Es gibt kein Ende der
Geschichte und auch die knapp 400-jährige Operngeschichte geht weiter.
Es ist die Aufgabe eines guten Opernhauses, gerade auch die eines
Staatstheaters, sich mit allen Epochen auseinanderzusetzen und moderne
Opern gehören wie Barockopern zu den festen Bestandteilen eines guten
und ausgewogenen Spielplans. In den letzten Jahren gab es in Karlsruhe
übrigens Opern wie Gottfried von Einems Dantons Tod (Uraufführung 1947), Bohuslav Martinůs Die griechische Passion (UA 1961), Sandor Szokolays Blutzhochzeit (UA 1964) und Benjamin Brittens Tod in Venedig (UA 1973) mit durchweg beachtlichem und großem Erfolg zu hören. Und auch Tüürs Wallenberg (UA 2001) sollte man sich als Opernliebhaber nicht entgehen lassen.
Am
Ende dieser Spielzeit, die dem Motto "Von Helden" verpflichtet war,
scheint das Badische Staatstheater einen neuen Helden etablieren zu
wollen: Rund um die Oper Wallenberg über den gleichnamigen
schwedischen Diplomaten, der während des zweiten Weltkriegs in Ungarn
Juden mit Pässen zu Schweden machte, um sie zu retten und dessen Spur
sich in sowjetischen Gefängnissen verliert, wo er 1947 gestorben sein
soll, setzt man sich in den vielen Veranstaltungen des Beiprogramms
intensiv mit der Person und ihrer Geschichte auseinander.
Eines fiel im Vorfeld auf oder eher unter den Tisch: über die Musik und die Qualitäten der Oper des estnischen Komponisten Erkki-Sven Tüür,
die nach Dortmund (2001) und Tallinn (2007) in Karlsruhe ihre dritte
Inszenierung erlebte, wurde im Vorfeld wenig geschrieben, als ob Skepsis bezüglich
der musikalischen Form angebracht sei und man deshalb den Inhalt
aufwerten wollte. Was also taugt die Oper, deren Premiere am Samstag
anscheinend viele Opernliebhaber nicht interessierte und bei der auch
gestern wieder viele Sitze
leer blieben?
Die gute Nachricht: Wallenberg
ist interessant, anhörbar und mit individueller Charakteristik. Das
Staatstheater beschreibt die Musik ausführlich in dem mal wieder sehr
guten und fundierten Programmheft. Es gibt viel perkussive Elemente und lautes Blech und immer wieder prallen Gegensätze aufeinander. Eine Musik, die allerdings nicht nachhaltig
wirkt, die Dramatik ist musikalisch zu vordergründig, zu wenig subtil und ohne
doppelten Boden. Gegen Ende erschöpft und ermüdet die lautstarke Melodienarmut. Die
beiden vorhandenen Akte genügen, ein dritter im gleichen Stil wäre zuviel.
Dirigent
Johannes Willig und die
Badische Staatskapelle zeigen mal wieder eine große Leistung, spielen sehr engagiert und holen heraus, was es
zu
holen gibt. Sie konzentrieren sich dabei auf Dramatik und Zuspitzung der Handlung.
Das
Libretto von Lutz Hübner, das vom Staatstheater im Internet-Angebot zum
Lesen angeboten wird, liest sich flüssig-schnell und ist spannend und
gut geschrieben. Man spürt, wie das Publikum der Oper aufmerksam folgt: es gibt fast keine Unruhe im Zuschauersaal. Wallenberg ist eine packende Geschichte.
Inszeniert ist Wallenberg von Regisseur Tobias Kratzer
als plakative Parabel: die Hauptfigur als Zirkus-Dompteur, Eichmann ist
eine Schlange, die Juden sind als Küken maskiert, die Nazis tragen
Schweinskopfmasken, die Diplomaten als Angsthasen-Bunnys, Ronald Reagan
mit Texasbullenhörnern. Das brutale Geschehen im ersten Akt wird im
surreal-grotesken zweiten Akt durch einen Blick auf Wallenbergs
Nachleben bis zur Verleihung der US-Ehrenbürgerschaft 1981 durch Ronald
Reagan kontrastiert. Spannend erzählt mit nur wenigen Durchhängern und Schwächen. Kostüm- und Bühnenbildner Rainer Sellmaier schuf dafür eine visuell ansprechende Optik. Eine gute Arbeit des Inszenierungsteams!
Es gibt für die Sänger wenig
Möglichkeiten, um auf sich aufmerksam zu machen. Die Oper bedient sich
überwiegend eines Sprechgesangs; virtuose Gesangsfreude kommt dabei
auch aufgrund des Themas nicht auf. Der stark agierende Tobias Schabel (zuletzt in Karlsruhe in Händels Oratorium La Resurezzione als Lucifero zu hören) als Wallenberg und Renatus Meszar als Eichmann haben die größten Auftritte und überzeugen zusammen mit allen anderen Beteiligten das Publikum.
