Schauspieldirektor Jan Linders abgesagte letzte Premiere
Die letzte Premiere ist vorbei, besser gesagt, sie findet gar nicht statt: Wilhelm Tell wurde abgesagt. Man hatte wahrscheinlich keine adäquate Idee, erneut scheint es ein Kreativitätsdefizit, ausgelöst durch die Enge des weltanschaulich verklemmten Theaters. Dennoch muß man Linders danken: in den letzten Jahren kam zu viel Unausgegorenes und Oberflächliches auf die Karlsruher Bühne und daß man nun den Mut zeigt, etwas lieber nicht zu präsentieren, anstatt dem Publikum zum Abschluß eine Pleite mit Ansage vorzuführen, war eine gute Entscheidung. Die verpatzte Dernière ist dennoch typisch für die letzten fünf Jahre. Immerhin hatte man seit der Veröffentlichung des Spielplans 2015/2016 im Frühjahr 2015 mindestens 14 Monate Zeit, um Schillers Stück zu realisieren, in gewissem Sinn hatte man eine maximale Vorbereitungsphase bis zur letzten Premiere der Saison - und doch konnte man sie nicht auf die Bühne bringen. Die versemmelte und abgesagte Dernière steht repräsentativ für die qualitativen Probleme, mit denen man am Karlsruher Schauspiel in den letzten fünf Jahren zu kämpfen hatte und die die Postenaufgabe Linders ins richtige Licht rückt.
Jan Linders fällt dennoch weich, Intendant Spuhler hat für ihn einen Posten geschaffen, den es zuletzt gar nicht und in den letzten Jahrzehnten kaum gab und der auch nicht erforderlich erscheint: Linders wird vom Schauspieldirektor zum "Chefdramaturg". Diese Postenbeschaffungsmaßnahme in Zeiten von Sparzwängen wird manchen Zuschauer an ein Zuschustern von Posten in politischen Seilschaften erinnern - ein Beigeschmack, den diese Entscheidung zukünftig kaum verlieren dürfte.
"Was für ein geiziges Theater!"
Vor allem geizte man im Karlsruher Schauspiel an Spielfreude, an Phantasie und Kreativität, an Bemerkenswertem,
an Schauspielkunst, an überzeugender Ästhetik, Freude am
Schauspiel, immer wieder an Freude - es war zu oft freudlos, wenig durchdacht, wenig sinnlich, zu belanglos.....
Positiv betrachtet erlebte man als Zuschauer in den letzten Jahren ein Learning on the job,
eine vom Steuerzahler gut bezahlte Fortbildungsmaßnahme mit Lernerfolgen: man tauschte
viele Mitarbeiter aus, Dramaturgen kamen und gingen, von den 17
Schauspielern, die Linders 2011 mitbrachte, sind beim Neustart 2016/17
gerade noch 3 übrig. Kontinuität und Entwicklung sehen anders aus, aber
zumindest reagierte man auf die Defizite und harsche Kritiken und versuchte, den
Qualitätsabfall zu kompensieren. Trotzdem hat vieles am Theaterkonzept von Linders/Spuhler in den vergangenen Jahren etwas Plakatives, bei dem man nicht weiß, ob man den Kopf schütteln soll oder ob damit bereits die Schwelle zur Selbstkarikaturisierung des Theaterbetriebs überschritten wird. Von der Ideenlosigkeit im Schauspielbetrieb versuchte man durch viele Klein- und Kleinstprojekte abzulenken, ein Klienteltheater, bei dem man mit zu viel Aufwand zu wenige erreichte und mit geringer Attraktivität für all jene produzierte, die nicht zur Zielgruppe gehören. Man investierte auf Kosten des Schauspiels in ein Konzept des aufgeblähten Kulturzentrums mit sozialpolitischer Stoßrichtung und der dazugehörigen Reduktion auf weltanschauliche Belehrung und Besserwisserei, die dem entspricht, was die Wochenzeitung DIE ZEIT als Entwertung der Theater zu "Herstellungsapparaten korrekter Gesinnung" bezeichnete. Ein spießig-biederes Kunstkonzept, das der Politik oder einer Partei dienen und gesellschaftspolitische Aufgaben wahrnehmen will, erinnert an unschöne Zeiten und stellt einen tückischen Fall politischer Blindheit dar, der Selbstgerechtigkeit als Weltgerechtigkeit verkaufen möchte.
Am Badischen Staatstheater schwärmt man ja sehr gerne von sich selber und bezieht Worte auf sich, die meines Erachtens kaum falscher eingesetzt werden können: "Vielfalt" anstelle von Konformismus, Mangel, Defizit und Einfallslosigkeit, "berührend" anstelle von bieder, "politisch" anstelle von weltanschaulich. Im Einsatz falscher Wertigkeiten, erhobener Zeigefinger und vordergründiger Relevanz erinnert man in der Karlsruher Intendanz an frühere niedergehende Strukturen mit Tunnelblick; einst fand man falsches Sendungsbewußtsein und andere belehrende Moralapostel, Scheinheilige und Besserwisser auf der Kirchenkanzel vor, heute haben sie anscheinend Zuflucht in den Theaterleitungen gefunden - man könnte meinen, daß ein Klerikertypus seine Profession gewechselt und dabei doch der Show und Täuschung in gewisser Weise treu geblieben ist. Das Theater Spuhler'scher Prägung benötigt Reformation und Aufklärung, um aus konformer Einseitigkeit zu wahrer Vielfalt zu kommen.
