Bereits im 1. Akt konnte man gestern die ersten gähnenden Zuschauer beobachten, obwohl man viele Mitarbeiter des Staatstheaters im Publikum hatte, verebbte der Schlußapplaus nach weniger als vier Minuten. Die Karlsruher Neuinszenierung von Ibsens Enthüllungsthriller und Familientragödie Gespenster leidet darunter, daß die Enthüllungsdramatik in dieser Inszenierung
keine Spannung erhält, daß die Figuren zu wenig Konturen bekommen. Lakonisch, leidenschaftslos und spannungsarm, weder die Dramatik noch die Komik auslotend, sprachlich unaufregend, szenisch und darstellerisch lauwarm mißlang die Premiere zu einer betulichen und läßlichen Angelegenheit bei der man sich mal wieder die Frage stellt, wieso man Stücke bringt, für die man weder inhaltlich noch szenisch Triftigkeit belegen kann.
Worum geht es (1) - Vorgeschichte
Helene Alving ist das Zentrum, die traurige Heldin, die das Publikum kennen und verstehen lernt. Das hübsche und mittellose Mädchen heiratete nicht aus Liebe (sie wollte den armen Pastor Manders), sondern auf Anraten ihrer Mutter und Tanten eine gute Partie, den wohlhabenden Leutnant Alving, der zur hochdotierten Position eines Kammerherrn aufsteigen sollte. Alving erwies sich als Lebemann und Ehebrecher. Ob er seiner Frau oder seine Frau ihm das Leben zur Qual machte, erweist sich im Verlauf des Stücks als offen. Die schwangere Helene flüchtete sich zum Pastor, der sie an ihre Pflichten erinnerte und zurückschickte. Sie brachte Alvings Sohn Osvald zur Welt und verbarg ihre Perspektivlosigkeit hinter einer Fassade aus Selbstverleugnung und Lügen: sie förderte Alvings Karriere und den äußeren Ruhm ihres Gatten, indem sie selber geschäftstüchtig den Wohlstand der Familie mehrte, sie spielte für ihren geliebten Sohn und die anderen heile Welt, erzog Osvald in Respekt vor dem Vater und schickte in bereits mit sieben Jahren ins Internat, sie nahm Alvings mit ihrem Dienstmädchen gezeugte uneheliche Tochter Regine als Bedienstete in ihr Haus auf ohne ihre Herkunft preiszugeben. Alving starb nach 20 Jahren Ehe, Helene faßte den wohltätigen Entschluß, ihm zu Ehren ein Kinderheim einzurichten.
Worum geht es (2)? - Handlung
Das 5-Personen-Enthüllungsdrama beginnt am Tag vor der Einweihung von "Kammerherr Alvings Aysl" und kuliminiert am nächsten Morgen. Regines vermeintlicher Vater, der verwitwete Tischler Engstrand, ein verschlagener und hinterlistiger Grobian und Säufer, besorgt letzte Bauarbeiten, Pastor Manders kommt zur Einweihung, Sohn Osvald, der zwei Jahre in Paris als Künstler lebte, ist ebenfalls eingetroffen, Helene und Regine bereiten die Einweihung vor.
Gespenster als Schatten und Normen der Vergangenheit kommen hervor und werden den noch lebenden Gespenstern offenbar. Im 1. Akt erfährt Pastor Manders, was er Helene angetan hat, welcher Unmensch Kammerherr Alving in den Augen Helenes war und daß Regine Osvalds Halbschwester ist. Im 2. Akt erfährt Helene, daß ihr Sohn Osvald an einer mysteriösen Krankheit leidet, die Ibsen symbolisch als namenlose Krankheit durch des Vaters
genußfreudigen Lebensstil über den "wurmstichigen" Sohn kommen läßt, eine Art Erb-Syphilis.