FAZIT: Alle Mitglieder der Produktion haben alles richtig gemacht - der engagierte Applaus des Publikums zeigt, daß Wallenberg
ankommt. Und doch ist es für die meisten keine Oper, die man sich auf
CD wünscht, um sich von ihr auch in den eigenen vier Wänden beeindrucken
zu lassen.
"Das Beispiel zählt, nicht der Mensch" heißt es
im Libretto. In dieser Hinsicht also eine interessante Oper mit einer
inhaltlichen Bedeutsamkeit, die sehr gut umgesetzt wurde und
Aufmerksamkeit und Publikum verdient, die aber musikalisch keine
unwiderruflichen Eindrücke hinterlässt, so daß man ergänzen könnte: Die Geste zählt, nicht die Form.
Eine Oper, die weniger als Oper in Erinnerung bleibt, sondern eher das
Mittel zum Zweck des Erinnerns ist. Ein Plädoyer, dem man den Respekt
nicht versagt. Ein Kunstwerk mit eingeschränkter Nachhaltigkeit.
PS(1): Mit Wallenberg startet die Reihe "Poltische Oper" am Badischen Staatstheater, die nächstes Jahr mit Mieczysław Weinbergs Die Passagierin, eine
Oper über eine KZ-Aufseherin,
die von ihrer Vergangenheit eingeholt wird, fortgesetzt wird. Wer Oper
für eine veraltete Kunstform hält, der wird sich spätestens bei
dieser Reihe fragen, was denn besonders politisch an Opern ist, die
einen real-historischen Kern haben? Wo befindet sich der Unterschied
zwischen Wallenberg und Prokofiews Krieg und Frieden, von Einems Dantons Tod oder Donizettis Maria Stuarda, die alle vor politischem Hintergrund spielen? Ist "Politische Oper" also
nur ein Etikett für "moderne" Opern des 20. Jahrhunderts mit
realhistorischem Hintergrund? Und wie modern muß Oper sein, damit sie
politisch noch etwas zu sagen hat? Figaros Hochzeit
zeigt, daß Oper einst den Anspruch hatte, auf zeitgenössische Art
politisch zu sein. Auf der Opernbühne finden sich aber heutzutage in der
Regel nur selten moderne Werke, die diesen Anspruch zeitgemäß umsetzen.
Politische Oper definiert sich damit mehr über die Inszenierung und
ihre zeitgenössische Haltung als über Kompositions- oder
Handlungszeitpunkt. Es scheint, daß in Karlsruhe also eher das Etikett "Geschichtliche Oper des 20. Jahrhunderts" gemeint ist. Man kann gespannt sein, wie die Reihe fortgesetzt wird. Mögliche Kandidaten könnten Viktor Ullmanns Der Kaiser von Atlantis, John Adams Nixon in China oder The death of Klinghoffer oder Frank Schwemmers Angela sein.
PS(2): Der
estnische Komponist Tüür ist nicht der einzige Opernkomponist seines
Landes. Einige werden sich vielleicht noch an das Gastspiel des Estonia
Theaters Tallinn von 1992 erinnern, das mit der atmosphärisch dichten
und düsteren Oper Der Pastor von Reigi (Uraufführung 1979) des
Komponisten Eduard Tubin ein großen Erfolg erzielte und stark
beeindruckte. Im Fundus der bei uns fast unbekannten Werke
baltisch-skandinavischer Komponisten des 20. Jahrhunderts sind einige
Schätze zu heben ...
Seit 1988 bin ich steter Besucher des Badischen Staatstheaters. Bei vielen Opern-, Theater-, Konzert- und Ballettvorstellungen im Jahr und Besuchen in anderen Städten verliert man schon mal den Überblick. Dieser Tagebuch-Blog dient mir seit der Spielzeit 2011/12 als elektronische Erinnerung. Bitte beachten Sie meine Intention: ich bin kein Journalist oder Kritiker, sondern schreibe hier lediglich persönliche Eindrücke, private Ansichten und Vermutungen für mich und Angehörige nieder.
Hallo Honigsammler
AntwortenLöschenDie zeitgenössische Musik hat in der verzweifelten Suche nach Neuem die Effekte entdeckt und die sind nun mal nicht sehr nachhaltig. Denken Sie an Ulrich Wagners Nachtklänge: Fast immer ist ein üppiges Schlagwerk dabei, das im Mix mit konventionellen Instrumenten unkonventionelle Töne hervorbringt. Tüür ist da ein typischer Vertreter. Was er m.E. aber besser macht als andere (einschl. H.W.Henze) ist die Handhabung der menschlichen Stimme. Die meisten Zeitgenossen vermögen eher mit ihrer synfonischen Musik zu überzeugen als mit ihren Opern. Durch den Sprechgesang umgeht Tüür den Zwang zur Modernität und schafft so ein spannendes und verständliches Stück. Es war m.E. die beste Produktion dieser Saison.
