Ab zum Psychiater
Der 1925 uraufgeführte Wozzeck ist quasi Carmen im prekären Milieu, wobei der aus Eifersucht und Zurücksetzung tötende Mann oberflächlich betrachtet ein Opfer sein könnte, zermürbt durch den Zynismus seiner Umwelt. Die neue Karlsruher Inszenierung interpretiert die Handlung nicht aus einer sozialen bzw. gesellschaftlichen Perspektive, sondern als psychische Krankheitsgeschichte - dieser Wozzeck gehört in die geschlossene Psychiatrie. Der Regisseur nutzt dieses Konzept, um eine visuell ungewöhnliche und sehenswerte Produktion auf die Beine zu stellen, die mit surrealen Szenen in die imaginäre Zwangswelt ihrer Titelfigur abtaucht und für jede der 15 Szenen bemerkenswerte Bildwelten erschafft, deren Sinn man jedoch nicht zu stark hinterfragen sollte. Justin Brown und die Badische Staatskapelle musizieren unter Hochspannung und das homogene Sängerensemble kann auftrumpfen - eine spröde und sperrige Oper wurde gestern zu einem Erlebnis. Es gab zu recht viel Applaus und teilweise stehende Ovationen.
Worum geht es?
Historischer Hintergrund: Johann Christian Woyzeck ermordete seine Geliebte und wurde 1824 in Leipzig hingerichtet. Der interessante Aspekt an den Tatsachen: es gab eine Fallstudie. Man diskutierte etwas, was es so in diesen Ausmaß bisher nicht oder kaum gab: eine verminderte Schuldfähigkeit des Mörders. Daß der Täter auch Opfer sein kann, hat seitdem Einzug in die Urteilsfindung gefunden. Woyzeck half es nicht: man befand ihn für zurechnungsfähig und tötete ihn. Das frühverstorbene Genie Georg Büchner (*1813 †1837) nahm sich ein Jahrzehnt später den Fall vor und schrieb sein Dramenfragment Woyzeck, daß man erst lange nach seinem Tod 1879 in falscher Schreibweise als Wozzeck veröffentlichte.
Handlung: Das Schicksal meint es nicht gut mit Wozzeck, er hat nichts, er ist nichts und wird nichts werden, finanziell ist er in prekären Verhältnissen, übt mehrere Tätigkeiten aus (darunter Experimentalpatient und Versuchskaninchen eines Quacksalbers), hat ein uneheliches Kind, dessen Mutter das Glück sucht, eine Affäre mit einem stattlichen Tambourmajor hat und das Verzweiflungsfaß zum Überlaufen bringt. Wozzeck ersticht sie, beim Reinigen der Tatwaffe ertrinkt er.
Was ist zu beachten (1)?
Die Hölle, das sind bekanntlich die anderen. Wozzeck malt davon kein Bild, sondern zeigt Ausschnitte, eine Oper aus Bruchstücken, komprimiert auf 100 Minuten, basierend auf einem Dramenfragment, was nicht mehr ausgeführt werden konnte. Die Handlung läßt sich leicht instrumentalisieren, egal, wer regiert, es gibt immer einen Wozzeck, den man ihnen zum Vorwurf machen kann; Egal, welcher Wozzeck mordet, die Medien werden ihn instrumentalisieren und unterschiedliche Maßstäbe anlegen, entweder verharmlosend als psychisch gestörten Einzeltäter oder anklagend als Stellvertreter einer zu diffamierenden Gruppe. Was würde heute mit einem Wozzeck passieren? Manche Feministinnen fordern, Tötungsdelikte an Frauen (neudeutsch: Femizide), immer als Mord zu werten - eine unsinnige Definition, wie bspw. auch Die Zeit feststellte (und zwar hier). Doch solche Rückentwicklungen zu überkommen geglaubter Primitivität und Totalität ist auch das Kennzeichen einer übergriffigen Politik, die freiheitliche Pluralität diffamiert, um ihr Lebensverständnis auf andere zwangsweise auszudehnen. Dschendern, Wokeness und Political Correctness sind die Kampfbegriffe von Pluralitätsgegnern, die sich darin gefallen, mit dem Zeigefinger auf andere zu zeigen, um sich mit einfachen Feindbildern moralisch zu profilieren. Die Karlsruher Inszenierung verzichtet auf Zeitbezüge, Sozialkritik oder Gesellschaftsanalyse zugunsten einer psychischen Krankheitsgeschichte.
Was ist zu beachten (2)?
