Der junge amerikanische Komponist Andrew Norman (*1979) schuf das Auftragswerk Unstuck für das Tonhalle Orchester Zürich, wo es 2008 von Dirigent Michael Sanderling uraufgeführt wurde. Wenn man irgendwann mal in ferner Zukunft auf die heute üblichen Konzertprogramme zurückblickt, dann könnte es auffallen und den Anschein haben, daß die kurze symphonische Form, Stücke, die ca 10-15 Minuten dauern, beim Publikum besonders beliebt waren. Die Programmplaner platzierten diese wenigminütigen Leckerbissen stets am Anfang des Konzerts. So auch gestern. Doch gleich zu Beginn konnte man gestern nach wenigen Takten einen anderen Verdacht bekommen, daß manche zeitgenössische Musik etwas Unidiomatisches hat. Denn ob nun Norman, Adès oder Dorman gespielt wird, wer hinterlässt einen bleibenden Eindruck? Justin Brown wendete sich zu Beginn zum Publikum und versuchte kurz, den Titel Unstuck zu erläutern. Dabei zeigte sich, daß sich Konzeptmusik nicht mal dann erschließen muß, wenn man die Geschichte dazu kennt. Unstuck war nach 10 Minuten vorbei und bekam freundlich-kurzen Applaus aufgrund seines partiell groß-orchestralen Filmmusikcharakters.
Richard Strauss' Tondichtung Don Quixote ist ein Genre-Mix, einerseits phantastische Variationen über ein Thema ritterlichen Charakters op. 35, auch eine symphonische Dichtung nach literarischen Vorbild sowie ein Instrumentalkonzert für Cello (Don Quixote) und etwas Bratsche (Sancho Pansa) und immer wieder geprägt durch Tonmalerei, Situationsschilderungen und Charakterbeschreibungen. Von Strauss ist ja der Satz überliefert: "Was ein richtiger Musiker sein will, der muss auch eine Speisekarte komponieren können" - wem sonst als Strauss konnte man das tatsächlich zutrauen. Und so wird man in Don Quixote auf eine Reise mitgenommen: man kämpft gegen Windmühlen, hört Schafe blöken, man beobachtet einen Pilgerzug, Windmaschinen stellen einen Ritt durch die Luft dar, man hört Wassertropfen als Streicherpizzicato und ganz am Ende lässt der Cellist den Klang abrutschen und Don Quixote stirbt friedvoll. Justin Brown brachte Strauss' humorvolle und hochvirtuose Instrumentationskunst prachtvoll und filigran zum Klingen und zusammen mit den beiden orchestereigenen Konzertmeistern Franziska Dürr (Viola) und Thomas Gieron (Violoncello) spielte die Badische Staatskapelle ein delikat schwelgerisches und lyrisches Tongemälde, das viel Applaus bekam und in dem besonders die Nachtwache der 5. Variation zum poetischen Höhepunkt für den Cellisten wurde.
2014 kennzeichnet den 150. Geburtstag von Richard Strauss. Man kann gespannt sein, wie man ihn in Karlsruhe in der Spielzeit 2014/15 feiern wird. Neben einem Programmschwerpunkt in den Konzerten, den möglichen Wiederaufnahmen der Frau ohne Schatten (unbedingt, oder!?! Welcher Dirigent wollte nicht diese Partitur zu Gehör bringen?) und des Rosenkavaliers sollte auch eine Neuinszenierung nicht fehlen.
Nach der Pause dann die 7. Symphonie von Ludwig van Beethoven, bei deren triumphalen Uraufführung im Dezember 1813 im Orchester auch Musiker saßen, die später selber als Komponisten erfolgreich waren wie Meyerbeer, Moscheles und Louis Spohr, der auch in seinen Lebenserinnerungen berichtete, wie der bereits schwerhörige Beethoven selber dirigierte:
"Die neuen Kompositionen Beethovens gefielen außerordentlich, besonders die Symphonie in A (die siebente). Der wundervolle zweite Satz wurde da capo verlangt; er machte auch auf mich einen tiefen, nachhaltigen Eindruck. Die Ausführung war eine ganz meisterhafte, trotz der unsicheren und dabei oft lächerlichen Direktion Beethovens. Daß der arme taube Meister die Piano seiner Musik nicht mehr hören konnte, sah man ganz deutlich."
Die beliebteste Assoziation zur Siebten stammt von Richard Wagner: die Apotheose des Tanzes. Wer diese Beschreibung für zutreffend hält, der konnte gestern bestaunen, was für durchtrainierte und muskulöse Tänzer Brown für seine Interpretation benötigte. Der erste Satz beginnt mit Beethovens längster Introduktion, die bei Brown breit angelegt war und sich nur gelegentlich zuckend aufbäumte, sonst aber wie eine logische Fortsetzung der Pastoralen wirkte. Die Tempoverschärfung beim Übergang zum Vivace war dann zwar beachtlich, die beiden Klangwelten des Satzes zeigten so die benötigte Trennschärfe, doch das Unerbittliche, Manische und Euphorische war vielleicht etwas zu brav dimensioniert. Beethovens Siebte ist eine Symphonie ohne langsamen Satz, der berühmte zweite ist ein Allegretto. Brown dirigierte es nicht als nachdenklichen Trauermarsch oder flehendes Gebet, sondern unruhig und aufgewühlt mit fast zu geringer Steigerungskurve bei hohem Grundtempo. Manch einer hätte ihm dafür vielleicht Punkte in Flensburg geben wollen. Der dritte Satz war bei Brown durch die Betonung der retardierenden Momente gekennzeichnet, die das ungestüme und wilde Presto umso stärker losbrechen ließen. Der vierte Satz, das "con brio" überhaupt: ekstatisch, wild, energisch, überzogen - Brown steigerte das Orchester in einen rasanten Taumel.
Eine sehr individuelle und bemerkenswerte Interpretation, deren unbezähmbares Finale fast schon Furtwänglersche Qualitäten hatte und mit langem und starkem Schlußjubel belohnt wurde.
PS: Es gab eine neue Orchesteranordnung bei den Streichern. Die zweiten Violinen sitzen nun den ersten gegenüber, die Celli haben die freie Position eingenommen. Die Kontrabässe wanderten vom rechten zum linken Rand und tauschten mit Harfe und Klavier, die nun vom Publikum aus gesehen rechts sind.
Seit 1988 bin ich steter Besucher des Badischen Staatstheaters. Bei vielen Opern-, Theater-, Konzert- und Ballettvorstellungen im Jahr und Besuchen in anderen Städten verliert man schon mal den Überblick. Dieser Tagebuch-Blog dient mir seit der Spielzeit 2011/12 als elektronische Erinnerung. Bitte beachten Sie meine Intention: ich bin kein Journalist oder Kritiker, sondern schreibe hier lediglich persönliche Eindrücke, private Ansichten und Vermutungen für mich und Angehörige nieder.