Montag, 20. Juli 2015

Festspielhaus Baden-Baden: Mozart - Die Hochzeit des Figaro, 19.07.2015

In Baden-Baden setzt man bei Mozart auf Luxus-Besetzungen und große Namen und auch gestern gab es verdientermaßen viel Begeisterung, denn es gab eine Mozart-Oper als hoch inspiriertes Sänger-Fest zu hören. Ob es in den letzten Jahren live einen besser besetzten Figaro überhaupt irgendwo zu bestaunen gab? Ein "Event", das tatsächlich Ereignis war!
               
Die Deutsche Grammophon hat mit ihrem neuen, vom Dirigenten Yannick Nézet-Séguin geleiteten  Mozart-Zyklus, live aufgezeichnet bei konzertanten Aufführungen im Festspielhaus Baden-Baden, bisher gemischte Kritiken hervorgerufen. Live zeigte sich das Publikum in Baden-Baden begeistert, die drei veröffentlichten Aufnahmen geben das nicht immer wieder. Don Giovanni (2011 u.a. mit Ildebrando D'Arcangelo, Luca Pisaroni, Diana Damrau, Joyce DiDonato und Rolando Villazón) war live ein wunderbares und begeisterndes Erlebnis (mehr dazu hier) und die bisher gelungenste Einspielung. Es folgten eine auf CD durchschnittliche Cosi fan tutte (2012 u.a. mit Miah Persson, Angela Brower, Adam Plachetka, Rolando Villazón, Alessandro Corbelli) und eine zu konventionelle Entführung aus dem Serail (2014 u.a. mit Diana Damrau, Anna Prohasaka, Rolando Villazón, F-J. Selig).

Obwohl "nur" konzertant, gab es gestern viel Spaß und Lachen im Publikum: alle Sänger spielten immer auch mit, zeigten Mimik und perfektes Situationsverständnis, agierten teilweise untereinander und das Manko der fehlenden Inszenierung wurde in gewissem Maße überspielt - wer sich bei heutigen Regie-Albernheiten konzertante Aufführungen wünscht, wird gestern rundum glücklich gewesen sein. Die Sänger begeisterten dabei durch ihr wunderbar beredtes singen: es wurde mustergültig akzentuiert und Figuren zum Leben erweckt. Luca Pisaroni als Figaro ist erwartungsgemäß eine Idealbesetzung: er agiert mich Leichtigkeit und hohem Selbstverständnis. Mit Christiane Karg als Susanna hat man eine für das große Festspielhaus fast zu kleine Stimme (das könnte aber auch der Aufnahmensituation geschuldet sein), die aber perfekt modelliert und gestaltet. Thomas Hampson bewies als Graf Almaviva, daß er immer noch eine wunderbar ausdrucksstarke Stimme hat, der man immer noch länger zuhören möchte. Sonya Yoncheva hatte als Gräfin Almaviva die voluminöseste Stimme des Abend und es gelingt ihr etwas Seltenes - die Gräfin als junge, sehnsuchtsvolle Frau darzustellen. Die wegen Krankheit abgesprungene Diana Damrau hätte als Gräfin vielleicht ein vielschichtigeres Profil zeichnen können, doch Yoncheva zeigt eine starke Frau, in der es bebt und rumort, ihre junge Stimme will ausbrechen und muß doch die Contenance bewahren - selten hört man eine so lebendige Gräfin, die gerade nicht wehmütig und migräne-resigniert einfach nur Charaktergröße zeigt. Als Cherubino hat man mit Angela Brower eine ausgezeichnete Wahl getroffen: sie singt, trotzt und haucht und gestaltet einen wunderbar schwärmerischen und verspielten Jugendlichen. Glänzen kann man auch in den Nebenrollen: Maurizio Muraro als Bartolo - was für eine starke und klare Bass-Stimme! Bei Rolando Villazón wird Basilio zur herrlich komischen Figur, Anne Sofie von Otter wertet Marcellina auf, Regula Mühlemann die Figur der Barbarina, dazu ein mit Philippe Sly stark besetzter Antonio und  Jean-Paul Fouchécourt als virtuos stotternder Don Curzio. Bravo!

Dirigent Yannick Nézet-Séguin und das Chamber Orchestra of Europe trumpfen immer wieder auf: knallende Pauken, hervorbrechende Bläser, zarte Streicher und herrlich klingende Holzbläser - es gibt noch schärfer akzentuierte Interpretationen, doch Nézet-Séguin behält immer die Sänger im Blick und singt stumm mit. Das Vocalensemble Rastatt rundete die perfekte Aufführungen sehr schön ab.
            
Im Schatten von Sony?
Das Label Sony hat bisher mehr Glück mit seinen Studioaufnahmen: Dirigent Teodor Currentzis und sein Orchester Musica Aeterna haben mit den bisher veröffentlichten Nozze di Figaro und Cosi fan tutte für viele neue Referenzen vorgelegt, bei denen sich manche Kritiker vor Begeisterung überschlagen - vor allem über die Leistungen des Dirigenten und seines Originalklang-Orchesters, die einen neuen und detailbesessenen Höreindruck bieten. Currentzis setzt auf dynamische Kontraste und vehemente Tutti, doch ein wenig kann man beim Anhören vermuten, daß manche schroffe Akzentuierungen gewählt wurden, weil sie sich gerade gut machen. Currentzis Aufnahme ist -je nach Geschmack- effektvoll oder plakativ, in jedem Fall aber ungewöhnlich. Sängerisch ist sie hingegen zwar sehr gut, aber nicht begeisternd. Und im Hinblick auf historisch informierte Aufführungspraxis lohnt ein Vergleich mit dem durchsichtigeren und schlankeren Vorläufer, den René Jacobs mit dem Concerto Köln 2003 bei Harmonia Mundi veröffentlicht haben - eine Aufnahme, die vielleicht länger ihre Substanz bewahren wird.

Fazit: Eine grandiose musikalische Aufführung des Figaro, von der alle Besucher eines Tages (oder bereits jetzt) behaupten können: Ich war dabei! Ob die Tontechnik das als Konserve abbilden werden kann?