Freitag, 23. März 2012

Sophokles/Rihm - Auf Kolonos, 22.03.2012

Ausnahmsweise ein erstes Fazit zu Beginn: ABSOLUT NICHT EMPFEHLENSWERT! Wer in Auf Kolonos will, dem kann man nur guten Herzens empfehlen, die Karten umzutauschen oder an jemanden mit einer Schlafstörung weiterzugeben. Es handelt sich um eine von jenen Inszenierungen, bei der man voller Verzweiflung darauf wartet, daß Hape Kerkeling erscheint und "Huuurz" ruft oder ein Moderator der versteckten Kamera  auf die Bühne kommt und das Geschehen mit der Bemerkung "Verstehen Sie Spaß?" enttarnt. Vielleicht passierte das sogar und der Abend wurde nach der Pause als das Werk eines Scharlatans offenbart. In über zwanzig Jahren als Theaterbesucher in Karlsruhe bin ich gestern zum zweiten Mal in der Pause vorzeitig gegangen. Warum? Es war unglaublich langweiliges Theater zum Abgewöhnen bei dem bereits nach ca. 30 Minuten eingeschlafene Zuschauer zu entdecken waren und nach ca. 45 Minuten die ersten Frustrierten das Theater verließen. Das Karlsruher Schauspiel ist mit dieser Produktion da angekommen, wo sich die Fußballer des Karlsruher SC schon seit einiger Zeit befinden: im Abstiegskampf. Man darf sich nicht wundern, wenn die Trainerfrage gestellt wird.



Aber der traurigen Reihe nach: Der Titel Auf Kolonos hat seinen Ursprung im Drama Ödipus auf Kolonos  des antiken griechischen Dichters Sophokles.
Etwas zur Vorgeschichte: Ödipus war nach einer Warnung des Orakels von Delphi von seinen königlichen Eltern als Säugling ausgesetzt worden. Unwissentlich tötete er später im Streit seinen Vater und nachdem er Theben von der Sphinx befreit hat, bekommt er den thebanischen Thron und seine ihm unbekannte Mutter zur Frau. Als Jahre später seine Herkunft offenbar wird, zieht Ödipus die Konsequenzen aus seiner schuldlosen Schuld: er verzichtet auf Besitz, Luxus, Amt und Würden, sticht sich selber die Augen aus und geht als blinder Bettler in die Verbannung.
In seiner Konsequenz, nicht in seiner Härte, gibt er damit ein Beispiel für heutige Politiker, Amts- und Würdenträger: er zeigt, was es bedeutet Verantwortung zu übernehmen und zu seinen Taten zu stehen, sogar wenn sie aus Unwissenheit begangen wurden. Im Umgang mit Politikern, die angesichts von Verfehlungen lavieren und versuchen sich irgendwie aus der Affäre zu ziehen, ist diese Geschichte bereits von hoher gesellschaftlicher Relevanz.

Sophokles‘ Ödipus auf Kolonos
erzählt, wie der blinde Flüchtling Ödipus als Greis, begleitet von seiner Tochter Antigone, Zuflucht und Gastfreundschaft beim athenischen König Theseus in Kolonos (heute ein Stadtteil von Athen) findet, sich dabei noch mal der Vergangenheit stellt, sich den Anfechtungen und Verwicklungen seiner thebanischen Heimat letztendlich entzieht  und durch göttliche Gnade erlöst wird. Ödipus ereilt ein außergewöhnlich milder und gnädiger Tod nach einem leidvollen Leben.
Der Schriftsteller Adolf Muschg rühmte Ödipus auf Kolonos folgendermaßen: "Ich kenne kein Stück, das für europäische Kultur – also auch Kulturpolitik – tiefer vorbildlich wäre als »Ödipus auf Kolonos« von Sophokles. Es ist der im Geist der Gastlichkeit nicht gelöste, sondern aufgehobene Konflikt." Also ein Stück, aus dem sich etwas machen lässt.

Was wird in Karlsruhe gezeigt?