Vor drei Jahren probte man am Badischen Staatstheater diesen Wozzeck, der die letzte Einstudierung des scheidenden GMD Justin Brown werden sollte. Doch dann kam die Corona-Epidemie, das öffentliche Leben schloss und verschwand, und kurz darauf begann die Situation mit dem damaligen Intendanten zu eskalieren, der nach einem langen, berüchtigten Jahrzehnt durch Proteste zur Abdankung gezwungen wurde und dadurch endlich den Weg für einen Neustart ebnete, der wohl aber erst 2024 mit dem neuen Intendanten Christian Firmbach beginnen kann. Das Programmheft ist noch größtenteils von Dr. Boris Kehrmann, der auch gestern im Publikum war, und auch Justin Brown ist zurück!
Was ist zu sehen?
Regisseur Maxim Didenko ist ein Multitalent: Regisseur, Choreograph und Tänzer, er erklärt im Programmheft: "Ich kreiere eine Art surrealistische Bilder, die etwas im Zuschauer auslösen. Wie man das erklärt, ist jedem selbst vorbehalten." Didenko hat also kein Konzept, er will nicht belehren oder den Zeigefinger heben, sondern verwendet Metaphern, Farben und Bilder, Projektionen und Videoeinspielungen - die Bühne wirkt originell und abwechslungsreich. Neben den Sängern wurden auch Tänzer engagiert, die der Handlung noch ein zusätzliches Element beifügen. Büchner zeigt mit Woyzeck eine Figur, deren Zustand der Entfremdung später bei Karl Marx Thema wurde. Entfremdung ist ebenso das Stichwort für Didenkos Inszenierung wie es für Alban Berg die musikalische Verfremdung ist. Das Ergebnis läßt sich in seiner Vielfalt kaum beschreiben und man kann nur guten Gewissens empfehlen: selber anschauen!
Was ist zu hören?
Justin Brown dirigierte gestern die Premiere und ließ das Publikum noch mal hören, wieso er als GMD so beliebt geworden ist: mal grell, mal subtil, stets farbig, präsent und sehr spannend - abgesehen von wenig verwackelten Stellen trumpfte die Badische Staatskapelle sowohl bei den vielen Orchesterzwischenspiele als auch den vielen solistischen Stellen groß auf.
Wozzeck kann vieles sein: gehetzt, geschunden und gedemütigt, betrogen, entwürdigt und ausgestoßen. Der als Gast engagierte Bariton Birger Radde muß der Titelfigur hingegen zusätzlich etwas Pathologisches verleihen und das gelingt ihm grandios: ob Sprechgesang oder Gesangsmelodie, man nimmt ihm den psychisch erkrankten Wozzeck in jeder Szene ab. BRAVO! Helena Juntunen als Marie hat insbesondere bei den dramatischen Stellen ihre Stärken, Matthias Wohlbrecht ist großartig als Hauptmann, Vazgen Gazaryan ein guter Arzt, Nutthaporn Thammathi ein höhensicherer Andres und Thomas Paul als Tambourmajor eine sehr gute Wahl. Doch nicht nur die zentralen Sängerrollen sind sehr gut besetzt, auch in den kleineren Rollen gibt es starke Besetzungen, insbesondere Jasmin Etminan mit so bemerkenswert schöner Alt-Stimme, daß man hoffentlich bald mehr von ihr zu hören bekommt.
Fazit: Eine eigenwillige, aber sehenswerte Inszenierung, grandiose Musiker und Sänger - Gratulation an alle Beteiligten und die Karlsruher Oper für diesen ungewöhnlichen und spannenden Wozzeck.
Besetzung und Team
Wozzeck: Birger Radde a. G.
Hauptmann: Matthias Wohlbrecht
Andres: Nutthaporn Thammathi
Doktor: Vazgen Gazaryan
Tambourmajor: Thomas Paul a. G.
1. Handwerksbursch: Nathanaël Tavernier
2. Handwerksbursch: Merlin Wagner
Der Narr: Einar Jónsson a. G.
Marie: Helena Juntunen a. G.
Margret: Jasmin Etminan
Mariens Knabe: Jonathan Dicker
Ein Soldat: Samuel Kim
Schauspielerin: Sandra Maria Germann a. G
Tänzer: Thomas Bauer a. G., Rosella Canciello a. G., Camilla Fiumara a. G., Nikolaos Fragkou a. G., Manuel Gaubatz a. G., Enora Gemin a. G., Jacqueline Krell a. G., Raquel Lefebvre Lanziner a. G., Shinnosuke Nagata a. G., Andrew Pan a. G
Musikalische Leitung: Justin Brown a. G.
Chorleitung: Ulrich Wagner
Regie: Maxim Didenko
Bühne & Kostüme: Maria Tregubova
Video: Ilya Starilov
Licht: Christoph Pöschko
Choreographie: Alexander Fend, Sofia Pintzou