Glücksfall Riccardo Primo
Nach der inszenatorisch so sterilen und einfallsarmen Teseo-Premiere ist die Wiederaufnahme von Benjamin Lazars Bühnenfassung von Riccardo Primo (mehr dazu auch hier) umso beeindruckender und beglückender. Hier gelingt, was in Teseo zu unbedarft und inspirationslos kopiert wurde und dann nur bieder und altmodisch wirkte.
Denn Riccardo Primo hat, was Teseo nur behauptet: Lazars Inszenierung ist als "szenisches und optisches Stimulans" zu verstehen. Hier wurde eine Ästhetik gefunden, "die eine andere Form von Wahrnehmung zulässt und die es ermöglicht, daß Barockmusik atmen kann", so daß das Bühnenbild "die Zuschauer einlädt, Räume in der eigenen Phantasie entstehen zu lassen". Regisseur Lazar will ebenfalls das Bühnengeschehen "nicht durch Überinterpretation verbauen" und erfindet keine neuen oder ergänzenden Geschichten, sondern zeigt Händels Oper als stimmungsvoll inszenierte Langsamkeit und arrangierte Schönheit und schafft dabei einen Sog, der im Verlauf der Oper stetig zunimmt und spätestens beim Duett des 2. Aktes weiß man, daß man etwas Besonderes und Außergewöhnliches erlebt.
Während man sich in Teseo mit vordergründigen Andeutungen und phantasieschwachen Minimalismen ohne Binnenspannung zufrieden geben muß, die kein Ganzes ergeben wollen, ist Riccardo Primo ein gelungenes Gesamtkonzept, bei dem Bewegungen und Gesten kunstvoll Musik und Handlung aufnehmen und weiterführen. Während man in Teseo kaum eine Idee hat, was die Figuren auf der Bühne ausdrücken sollen und sie ungeschickt und ohne bemerkenswerte Inspiration Versatzstücke kopieren und zusammenfügen lässt, gelingt es hier, eine Stimmung zu erwecken, die zahllose Besucher in ihren Bann zieht. Die Begeisterung war auch gestern im Zuschauerraum wieder groß.
Rückkehr der Entschleunigungsverzauberung im Kerzenlicht
Im Vergleich zu Radamisto (2009) zeigt Riccardo I. andere Ansätze. Benjamin Lazar zeigt keinen Versuch einer historisch-informierten und sich im Möglichkeitssinn befindlichen rekonstruierten und nachempfundenen Fassung, sondern eine neu erfundene, historisch-inspirierte Aufführungspraxis, in der barocke Muster und Gesten Pate standen für eine neue, individuelle Regiesprache, die auch moderne Bühnentechnik zulässt. Prachtvolle Kostüme, die im Kerzenlicht wunderbar strahlen und goldener Glanz in honigfarbenem Kerzenlicht - Radamisto bleibt das "Original", aber Riccardo I. ist keine Kopie.
Und es ist auch weiterhin ein Sängerfest! Der größte Verdienst der Karlsruher Händel Festspiele der letzten Jahre besteht darin, daß man auch weiterhin größten Wert auf die Bühnenkünstler legt. Mit Franco Fagioli, Valer Sabadus und Max E. Cencic sind wirkliche Größen engagiert, mit Countertenor Nicholas Tamagna hat man bspw. einen Sänger neu nach Karlsruhe geholt, den man auch zukünftig wieder engagieren kann.
Franco Fagioli bleibt der Star dieser Produktion: es ist immer wieder erstaunlich, wie stimmakrobatisch er seine Rollen gestalten und Farbgebungen setzen kann. Ein Ausnahmesänger in seinem Stimmfach und hoffentlich bald wieder zu Gast bei den Karlsruher Händel Festspielen. Seine Arien und das Duett T'amo si am Ende des 2. Aktes gehören zu den vielen Höhepunkten. Costanza ist mit Sine Bundgaard neu besetzt und sie fügt sich mit sehr schöner Stimme nahtlos ein: ein erfolgreicher Kaltstart in eine anspruchsvolle Rolle - Bundgaard kann man wieder einladen (wie alle Sänger dieser Produktion). Zum erfolgreichen Team gehören weiterhin Lisandro Abadie als finsterer Isacio, Claire Lefilliâtre als Pulcheria, Nicholas Tamagna als Oronte (mit seinem geschmeidigen Counter ist er eine Entdeckung für zukünftige Festspiele) und der variable Andrew Finden, der schon in Alessandro ein zuverlässiger Bariton war.
Neu ist auch der Dirigent. Im Vorjahr war es noch Michael Hofstetter, der über viele Jahre in Karlsruhe immer wieder begeisterte und kein leichtes Erbe hinterließ. Doch mit Paul Goodwin hat man einen erstklassigen Nachfolger engagiert, der diese Oper auch bereits auf Tonträger einspielte und gestern aufhören ließ. Der gedehnte und gelegentlich etwas eintönig dirigierte Teseo war schnell vergessen, Goodwin machte fast jede Arie hörenswert.
Fazit: Eine geglückte und beglückende Wiederaufnahme einer Oper, an die man sich lange erinnern wird und über die man noch in vielen Jahren schwärmen wird, denn Sänger, Musiker und Inszenierungsteam - alles passt hier so wunderbar zusammen. Riccardo Primo ist nach Radamisto ein weiterer Glücksfall im Kerzenlicht.
PS: Wenn man in einigen Jahren alle Händel Opern in Karlsruhe gespielt hat und neu beginnt - das könnte so ca. 2023 der Fall sein - dann sollte man wie 1978 mit Alcina beginnen ... und diese Zauberoper in einer Kerzenlichtinszenierung wäre doch vielleicht der richtige Neustart des zweiten Zyklus!
Seit 1988 bin ich steter Besucher des Badischen Staatstheaters. Bei vielen Opern-, Theater-, Konzert- und Ballettvorstellungen im Jahr und Besuchen in anderen Städten verliert man schon mal den Überblick. Dieser Tagebuch-Blog dient mir seit der Spielzeit 2011/12 als elektronische Erinnerung. Bitte beachten Sie meine Intention: ich bin kein Journalist oder Kritiker, sondern schreibe hier lediglich persönliche Eindrücke, private Ansichten und Vermutungen für mich und Angehörige nieder.