Anlässlich des 60. Geburtstags des Komponisten Wolfgang Rihm (mehr hier) wird anlässlich der Europäischen Kulturtage 2012 Auf Kolonos zum Zentrum eines spartenübergreifenden Projekts, das Staatstheater spricht sogar von einem Sparten-überwindenden Projekt des französischen Regisseurs und Choreografen Laurent Chétouane. Neben den sechs Schauspielern gibt es auch zwei Tänzer und zwei Sänger auf der Bühne sowie bis zu 26 Musiker, die Musik von Rihm spielen. In Karlsruhe wird Sophokles in der Übersetzung von Peter Handke gespielt.

Alle Bühnendarsteller können einem wirklich leid tun: nach einem hilflosen Beginn, bei dem die Sänger und Schauspieler (die übrigens keine festen Rollen spielen, sondern sich den Text teilen) fast 10 Minuten wortlos herumlaufen und ins Publikum schauen müssen und zwei "Tänzerinnen" parallel mit nichtsagenden Bewegungen auf der Bühne hampeln, beginnen die Akteure wie unbewegliche Laiendarsteller zu agieren und sprechen, als ob sie ihren Text mit stockender, melodieloser Sprache von einem unleserlichen Blatt Papier ablesen. Schwer vorzustellen, wie man den Text noch langweiliger und öder präsentieren kann. Dazu kommen nur gleichförmige Bewegungen und viel Langsamkeit.
Schon die erste Musik von Wolfgang Rihm (Responsorium) traf den Gemütszustand, den diese Produktion auslöst: hysterische Kreischattacken passten zur Panik, die die Karlsruher Theaterfreunde bereits nach kurzer Zeit angesichts dieser Zumutung ergriffen hatte. Die ersten 75 Minuten fühlten sich an wie eine kleine Ewigkeit, dann kam zum Abschluß des ersten Teiles 15 Minuten Musik (Rihms "Kolonos"). Die Pause nach 90 Minuten empfand ich als Erlösung.  Beim Verlassen des Theaters hoffte ich allerdings immer noch auf Hape Kerkeling und eine Wendung zum Guten........
Man muß es sich noch mal vor Augen führen - formal stimmt fast alles: ein guter Stoff, gute Ideen, sehr gute Schauspieler und Musiker, auch Bühnenbild und Kostüme passten;  - nur und alleine die Regie verursachte eine in hohem Maße misslungene Präsentation.

Für Musikfreunde:
Bereits Friedrich Hölderlin übersetzte Fragmente des antiken  Dramas. Diese wurden zur Vorlage für Wolfgang Rihms „Kolonos“, ein ca 15 minütiges Stück für Orchester und Countertenor, entstanden 2008 als Auftragswerk für das Musikfestival „Rossini in Wildbad“. Rihms Vertonung kreist um den greisen Ödipus, der angesichts von Alter und Tod einen inneren Monolog führt. Ergänzt wird die Karlsruher Vorstellung von weiteren kurzen Werken Wolfgang Rihms (Responsorium - ein Stück für weibliche Stimme und Orchester, das als einziges nicht live gespielt wird, Umsungen / Selbsthenker aus dem Umsungen-Zyklus; Stilles Stück basiert auf einem Gedicht von Hermann Lenz).

Fazit (2): Der Versuch ein spartenüberwindendes Projekt auf die Bühne zu bringen beweist nur, daß es nicht an Sparten, Künstlern oder am guten Willen scheitert, sondern es auf die Folgerichtigkeit des Ausdrucks, also auf die gemeinsame Kunstform ankommt, um eine geglückte Synthese zu ermöglichen. Die Premiere war unsäglich monoton und nichtssagend. Es ist bedauerlich, welche Arbeit, Mühe, Zeit und Aufwand für diese Produktion  vom Regisseur Laurent Chétouane verschwendet wurde. Man kann nur hoffen, daß möglichst wenige Zuschauer durch Auf Kolonos abgeschreckt werden, auch weiterhin ins Theater zu gehen.

Tipp (1): Wer eine Ödipus Interpretation sucht, die Schauspiel, Gesang und Tanz geglückt zusammenbringt, der ist mit Loriots Film Ödipussi vielfach besser beraten.