Noch ahnt Osvald nichts davon und glaubt, er selber wäre die Ursache
seines Leidens. Im Kinderheim bricht Feuer aus. Im 3. Akt erfährt man, daß der Brand alles zerstört hat. Osvald wünscht, daß Regine bei ihm bleibt und ihn pflegt, Helene offenbart, daß sie Bruder und Schwester sind. Regine, die nur auf das Vermögen durch eine Beziehung zu Osvald spekulierte, verlässt die Alvings, am Menschen bzw. Bruder Osvald hat sie kein Interesse. Dieser offenbart seiner Mutter, wie schlimm es wirklich um ihm steht: seine Zerrüttung in Form einer Gehirnerweichung wird ihn ohne höhere Gehirnfunktion als Vollzeitpflegebedürftigen vor sich hin vegetieren lassen. Verzweifelt bittet er seine Mutter, ihn mit Morphium zu töten, sobald seine Krankheit ihm sein Bewußtsein nimmt. Als morgens die Sonne durchbricht, ist alles offenbart und Osvald verliert den Verstand mit dem Wort "Sonne".
Was ist zu beachten?
Ibsens Gespenster ist eine Tragödie, die sich in mancher Hinsicht nicht
inhaltlich aktualisieren läßt, sowohl die provinzielle Enge und Borniertheit als auch die Moralvorstellungen des 19. Jahrhunderts sind kein
Thema mehr. Die äußerlichen Zwänge sind überholt, aktuell sind aber die inneren Konflikte der Figuren, ihr Verhalten und ihre Lebenslügen, ihr teilweise selbst induziertes Unglück, das sie nicht korrigieren können und das gnadenlose
Schicksal in Form von Krankheit und Tod. Die Herausforderung liegt im Spannungsbogen und der psychologisch schlüssigen Erzählweise!
Pastor Manders Ansichten bspw. zur wilden Ehe oder zur Rolle der Frau sind in Mitteleuropa heute bedeutungslos (er sagt bspw. zu Helene Alving: "Aber
eine Frau ist nicht zum Richter über ihren Mann bestimmt. Deine Pflicht
wäre es gewesen, in Demut das Kreuz zu tragen, das dir ein höherer Wille zugedacht hatte."),
seine Haltung macht ihn aber zur zeitgenössischsten
Figur des Stücks, das Ebenbild des politisch korrekten Gutmenschen,
durchdrungen von der eigenen Überlegenheit, stets bereits "Schandflecke" zu "entlarven", ein spießiger Sonntagsredner
in der Pose des belehrenden Moralpredigers und leichtgläubigen Realitätsverweigerers,
der Denk- und Diskussionsverbote verhängt, um sein selbstgefälliges Mainstream-Heileweltbild zu bewahren - ein Sich-selbst-Gutlügner, der das politisch korrekte Gute will
und doch nur das Böse fördert: er fällt auf den manipulierenden Betrüger Engstrand
hereinfällt, der stets nur seinen Vorteil will - auch er ist als Figur zeitlos. Seine Tochter Regine ist berechnend und wie ihr Ziehvater nur auf ihren Vorteil zielend.
Eine Hauptfigur des Stücks ist tot und relativ frei interpretierbar. Wer war Kammerherr Alving? Ein lebensfroher Leutnant, der sein Leben genoß und es zu nehmen wußte oder ein rücksichtsloser Hedonist und Egozentriker oder sogar ein brutaler Sadist? War er wirklich der Unmensch, als den ihn Helene beschreibt oder das erste Opfer der freudlosen Beziehung? Ist es Helene, die die Familie zerstörte, weil sie die falschen Entscheidungen traf? Sie erkennt die Zwänge und die Gespenster der Vergangenheit , denen sie folgen mußte und findet doch keinen Weg, alles zum Guten zu wenden und abzuschließen. Ihr Plan scheitert.
