Daß die Iphigenie en Tauride am Badischen Staatstheater trotz kleiner Defizite (sängerisch schön, musikalisch etwas zu stark auf Schönklang getrimmt, szenisch zwar spannend und gelungen, aber mit unnötiger und substanzloser Wichtigtuerei) ein gutes Niveau erreicht, zeigt ein prominenter Vergleich. Für einen Vorstellungsbesuch von Glucks Alceste in der Pariser Opéra Garnier gibt es derzeit gute Gründe:
Dirigent Marc Minkowski gehört zu den besten seiner Zunft, seine Affinität zu Gluck ist außergewöhnlich und seine vielen hörenswerten CD-Einspielungen sprechen für sich: mit Orphée et Eurydice, Iphigenie en Tauride und Armide hat Minkowski Referenzaufnahmen vorgelegt. Schade, daß es von ihm noch keine Einspielung der Alceste gibt. In Paris kann man sich aktuell davon beeindrucken lassen, wie er den Klang modelliert, mal herb, schroff und unheilvoll, mal fragil, zärtlich und melodiös - Minkowski arbeitet in vielen Szenen kaum gehörte Details heraus und gibt der Partitur viel Spannung. Sein Stammorchester Les Musiciens du Louvre sind eines der renommiertesten Originalklang-Ensembles und die idealen Partner für Minkowskis Ansatz zwischen sehnendem Wohlklang, flehender Trauer und furiosem Presto.
Als Alceste hat man mit Véronique Gens eine Spitzenbesetzung. Auch bei ihr ist die Affinität und Zuneigung zu Gluck bekannt: beide Iphigenien gehören zu ihrem Repertoire, die Alceste sang sie bereits in Aix-en-Provence und Wien. Alceste ist eine Rolle in der Mittellage, ohne Koloraturen - Glucks Streben nach der musikalischen Essenz einer Szene erfordert für die Sängerin stimmliche Ausdruckskraft und hier liegt die besondere Stärke von Gens' Interpretation: ihre Alceste ist sensibel und verletzlich und doch eine starke Persönlichkeit - eine mustergültige Interpretation. Sehr gut ergänzt und wird Gens durch den hervorragenden Chor der Grenobler Musicien du Louvre (Leiter Christophe Grapperon), die beeindruckend gut klangen. Als Admète hat man mit Stanislas de Barbeyrac eine sehr gute Wahl getroffen: ein sehr schönes Timbre, eine plastische Stimme ohne Ermüdungserscheinungen. Bariton Stéphane Degout ist mit seiner raumfüllenden, makellosen Stimme in einer Doppelrolle als Priester und Herkules zu hören. Die kleineren Rollen sind adäquat besetzt.
Die Inszenierung des Regisseurs Olivier Py -eine Produktion der letzten Spielzeit- ist einfallsreich arrangiert, doch ohne Höhepunkte, sein Ansatz ist zurückhaltend und geschmackvoll ästhetisiert in Szene gesetzt. Py verzichtet auf psychologische Tiefendeutung und konzentriert sich auf die Beziehung Alceste - Admète, doch zeigt er sie ganz ohne Brüche als einfache Geschichte über Liebe und die Unerbittlichkeit des Todes, wobei der Tod selber auch auf die Bühne kommt: ein Tänzer zeigt ihn als lauernde und hinterhältige Figur. Die selbstlose Opferung der Alceste bleibt nicht ohne Folgen: nachdem Herkules (Py zeigt ihn als Zauberkünstler im Frack, der erst eine Taube hervorzaubert und später Alceste wieder erscheinen lässt) sie zurückgebracht hat, gelingt es Admète am Schluß der Oper nicht, das ihr über den Kopf geworfene schwarz-transparente Tuch herunter zu ziehen: die Begegnung mit dem Tod hat Alceste verändert - sie bleibt umschattet. Daß dieser reduzierte Ansatz trotzdem optisch interessant bleibt, ist dem Kostüm- und Bühnenbildner Pierre-André Weitz zu verdanken, der für die Vergänglichkeit des Lebens eine schöne szenische Entsprechung gefunden hat: in der ganz dunkel gehaltenen Optik des Bühnenraums gibt es große, bewegliche Tafeln, die fünf Zeichner (darunter Weitz selber) mit Kreide immer wieder künstlerisch anspruchsvoll und zur jeweiligen Szene passend bemalen und dann wieder abwischen. Im dritten Akt ist das Orchester auf der Bühne, der leere Orchestergraben wird mit Kunstnebel gefüllt und zum Totenreich. Eine Inszenierung als ästhetisches Memento Mori.
Fazit: Musikalisch eine hochspannende Interpretation, die einiges Schönes fürs Auge bietet, sich szenisch aber nie zu großen Wirkungen verdichtet. Das Pariser Publikum zeigte sich im ausverkauften historischen Opernhaus sehr zufrieden.
Team und Besetzung
Alceste: Véronique Gens
Admète: Stanislas de Barbeyrac
Le Grand Prêtre d’Apollon / Hercule: Stéphane Degout
Evandre, Coryphée tenor: Manuel Nuñez Camelino
Un Hérault d’armes, Apollon, Coryphée basse: Tomislav Lavoie
Coryphée soprano: Chiara Skerath
Coryphée alto: Kevin Amiel
L’Oracle, Une Divinité infernale: François Lis
Choeur et Orchestre des Musiciens du Louvre Grenoble
Dirigent: Marc Minkowski
Regie: Olivier Py
Bühne und Kostüme: Pierre-André Weitz
Seit 1988 bin ich steter Besucher des Badischen Staatstheaters. Bei vielen Opern-, Theater-, Konzert- und Ballettvorstellungen im Jahr und Besuchen in anderen Städten verliert man schon mal den Überblick. Dieser Tagebuch-Blog dient mir seit der Spielzeit 2011/12 als elektronische Erinnerung. Bitte beachten Sie meine Intention: ich bin kein Journalist oder Kritiker, sondern schreibe hier lediglich persönliche Eindrücke, private Ansichten und Vermutungen für mich und Angehörige nieder.