Tipp (2): Lachen befreit. Nach dieser Produktion hilft Hape Kerkeling mit seiner Auf Kolonos verwandten "Huurz" Produktion (hier der Link zu youtube)

Besetzung:
Gesang: Bariton Gabriel Urrutia Benet und Countertenor Hubert Wild
Zwei Tänzer: An Kaler und Senem Gökçe Oğultekin
Schauspieler: Eva Derleder, Hannes Fischer, Paul Grill, Thomas Halle, Timo Tank, André Wagner
Musiker der Badische Staatskapelle unter der Leitung von Wolfgang Wiechert
Bühnenbild: Markus Selg; Kostümbildnerin: Sophie Reble

10 Kommentare:

  1. Lieber Honigsammler, auch befand mich gestern in der Premiere und ich muss sagen, Sie haben meine Eindrücke dieses Abends sehr treffend wiedergegeben.
    FLOSSGUNDE

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  2. Liebe Flossgunde, ich konnte Ihrem Gesichtsausdruck ansehen, daß wir ähnlich gelitten haben. Ich freue mich jetzt einfach mal auf "Jakob der Lügner" und versuche "auf Kolonos" zu verdrängen.

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  3. @anonym / Theater Heidelberg
    Vielen Dank für den Hinweis. Ihre Les-Art war mir nicht bewußt; ich werde zukünftig darauf achten. Der Bezug, den Sie herstellen, war also nicht beabsichtigt.

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  4. @F.T.
    Vielen Dank! Leider weiß ich darauf keine Antwort. Es entzieht sich in einem Maße meiner Kenntnis, daß ich darüber nicht mal spekulieren kann.

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  5. @Jan
    Vielen Dank für die Anregung! Eine sehr gute Idee, deren Aufwand ich aber aktuell noch scheue.
    Ich glaube an die Lernfähigkeit des Staatstheaters. Schlechte Produktionen gibt es immer wieder - das gehört dazu und ist nicht schlimm. Ich habe mich zwar geärgert, den Frust hatte ich mir mit obigen Text noch in der gleichen Nacht weg-geschrieben.
    Mit der Trainerfrage habe ich übrigens den Regisseur gemeint - er ist ja wohl für die Zumutung der inszenierten Langeweile verantwortlich.

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  6. @Jan
    Ich kenne niemanden, der nach der Pause in "Auf Kolonos" geblieben ist. Laut BNN sind 50% der Zuschauer nach der Pause nicht zurückgekommen. Viele haben also nicht bis zum Ende durchgehalten ...

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  7. Lieber Honigsammler,
    leider hab ich Ihren Blog erst jetzt entdeckt, nachdem mich der Ärger nach der „Auf Kolonos“ zur Web-Recherche getrieben hat. Sie sprechen mir in vielem aus dem Herzen. Auch wir hatten uns in der Pause „hurtz“ zugerufen, sind dann aber doch geblieben, in der Hoffnung, die Statik und Langeweile des Wortvortrags, das unmotivierte „Hasch mich, ich bin der Frühling“- Gehample der Tänzerinnen würde aufgelöst (Ätsch) in ein furioses Drama-Gesamtkunstwerk aus Schauspiel, Musik und Tanz. Dass dem nicht so werden sollte, hätte ich wissen können, wenn ich mich über Regisseur Laurent Chétoune informiert hätte. Er scheint ja bekannt dafür zu sein, das Publikum mit spröden, wellholzgedehnten Inszenierungen aus dem Theater zu treiben und diese in „des Kaisers neue Kleider“-Manier als hohe Kunst zu verkaufen. Nur brauchen wir das haben in Karlsruhe ? Natürlich sind Experimente notwendig und die Suche nach neuen Ausdrucksformen. Das ganze wäre halb so tragisch, wenn nicht die ganze Schauspielsaison bisher eher enttäuschend verlaufen wäre. Viele Inszenierungen erinnerten eher an Studententheater, kaum was wird ernstgenommen, immer alles veralbert, die Hose entweder ganz runter oder zumindest in Rapperstellung, ach ja Rap, wenn nichts mehr hilft…
    Ok, ich hör ja schon auf. Positives: Fast immer waren die Schauspieler gut oder haben ihr Bestes gegeben, auch bei „Auf Kolonos“ und ich gehe weiter ins Theater. Ich geb die Hoffnung nicht auf ( wie beim KSC), vielleicht war diese erste Spuhler-Spielzeit ja erst so ne Art Warmlaufem und in der nächsten geht’s dann so richtig los. Das „Verrückte Blut“ demnächst ist vielleicht ein Anfang…
    Vielleicht oute ich mich als Ahnungsloser, aber trotzdem die Frage: Wissen Sie, ob Ihre m.E. sehr fundierten Analysen von den Verantwortlichen im Staatstheater wahrgenommen werden und gibt’s Feedback ?