Über den Sohn Osvald erfährt man bei Ibsen wenig, umso mehr über sein Unglück, "weniger ein Lebewesen als ein Sterbewesen" - so beschreibt ein alter Theaterführer die Figur. Osvald hat die besten Voraussetzungen: ein reiches Elternhaus erlaubt ihm ein unabhängiges Leben und die luxuriöse Berufswahl als freischaffender Maler in Paris. Doch er ist eine Leidensgestalt im Halbdunkel, die eine Hypothek zurückzahlen muß. Nur welche? Die der verlogenen und lieblosen Elternehe und die damit verbundene lange Zeit im Internat ohne elterliche Zuneigung? Ein reiches, aber sich ungeliebt fühlendes Kind? Oder die Hypothek des über die Stränge schlagenden Vaters? Wird also wirklich des Vaters Lebensfreude im Sohn bestraft? Doch gibt es sie überhaupt, die Erbkrankheit und Erbsünde, aus deren Familie man sich nicht befreien kann, eine Erkrankung wie Syphilis oder der HIV-Virus, die in diesem Fall vom Vater auf den Sohn übertragen wurde? Oder ist es etwas anderes, was Osvald gesundheitlich ruiniert? Eine psychische Störung bzw. Depression? Oder ist diese Erbkrankheit nicht vielmehr eine bequeme Möglichkeit, sich nicht selber zu hinterfragen und die Schuld anderen aufzubürden?
Was ist zu sehen (1)?
Regisseur Manuel Braun wollte die Unfähigkeit "der äußeren und inneren Enge zu entfliehen, die gesellschaftlichen Zwänge hinter sich zu lassen und anders zu leben" betonen. Daß dies nicht gelingt hat verschiedene Gründe. Der Regisseur wählt einen lakonischen Grundansatz, umso älter die Figur, desto unbetonter und unbeteiligter läßt er die Schauspieler ihren Text aufsagen - bei Helene und Manders ist kaum noch Lebendigkeit festzustellen, sie agieren oft nebeneinander statt miteinander, wer spricht, hält den Blick in die Ferne gerichtet und sieht seinen Gegenüber nicht an, vieles klingt monoton, Vergeblichkeit und Resignation werden dadurch aber nicht entsprechend ausgedrückt, man findet keinen Zugang zu Ibsens Sprache. Das große Duell zwischen Helene und Manders erhält keinen bemerkenswerten Spannungsbogen. Antonia Mohr spielt anfänglich eine über den Dingen stehende Helene Alving. Schnell bleibt sie ihrer Figur fast alles schuldig. Die psychologischen Beweggründe erhalten keine Plausibilität, Motive bleiben halbherzig geformt - ihr Schicksal weckt weder Interesse noch Anteilnahme. Roland Funke gelingt es ebenfalls nicht, seiner Figur Konturen zu verleihen; blasser und uninteressanter kann man Manders kaum darstellen. Statt eines Porträts zeichnet er nur verschattete Umrisse. Für beide Figuren hatte der Regisseur kein schlüssiges Konzept.
Engstrand ist sowohl die bedrohlichste als auch die witzigste Figur
von Ibsens Drama: er kann voller Verschlagenheit und krimineller Energie
dargestellt werden oder als manipulierender Heuchler komische
Dimensionen erlangen. Für den regelmäßig unglücklich besetzten Frank
Wiegard ist Engstrand eigentlich die ideale Figur zur Profilierung - nutzen kann er diese Chance leider nicht. Sein Engstrand ist im 1. Akt ein wenig bedrohlich, im 2. ein wenig heuchlerisch und im 3. ein wenig komisch - in der Summe ebenfalls ohne jeden Erinnerungswert. Erneut eine vertane Rolle.
[Abschweifung: Wenn man an Sebastian Kreutz'
Interpretation des Krogstad in Ibsens Nora zurückdenkt (oder an Timo
Tank als Torvad Helmer), weiß man, was man in Karlsruhe an
schauspielerischem Können seit Amtsübernahme von Jan Linders verloren
hat.]
Die besten Eindrücke hinterlassen die jungen Schauspieler. Der Besuch lohnt sich für die großartig aufspielende Veronika Bachfischer, die in der Rolle der (von der Regie leider nicht schlüssig angelegten) Regine Engstrand zeigt, welches Potential in ihr steckt - Sprache, Körpersprache und Mimik nutzt sie geschickt für starke Ausdrucksmomente. Auch Jonathan Bruckmeier kämpft mit der Regie und zeigt in der komplizierten Rolle des Sterbewesens Osvald eine gute Rolleninterpretation.
