Simon Boccanegra scheint bei Regisseuren beliebter zu sein als beim Publikum. In Karlsruhe gehört diese Oper Verdis neben manchen von Wagner zu den Spitzenreitern der letzten Jahrzehnte. Nach 1986/87 (Regie: Giancarlo del Monaco), 2005/06 (Robert Tannenbaum) ist nun die dritte Inszenierung in knapp 30 Jahren zu sehen. Es gibt weit publikumswirksamere und mitreißendere Opern, Simon Boccanegra scheint hingegen praxistauglich, trotz verworrener Handlung um Intrigen, Macht und Ohnmacht ist sie machbar und dankbar in der Umsetzung; del Monaco schrieb damals, daß er diese Oper gerne jedes Jahr wieder neu inszenieren würde. Gestern gab es nun erneut (und schon wieder) Verdis 1857 erfolglose und dann 1880/81 umfänglich renovierte Oper über den ersten Dogen von Genua - und es war sängerisch und musikalisch eine großartige Aufführung. Als Zuschauer konnte man gestern nach der Premiere von Verdis Simon Boccanegra nicht anders, als Solisten, Chor und Orchester zuzujubeln, das zentrale Sängerquintett mit Bariton Seung-Gi Jung in der Titelrolle begeisterte. Die konventionelle Inszenierung stört nicht, sie konzentriert sich auf Arrangement und Bebilderung und in ihren besten Momenten verdichtet sie die Dramatik zu packenden Momenten.
Ko-Spar-Produktion
Mit Erwartungshaltungen ist das so eine Sache. Beim neuen Simon Boccanegra handelt es sich um eine Koproduktion mit der Opera Ballet Vlaanderen (Antwerpen und Gent), dem Théâtres de la Ville de Luxembourg und der Opéra National Montpellier. Koproduktionen können aus unterschiedlichen Gründen sinnvoll sein: sie können den beteiligten Häusern eine aufwändige Inszenierung ermöglichen, die sie sich sonst nicht leisten würden. Sie können aber auch einfach zum Geldsparen konzipiert werden, dann hat man als Zuschauer den Eindruck, etwas Übliches bzw. Normales gesehen zu haben, das in der Produktion für die Oper aber deutlich günstiger war. Aus Karlsruher Sicht zielt diese Koproduktion nicht besonders hoch, es gibt keine staunenswerten Effekte, keine überdurchschnittlichen Aufwände. Regisseur David Hermann und Ausstatter Christof Hetzer haben in Karlsruhe bereits Die Trojaner, Boris Godunow und Das Rheingold auf die Bühne gebracht. Die Vergütung für ihre Leistung dürfte nicht das Budget übermäßig belasten. Diese Inszenierung ist leider kein Beispiel für eine gelungene Kooperation, in der die vereinten
Kräfte sich etwas leisten können, was man sich im Einzelfall evtl.
nicht getraut hätte. Es scheint also hauptsächlich darum gegangen zu sein, Geld zu sparen. Tja, schade und doch irgendwie passend zur defizitären Karlsruher Intendanz, die gerne tiefer und kürzer zielt, als man das in Karlsruhe erwarten darf.
Worum geht es? - Zeitgeschichtliches
In der Mitte des 14. Jahrhunderts dezimierte die Pest Europa. Die Ohnmacht gegenüber dem Schwarzen Tod
förderte das Leben im Jetzt. Bildung und Kunst als Verfeinerung zur
Erhöhung der Lebensintensität in einem erwartet kurzen, aber dafür aktiven Leben gewannen an Wert,
das Individuum trat aus dem Hintergrund heraus. Es begann, was man 500
Jahre später als Renaissance bezeichnen sollte. Das Italien des 14.
Jahrhunderts war in der Krise, ein politischer, sozialer und kultureller
Wandel setzte ein. Das duale Ordnungsprinzip Kaiser/Papst konnte nicht
mehr für Stabilität sorgen, kaisertreue Ghibellinen und papsttreue
Welfen rivalisierten, die aufstrebenden Stadtstaaten wie Venedig oder
Genua organisierten ihr Gemeinwesen neu und versuchten,
Regierungssysteme zu etablieren, die das Gleichgewicht der Macht sichern
sollten. Das Staatswesen und die Ausübung der Herrschaft rückte in den
Mittelpunkt, Niccolò Macchiavelli (*1449 †1519) summierte als Philosoph des
Machterhalts die Erfahrungen eines Jahrhunderts.