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  8. @Rolando
    Vielen Dank für Ihren interessanten und ausführlichen Beitrag.
    Zu Ihrer Frage: ich weiß nicht, ob jemand von verantwortlicher Seite des Staatstheaters meine Eindrücke liest. Ich bekomme Rückmeldungen von Zuschauern, die sich entweder informieren oder Lob / Kritik an Inszenierungen äußern wollen.
    Bei Lob / Kritik verweise ich alternativ auf andere Wege. Es gibt ja gute Möglichkeiten, daß Staatstheater direkt mit Lob oder Kritik zu konfrontieren: bei jeder Vorstellung sind ansprechbare Mitarbeiter mit Namensschild anwesend, auf der Internetpräsenz gibt es ein Gästebuch, es gibt eine Facebook-Seite. Meine Seiten sind dagegen nur in geringem Maße repräsentativ und werden, wenn sie überhaupt innerhalb des Staatstheaters wahrgenommen werden, wahrscheinlich nur als marginale Quelle gehandelt.

    Eine Frage an Sie zu der von Ihnen besuchten Kolonos Aufführung: wie gut besucht war sie, wie viele Zuschauer waren schätzungsweise nach der Pause noch da und welchen Eindruck hatten Sie beim Applaus von der Publikumsstimmung?

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  9. Lieber Honigsammler,
    vielen Dank für Ihre schnelle Antwort. Zu Ihren Fragen:
    Die Plätze waren zu ca. 75% belegt, davon sind ca. 20% in der Pause Hälfte gegangen. Es waren also ca. 60% der Plätze bis zum Ende belegt. Der Beifall war ganz gut, m.E. galt er – wie auch unserer – den Schauspielern insgesamt und den durchaus starken Monologen von Hannes Fischer und Timo Tank in der zweiten Hälfte, nicht aber Inszenierung / Regisseur. Nach Hannes Fischer im nachfolgenden Publikumsgespräch war die Aufführung am Karfreitag 6.4. die bisher beste, was Schauspielerleistung, Kommunikation mit dem Publikum und dessen Schwund in der Pause betrifft. Angeblich waren mehr „Freiwillige“, soll heißen Nicht-Abonnenten da. Zum Publikumsgespräch blieben leider nur die Zuschauer, die die Aufführung sehr gut fanden – „Sprachkultur“, „hat was mit mir gemacht“, kritische Stimmen hatten wenig Chancen.

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    1. Vielen Dank für die rasche Rückmeldung!
      Für mich ist Ihre Antwort sehr interessant, da ich oft in die Premieren gehe und diese meistens noch Schwächen haben - viele Effekte und Affekte sind etwas überzogen, das Gleichgewicht noch nicht ganz vorhanden - die 3. oder 4. Aufführung sind meines Erachtens besser ausbalanciert als die Premiere.
      Ich schreibe hier meine Eindrücke im Abstand von ca 2 Stunden - die Eindrücke sind da noch intensiver und nicht gedanklich ausgereift, sondern spontan und direkt: Kritik fällt herber aus, Lob wird stärker. Ihr Bericht zeigt mir, daß "Auf Kolonos" durchaus auch seine "Anhänger" findet, aber doch sehr umstritten und diskutabel ist. Ich kenne niemanden, dem ich es empfehlen wollte.

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