Was ist zu sehen (2)?
Bühne und Kostüme funktionieren nur bedingt, Stimmung will kaum aufkommen. Laut Programmheft war es so gedacht: "Das Regieteam nähert sich Gespenster daher nicht durch inhaltliche Aktualisierungen, sondern mit einer klaren gestalterischen Setzung: Die geistige Enge der Gesellschaft spiegelt sich in einer unerbittlichen Eingrenzung des Spielraums, aus dessen Mitte, durch ein klaffendes Loch, lange Verdrängtes nach oben getrieben wird. Die inneren Verletzungen der Figuren zeigen sich an gestalteter, künstlerisch überhöhter, äußerer Versehrtheit." Die Bühne zeigt weniger Enge als Ungepflegtheit und Gleichgültigkeit, zwei Attribute, die nicht zu der auf Äußerlichkeit achtenden Figuren passen wollen. Helene ist weiß geschminkt, trägt eine weiße Perücke und wirkt wie ein Gespenst, Osvald und Regine haben einen Haltungsschaden, sie trägt eine metallene Fixierung an Hals und Schulter, er ein ledernes Stirn-Kinn-Lederband. Die Überzeichnung Regines als unglückliche Leidensfigur will nicht so richtig zu ihrem Wandel im letzten Akt passen. Manders hat ein Korsett, das als Attribut für ihn gar nichts tut, eingeengt fühlt er sich bei Ibsen nicht bewußt. Engstrand ist auch bei Ibsen hinkend. Es sind verletzte Figuren, die dennoch kaum Interesse oder Mitgefühl hervorrufen.
Am Anfang und Ende gibt es eine nett gemachte, aber nur halbherzig verwendete Videoeinspielung. Die komplett mißlungene Musikauswahl erweist sich als Mischung aus Kitsch und Sentimentalität - Klänge, die keinen Bezug zum Geschehen haben.
Fazit: Ein bißchen Drama, ein bißchen Kitsch, ein wenig Horror, ein wenig Humor. Aus wenig wird wenig und vor allem zu wenig Triftigkeit. In dieser Hinsicht erscheint diese Inszenierung als Ebenbild der letzten fünf Jahre: ein in jeder Hinsicht defizitäres Erlebnis. Mal schauen, ob der neue Schauspieldirektor ab 2016/2017 wieder mehr Lebendigkeit, Spannung und Freude auf die Karlsruher Schauspielbühne bringen wird.
Team und Besetzung:
Helene Alving: Antonia Mohr
Osvald: Jonathan Bruckmeier
Pastor Manders: Ronald Funke
Jakob Engstrand: Frank Wiegard
Regine Engstrand: Veronika Bachfischer
Regie & Video: Manuel Braun
Bühne & Kostüme: Viktoria Strikić
Seit 1988 bin ich steter Besucher des Badischen Staatstheaters. Bei vielen Opern-, Theater-, Konzert- und Ballettvorstellungen im Jahr und Besuchen in anderen Städten verliert man schon mal den Überblick. Dieser Tagebuch-Blog dient mir seit der Spielzeit 2011/12 als elektronische Erinnerung. Bitte beachten Sie meine Intention: ich bin kein Journalist oder Kritiker, sondern schreibe hier lediglich persönliche Eindrücke, private Ansichten und Vermutungen für mich und Angehörige nieder.
@Klaus
AntwortenLöschenDanke für die Info. Gestern habe ich ihn gesehen. Aber die Info stimmt und hängt zusammen mit einer Koproduktion.
@V
AntwortenLöschenDanke für die Info!
Übrigens: Triftigkeit kann man auf verschiedener Ebene erzielen. Hätte die Inszenierung die Schauspieler in den Mittelpunkt gestellt und das große Potential in Ibsens Dialogen ausgeschöpft, wäre alles gut gewesen. Wenn man tolle Schauspieler hat bzw. diesen nicht Zügel anlegt, ist Ibsen wirklich großes Theater. Ob Mohr und Funke nicht durften oder nicht konnten, muß jeder für sich beantworten.