Und wie man in diskreter Umgebung hören kann, hat diese polarisierende und ausgrenzende Theaterausrichtung des Intendanten auch durchaus manchen Politikern im Karlsruher Gemeinderat Einsparungspotential aufgezeigt und die Entscheidung für Etatkürzungen leicht gemacht. Wieso soll man für ein einseitig politisierendes Gesinnungstheater, das keine Ambivalenzen kennt und nur Konformes produzieren will, einen zweistelligen Millionenbetrag ausgeben, wo andere Sozial- und Kultureinrichtungen in Relation mit relativ weniger Geld mehr Personen erreichen? Wenn Theater ihre Bedeutung und Stellenwert nicht mehr kennen, ergibt sich tatsächlich Einsparungspotential für Steuergelder.
Die Mär von der gestiegenen Zuschauerzahl, die im Schauspiel tatsächlich gesunken ist
Man gaukelt den Leichtgläubigen ja gerne vor, daß man mehr Zuschauer hätte, verschweigt aber, daß dies nur durch Tricks möglich war: 2011/12 hatte man 793 Veranstaltungen statistisch erfaßt, 2012/2013 stieg die Zahl auf 1162. Früher zählte man nur Eintrittskarten, nun auch Besucher, die z.B. an einer kostenlosen Veranstaltung teilnehmen. Die Statistiker der Stadt Karlsruhe machen seriöserweise darauf aufmerksam, daß Vergleiche nicht wirklich möglich sind: "Im Jahr 2013 bzw. der Spielzeit 2012/2013 wurden auch theaternahe Veranstaltungen und Führungen in die Statistik mit aufgenommen. Die Daten sind daher mit den Vorjahren nur bedingt vergleichbar." Man zählt also anders und so, daß es mehr erscheint, man hat die Anzahl der Vorstellungen massiv erhöht bei gleichzeitiger Senkung der Qualität. Immer mehr Aufwand für immer weniger Zuschauer - man überreizt ein System, das dem Nachfolger des Intendanten um die Ohren fliegen könnte.
Erfolgreich war man bei der Gewinnung von Schulen, manche Vorstellungen erlebten ungewöhnlich hohe Aufführungs- und Zuschauerzahlen durch schulische Zwangsbesucher - hier steckt tatsächlich ein Erfolg der aktuellen Intendanz bzw. Schauspieldirektion.
Noch mal zur Zuschauerauslastung: in den Statistiken verbergen sich auch aussagekräftige Zahlen: Im Kleinen Haus, dem Standard-Ort für das Schauspiel hatte man 2002/2003 58.492 Zuschauer, 10 Jahre später waren es stagnierende 58.271, im mißglückten ersten Jahr (Saison 2011/12) hatte Linders im Kleinen Haus sogar nur 48.605 Zuschauer. Wenn man die vielen Schüler relativiert, die von ihren Lehrern mitgebracht wurden, kann man effektiv von einem Rückgang der freiwilligen Zuschauer im Kleinen Haus (und damit vorrangig im Schauspiel) schließen. Tatsächlich hat dieser effektive Rückgang der Zuschauerzahlen Gründe, die auch Jan Linders Abgang als Schauspielchef konsequent erscheinen lassen: zu viele ungenügende Leistungen, uninteressante Produktionen und mittelmäßige Theaterarbeit. Der abgesagte Wilhelm Tell ist tatsächlich symptomatisch: man kann nicht, wie man will, man hatte im Schauspiel zu wenig bemerkenswerte Ideen und investierte zu viel in Nebenbaustellen. Publikumszugewinne gab es außerhalb des Schauspiels im Kleinen Hauses durch Musicals im Großen Haus sowie durch Kleinveranstaltungen und wie erwähnt durch eine erhöhte Anzahl an Vorstellungen und mehr Schüler.
Fazit: Was die Süddeutsche Zeitung 2011 als Charakterisierung über die Theatermacher Spuhler/Linders beschrieb, bleibt als Eindruck weiterhin aktuell: eine Profilierungssucht, die das Eigentliche nicht mehr sieht, die den unguten Eindruck vermitteltet, daß es hier hauptsächlich nur um den Betrieb, weniger um die Sache und schon gar nicht wirklich um Qualität geht. Wo sich Lerneffekte einstellten (und es gibt sie), erschien das eher im Hinblick auf den nächsten Karriereschritt.
Persönliches Fazit: 53 besuchte Schauspielvorstellungen in fünf Jahren - das klingt zwar masochistisch, war aber viel mehr eine Übung in Stoizismus mit regelmäßig blutendem Herzen und seltener Begeisterung.