Worum geht es? - Handlung
"In diesem Werk liegen so viele Stränge und Elemente komprimiert übereinander", analysiert der Regisseur die verworrene Geschichte. Simon Boccanegra wird 1339 zum ersten Dogen von Genua gewählt und 1363 vergiftet. In Verdis Oper wird der Plebejer Boccanegra aus Liebe und als Marionette zum Politiker, um seine aus bester Patrizierfamilie kommende Geliebte Maria heiraten zu können, die ihr Vater von ihm weghält. Doch als Boccanegra am Ende des Prologs zum Dogen ausgerufen wird, bricht für ihn eine Welt zusammen: Maria ist tot, ihr gemeinsame kleine Tochter entführt, sein Schwiegervater Fiesco haßt ihn als Verführer seiner Tochter. Der erste Akt spielt 25 Jahre später, Intrigen und Rivalitäten setzen Boccanegra zu. Er findet durch Zufall seine Tochter wieder, die als Amelia Grimaldi wohlhabend bei Gegnern des Dogen aufwuchs und damit zwischen die Fronten gerät - die Grimaldi sind verbannt aus Genua, Fiesco ist unwissentlich der Vormund seiner Enkelin. Amelia ist verliebt und will Gabriele Adorno heiraten, dieser wiederum haßt Boccanegra, der seinen Vater hinrichten ließ. Boccanegras Vertrauter Paolo läßt zudem Amelia entführen, um sie zu heiraten und an ihre Mitgift zu kommen - eine Tat, die von Adorno unterbunden wird und auf Boccanegra zurück fällt, da noch niemand von der Vater-Tochter Beziehung weiß. Adorno stürmt mit Fiesco in den Stadtrat und will sich am Dogen rächen. Doch Amelia kann Boccanegra entlasten. Paolo stiftet Adorno an, den Dogen zu töten. Vorsorglich vergiftet Paolo auch noch Boccanegra und zettelt zusätzlich einen Aufstand an. Amelia vereitelt das Attentat Grimaldis, Boccanegra gibt ihm die Hand seiner Tochter, Fiesco vergibt dem Dogen, der Aufstand wird niedergeschlagen. Der vergiftete Boccanegra stirbt, Adorno wird zum neuen Dogen.
Was ist zu sehen?
Im Raum verschwimmt die Zeit, Altes und Neues stehen nebeneinander, Traditionslinien werden behauptet, das Individuelle geht im Historischen verloren. Die neue Inszenierung will das Zeitlose der Handlung zeigen. Laut Regisseur lautet die Frage seiner Inszenierung: "Wie verändert Macht Menschen? Was macht das charakterlich mit ihnen?"Nun ja, allzu viel sollte man bei dieser Inszenierung nicht hinterfragen, denn wie schon in den beiden letzten Karlsruher Inszenierungen von David Hermann zeigt sich, daß seine Stärken nicht im Erzählen von Geschichten und Dramen liegt. Er reiht Szenen aneinander, findet teilweise überragend gute Umsetzungen für einzelne Szenen, ein roter Faden oder tragender Spannungsboden sind nicht seine Sache. Szenen stehen disparat nebeneinander, ergänzen sich aber nicht. Bei Simon Boccanegra sind es insbesondere die Tableaus, die gelungen sind, das große Finale des 1. Akts ist bemerkenswert im besten Sinne des Wortes. Die Drehbühne zeigt einen Renaissancetempel, mit wechselnder Ausstattung. Die Bühnenbilder zeigen 2000 Jahre Menschheitsgeschichte, Michelangelos Abendmahl wird nachgestellt, man wechselt ins antike Rom, in die späte Renaissance und ins Hier und Heute. Der Prolog ist eine Rückblende, um keine Alterungsprozesse zeigen zu müssen. Boccanegra denkt zurück, die Figuren die auftreten tragen im Folgenden mehrere Kostüme aus verschiedenen Epochen. Gabriele Adorno erscheint in antik-römischer Soldatenmontur, in Jeans und Lederjacke und im Anzug, Amelia hat vier verschiedene Kostüme, Fiesco und Pietro sind anfänglicher in barockem Wams, Schärpe und mit weißer Halskrause, später landen sie auch im Heute. Der Doge ist hingegen stets ein Politiker in Anzug und Krawatte, die Ratsszene am Ende des 1. Akts ist eine Kabinettssitzung, die sich zu einem urchristlichen Bild grandios verwandelt. "Und wenn die Leute dann den Palast stürmen, wird die Demokratie, alles, was an zivilisatorischen Errungenschaften aufgebaut wurde, weggespült. Da befinden wir uns wieder anno 000, Auge um Auge, Zahn um Zahn. Deswegen bricht bei uns die Masse als Frühchristen herein." Diese Zeitenwechsel haben dennoch keine Triftigkeit, sie sind eine Manier, die überdeckt, daß weder für die Handlung noch für die Personen eine tragende Idee vorhanden ist. Letztendlich ist diese Inszenierung Bebilderung und Arrangement.
Was ist zu hören?
