische Staatstheater formulierte: "Zurück zur Natur, die uns fordert mit Körper und Seele, in der die Erfahrungen direkt sind und nicht überdeckt von zivilisatorischem Müll. Die Sehnsucht, den Ballast der Zivilisation hinter sich zu lassen, ganz und gar frei zu sein. ...Doch können wir tatsächlich alles abschütteln? Wie weit sind wir geprägt von unserer Umwelt, dem kulturellen Umfeld, in dem wir aufwachsen und leben? Nehmen wir unser Raumschiff Enterprise nicht immer mit in die Wildnis Alaskas?"
Verdrehte Welt – das Publikum sitzt auf der Bühne, die der Aussteiger-Schauspieler verlassen hat. Die früheren Zuschauerränge sind mit weißem Laken abgedeckt, auf denen u.a. ein Film über die idyllische Rückkehr zur Natur projiziert wird, doch das Bild ist verzerrt, die Einbildung von Ursprünglichkeit ist die wahre Projektion, denn ein Neubeginn auf den leeren Tafeln der Ignoranz ist nicht möglich, das Vorangegangene nicht mehr mitdenken zu müssen, ist eine Verzerrung. Weiterhin gibt es einen roten Mini-Fiat, einen ausgestopften Dachs, verschiedene Gegenstände. Planet Walden konzentriert sich ganz auf die Hauptfigur, die eine Entwicklung durchmacht: von der gedehnten Zeit in der Einsamkeit zu Beginn über ein heiteres Intermezzo mit Captain Kirk (die schwächste Szene des Stücks, die sich wahrscheinlich nur Star Trek Fans erschließt), gefolgt von Selbsterklärungsversuchen, Skepsis, Selbstrechtfertigungen, Vorwürfe ans Publikum bis zur Selbsterkenntnis des Scheiterns. Am Schluß zeigt eine Projektion erneut Freiheitsgesten, doch nun nicht mehr im Wald, sondern auf dem Dach des Badischen Staatstheaters. Aussteigen ist auch keine Option, der Autor hat ein Stück gegen das Buch geschrieben.                    
                     
Was ist zu sehen (2)?
Als Schauspieler einen abendtragenden Monolog zu bekommen, ist eine Auszeichnung und Maximilian Grünewald hat sie verdient. Er zeigte 2014/15 eine starke erste Spielzeit, es wird Zeit für größere Rollen - leider nicht in Karlsruhe, das nur Station für ein zweijähriges Intermezzo war - Grünewald gehört in der kommenden Saison leider nicht mehr zum Karlsruher Ensemble. Grünewald trägt die Vorstellung durch eine lineare Entwicklung über verschiedene Seelenzustände und durch starke körperliche Präsenz (eine gewisse Grund-Fitness fordert ihm diese Inszenierung ab) und hohe Selbstverständlichkeit - Grünewald gelingt es mit Bravour, die Spannung hochzuhalten. Seine Grenzerfahrung in lebensbedrohlicher Urwüchsigkeit beginnt heiter, er zeigt Pioniergeist, er will das Chaos in sich bekämpfen, indem er Unkraut rodet, Land besiedelt und sich nur noch ums Überleben bemüht. Doch langsam sickert bei Grünewald das Hineingeratensein durch, in der Wildnis ist er zwar nicht mehr umzingelt von Verhältnissen, sein Dasein ist dennoch eingekreist von Erfordernissen des Überlebens und sozialer Isolation. Er stellt Weltflucht und weltabgewandtes Leben als Abenteuer und psychologische Erfordernis ohne Lifestyle-Zwänge dar. Doch das ist keine Seinsweise der Weltlosigkeit: seine zivilisatorischen Erfahrungen begleiten ihn, Captain Kirk ist gedanklich gegenwärtig, die letzte Zigarette versetzt ihn in Euphorie. Grünewald zeigt sich dabei als Meister der feinen Übergänge, die Stimmung kippt erst unmerklich bis zum desillusionierten Ende: die eine Lebenslüge wurde durch eine andere ersetzt, das rhythmusgestörte Leben, die existentielle Dissonanz zwischen wirklichem und wahrem Leben bleibt bestehen, nur daß er nun auf sich selbst zurück geworfen ist, ohne spiegelndes soziales Korrektiv, ein Sonderling, der sich in sich selbst verirrt hat.
                    
Fazit: Monologe leben von zwei Dingen - einem sehr guten Schauspieler und einem Publikum, das sich auf das Spiel eines einzelnen Schauspieler  konzentriert einlassen kann und die fehlende Handlung nicht vermißt. Das Erstere ist gegeben, und ein aufmerksames Publikum hat diese Produktion definitiv verdient.

Team und Besetzung:
Schauspieler: Maximilian Grünewald

Regie: Felicitas Braun
Bühne & Kostüme: Timo von Kriegstein

2 Kommentare:

  1. Guten Tag,
    ein Jahrhundert Lohengrin bei Sempers:

    http://www.merkur.de/kultur/anna-netrebkos-debuet-dresden-schwahnsinn-6418881.html

    schönes Wochenende

    Klaus

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