Umso schlimmer finde ich das mangelnde Interesse der Karlsruher. Die zweite Vorstellung war höchstens halb voll und ich fürchte, das wird so bleiben. Ein Publikum, das bei „Siegfried“ ein ums andre Mal das Haus füllt und die Musik von Adams gut findet, gibt dem Wallenberg gar keine Chance. Das kann nur Unkenntnis sein und wenn dem so ist hat das Theater die Produktion nicht ausreichend beworben. „Searching for the Roots“ im 5.Synfoniekonzert war keine gute Wahl als Vorbereitung. Wallenberg ist weitaus attraktiver. Warum nicht ein Ausschnitt daraus als Werbung für die szenische Aufführung? Das Staatstheater wird sich eine andere Art der Werbung ausdenken müssen, wenn Stücke wie „Die Passagierin“ oder auch „Peter Grimes“ nicht vor leeren Rängen gespielt werden sollen.
Hallo Herr Kiefer, vielen Dank für ihren Kommentar - Sie bringen es auf den Punkt!
AntwortenLöschenAuch Dantons Tod war kein Publikumsrenner und kam nie in die öffentliche Aufmerksamkeit. Brittens Tod in Venedig hatte hingegen bei den wenigen Aufführungen viel mehr Zuspruch. Die Entwicklung bei Wallenberg werde ich nächstes Jahr verfolgen. Um der Oper eine Chance zu geben wäre es meines Erachtens notwendig, daß gerade die beiden Hauptsänger Tobias Schabel und Renatus Meszar möglichst viele Vorstellungen singen. Für mich steht und fällt die Spannung mit der Auseinandersetzung dieser beiden und beide Rollen benötigen starke Sänger, also Hauptrollensänger mit Bühnenwirkung.
Das Staatstheater hat in seiner Quartalszeitschrift endlich mal eine Inszenierung mit einem mehrseitigen und interessanten Text behandelt, der Neugierde weckt. Es wurde meines Erachtens nur verpasst, neben der Person und ihrer Geschichte auch die Musik attraktiv in den Mittelpunkt zu stellen.
Das mangelnde Interesse der Zuschauer an Wallenberg würde ich nicht dem Publikum anlasten. Im Juni/Juli interessieren sich die meisten doch eher für Urlaub, das Wetter und die Möglichkeit, ihre Zeit im Freien zu verbringen, als lange in einem klimatisierten Raum zu sitzen. Würden die Zeitschriften des Staatstheaters öfters erscheinen, würde ich in der ersten Ausgabe der Spielzeit 12/13 Wallenberg noch mal einen Hauptartikel mit Presse- und Publikumsstimmen widmen, um die Aufmerksamkeit erneut darauf zu kanalisieren und die positiven Reaktionen zu vermitteln.
Hallo Honigsammler
LöschenJuli/August ist Festspielzeit und das Publikum strömt allerorten. Am Wetter und der Jahreszeit kann es also nichtliegen, wenn die Karlsruher den Wallenberg nicht beachten. Tatsächlich auch sind Mannheim und vor allem Frankfurt weit erfolgreicher bei der Vermittlung zeitgenössischer Opern. Es muss also schon mit Karlsruhe zu tun haben. Die oft bemühte Technische Universität, deren Studierende und Allumnis weniger Zugang zu den schönen Künsten haben, kann der Grund nicht sein. Ich bin sicher, dass die Art der Werbung, die das Bad. Staatstheater betreibt ziemlich nutzlos verpufft. Die Werbung an sich ist gut (wie mir Werbefachleute versichern), aber sie erreicht die Zielgruppe nicht. Es geht ja nicht darum eine bestimmte Zahnpasta vor den vielen anderen so hervorzuheben, dass sie mit Präferenz gekauft wird, sondern Publikum in das EINE KONKURRENZLOSE Theater überhaupt rein zu bringen. Die Werbung des Staatstheaters wendet sich an die, die sowieso ins Theater gehen. Wenn die alle in Wallenberg gingen, wäre die Welt ja in Ordnung. Unter diesen Theatergängern sind aber zwischen 80 und 90% Abonnenten, also Leute, die zu Beginn der Saison einen Batzen Geld auf den Tisch legen und damit ihr Bedürfnis nach Theater befriedigt sehen. Es ist alles geregelt, Eigeninitiative ist nicht mehr gefragt. Ist Wallenberg im ABO, gehen wir hin, wenn nicht vielleicht nächstes Jahr. Soweit ich mich zurück erinnern kann, wurde der Erfolg des Theaterfestes an der Zahl der neu eingefangenen Abonnenten gemessen. Diese Strategie scheint mir endgültig überholt zu sein.
Jedes Theater glaubt Abonnenten zu brauchen. Was schon bezahlt ist nimmt man auch wahr. Deshalb erkennen die Theatermacher die Unzufriedenheit unter den Abonnenten meist erst, wenn das Abo gekündigt ist. Diese Leute zurückzuholen ist schwer. Die Verärgerung über Lohengrin und Rigoletto sitzt tief.
Spuhler und seine Leute bemühen sich intensiv um neue Besucherschichten, aber mit den Mitteln, die schon früher nicht geholfen haben.