BRAVO an alle! Nicht nur waren gestern die Einzelstimmen in Bestform, auch in den Ensembles passten sie zueinander und ergänzten sich, das Ergebnis hörte sich mustergültig an. Die Titelrolle des Simon Boccanegra ist in gewissem Sinne undankbar: der Sänger hat keine einzige Arie. Darstellerisches Können ist gefragt, stimmlich und schauspielerisch: Seung-Gi Jung hat und kann beides, ihm gelingt der Spagat zwischen Darsteller und darstellender Stimme bravourös. Die Figur gewinnt bei ihm schnell Kontur, eine Last liegt auf ihm, unglücklich, resigniert und müde, Jungs kernige Stimme klingt oft samtweich und verletzlich. Sein Gegenspieler Jacopo Fiesco bekommt von Konstantin Gorny beeindruckende Statur, furchteinflößend zu Beginn, nachgebend am Ende, stimmlich stets präsent, beweglich und lebendig. Einen sehr schönen Erfolg erzielte Rodrigo Porras Garulo, der in der Rolle des Gabriele Adorno für die leidenschaftlichen Momente verantwortlich war und mit männlichem Timbre und schönem Tenor einen ganz starken Auftritt hatte. Der intrigante Paolo Albiani ist Nicholas Brownlee bestens aufgenommen. Der Bariton ist neu im Ensemble und empfahl sich gestern als Stimme für die zwielichtigen Rollen. Im Sommer singt er in Donizettis Anna Bolena den mehrfach verheirateten englischen König Heinrich VIII. Es ist eine Männerwelt, die weibliche Hauptrolle Amelia Grimaldi ist die Tochter und Braut, die ganz großen Gefühlsregungen bekommt der Sopran in dieser Oper nicht, Barbara Dobrzanska sang schon in der letzten Produktion dieses Rolle und glänzte auch gestern durch berückend schön gesungene Momente, in denen sie über den Ensembles tönend schwebt und sicher in der Höhe und im Ausdruck ist. Ilkin Alpay als Magd und Yang Xu als Pietro ergänzten in den kleinen Rollen das Spitzenquintett. Der Badische Staatsopernchor und die Badische Staatskapelle zeigten sich von ihrer besten Seite, der große Applaus für Chordirektor Ulrich Wagner und Dirigent Johannes Willig war hochverdient, aus dem Orchestergraben ertönte packender, spannender und effektvoller Verdi.
Simon Boccanegra gilt als Oper für die Verdi-Kenner und Fans und erinnert beim Anhören oft an andere Opern. Dramaturg Boris Kehrmann hat mal wieder ein umfassend kompetentes und hochkarätiges Programmheft geschrieben, in dem er u.a. die Musik der Oper mehrseitig analysiert. BRAVO! Unabsichtlich stellt Kehrmann stets den offiziellen "Chefdramaturgen" des Badischen Staatstheaters bloß, der bisher nichts Vergleichbares an Substanz und Gedankentiefe gezeigt hat. Da spart man am Theater, investiert in Koproduktionen und leistet sich dafür überflüssigerweise einen Chefdramaturgen, der bisher keinen nennenswerten Beitrag für das Publikum vorzuweisen hat. Wenn es gerecht nach Leistung gehen würde, ... na, dann gehörte wahrscheinlich mancher Posten anders besetzt.
Fazit: Ein sehr schöner Erfolg für Sänger und Musiker in einer harmlosen Inszenierung.
PS (1): Wenn man die alte Karlsruher Opernaufführungsgeschichte anhand der vorhandenen und verfügbaren Theaterzettel in der Landesbibliothek analysiert, findet man zwischen 1849 und 1943 ca. 500 Verdi-Aufführungen: man spielte nur wenige der 26 Opern, das Publikum schien aber klare Vorlieben zu haben: Troubadour (158 mal), Aida (108), Rigoletto (68) und Traviata (66), Maskenball (33), Otello (32), Falstaff (20), Ernani (9) und Die Macht des Schicksals (5). Simon Boccanegra hatte erst 1940 seine erste Aufführung in Karlsruhe. Auffallend ist, was man damals anscheinend nicht oder selten spielte: Nabucco, Macbeth, die Schiller-Opern Luisa Miller, Masnadieri und Don Carlos.
PS (2): Langsam darf man sich auf das Ende der Intendanz von Peter Spuhler
freuen und hoffen, daß das kommende Jahrzehnt endlich wieder mehr Freude, Können und Interesse an der größten Sparte
unter einem neuen Intendanten zeigen wird. Neben
einem neuen Mozart- und Richard Strauss-Zyklus könnte es auch wieder
mehr Verdi geben: Nabucco, Stiffelio, Trovatore, Les vêpres siciliennes, La forza del destino und Aida gab es lange nicht mehr.
Besetzung und Team:
Simon Boccanegra: Seung-Gi Jung
Jacopo Fiesco: Konstantin Gorny
Paolo Albiani: Nicholas Brownlee
Amelia Grimaldi; Barbara Dobrzanska
Gabriele Adorno: Rodrigo Porras Garulo
Pietro: Yang Xu
Eine Magd Amelias: Ilkin Alpay
Musikalische Leitung: Johannes Willig
Regie: David Hermann
Bühne & Kostüme: Christof Hetzer
Licht: Fabrice Kebour
Chorleitung: Ulrich Wagner
Seit 1988 bin ich steter Besucher des Badischen Staatstheaters. Bei vielen Opern-, Theater-, Konzert- und Ballettvorstellungen im Jahr und Besuchen in anderen Städten verliert man schon mal den Überblick. Dieser Tagebuch-Blog dient mir seit der Spielzeit 2011/12 als elektronische Erinnerung. Bitte beachten Sie meine Intention: ich bin kein Journalist oder Kritiker, sondern schreibe hier lediglich persönliche Eindrücke, private Ansichten und Vermutungen für mich und Angehörige nieder.