Und noch ein Zitat, das von Esther Boldt stammt (und zwar hier), wiederum aus der Wochenzeitung DIE ZEIT, und all das in andere, allgemeinere Worte faßt, was als konkretes Unbehagen und Leid oben beschrieben wurde:
"Was für ein geiziges Theater! Es produziert keine Reste,
keine Überschüsse. Es verschenkt nichts, es öffnet nichts, es weiß
bereits alles selbst. Aber war nicht die Ambivalenz, die Vieldeutigkeit
einmal das Wesen moderner westlicher Kunst? War es nicht einmal ihre
Rolle, sich der vermeintlichen Realität zu widersetzen und "die Fiktion
einer anders funktionierenden Welt" (Nicolas Bourriaud) zu erzeugen,
indem sie ästhetische Reibungsflächen schuf, die entorteten, verstörten
und irritierten? Die mit etwas konfrontierten, das sich nicht auf den
ersten Blick erschloss, das sich nicht mit Alltagserfahrung deckte, das
sich nicht auf den Begriff bringen ließ? Dieser Eigensinn wird dem
Theater gegenwärtig gründlich ausgetrieben. Anstatt in einer höchst
komplexen Gegenwart Anschluss- und Reflexionsmöglichkeiten zu eröffnen,
scheint es primär darum zu gehen, möglichen Missverständnissen
vorzubeugen und alles richtig zu machen. Wobei natürlich am
erstaunlichsten ist, dass es das im Theater des 21. Jahrhunderts geben
soll: das Richtige.
Ginge es nicht vielmehr darum, vermeintliche Gewissheiten zu befragen –
und mit ihnen auch das Zustandekommen eines öffentlichen Konsenses? Das
Theater ist ein Ort, der eine besondere Öffentlichkeit schafft, ein Ort
der "schweren Körper" und der "realen Versammlung" (Hans-Thies Lehmann),
ein Ort, an dem die Rezeption und Produktion von Kunst zugleich
stattfinden. Als solcher könnte es seine ureigenen Potenziale
wiederentdecken, Öffentlichkeit herzustellen, diese zu hinterfragen und
mit ihr beispielsweise auch jene vorherrschenden Mediendiskurse, die
zurzeit weitgehend fraglos als fortlaufende Behauptung von Gegenwart
akzeptiert werden. Wo Erregung zum omnipräsenten Gestus geworden ist und
"Empört euch!" zur erfolgreichen Formel, da könnte das Theater
intervenieren, indem es andere Formen von Kritik erprobt. Indem es
tatsächlich eine Gegenöffentlichkeit schafft und fragt, was Kritik
eigentlich ist, aus welcher Perspektive sie geübt wird – und mit welchem
Ziel. Und unversehens könnte es werden, wonach es sich am meisten
sehnt: relevant. "
Seit 1988 bin ich steter Besucher des Badischen Staatstheaters. Bei vielen Opern-, Theater-, Konzert- und Ballettvorstellungen im Jahr und Besuchen in anderen Städten verliert man schon mal den Überblick. Dieser Tagebuch-Blog dient mir seit der Spielzeit 2011/12 als elektronische Erinnerung. Bitte beachten Sie meine Intention: ich bin kein Journalist oder Kritiker, sondern schreibe hier lediglich persönliche Eindrücke, private Ansichten und Vermutungen für mich und Angehörige nieder.
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Vielen dank für ihre Klarstellung zum Interview in der BNN. Journalismus und Medien stehen allerorten in der Kritik, die BNN erscheinen mir nun auch nicht als Hort investigativer Presse. Bei dem Linders Interview habe ich mich dennoch geärgert, kein Nachhaken, keine kritischen Fragen, es liest sich, als hätte Linders Fragen und Antworten selber formuliert und Herr Jüttner von der BNN assistiert nur als Alibi. Selbst bei so etwas harmlosen wie Theater bekommt die Zeitung nur noch Blabla fertig.
AntwortenLöschenth.
Hallo Th., für mich ist das Interview kein Blabla, sondern auf amüsante Weise interessant. Daß die BNN angesichts bevorstehender Diskussion über Sparmaßnahmen nicht kritisch sein will und alles bejubelt, kann ich nachvollziehen. Man spürt beim Lesen den Rechtfertigungsdruck am Staatstheater, man weiß, wie es von außen aussieht - 5 mittelmäßige Jahre und jetzt wird der Schauspielchef aus der Schußlinie genommen und bekommt zum Dank einen hübschen (aber gar nicht erforderlichen) Posten und darf sich auch noch Stellvertreter des Generalintendanten nennen. Das klingt für wie ein Karikatur-Lehrbeispiel. Und dann das lustige Selbstbild, ein bißchen Pipi Langstrumpf steckt auch in dieser Intendanz: "ich mach mir die Welt, wie sie mir gefällt", einfach mal schönreden und schönrechnen, wird schon keinem auffallen, doch das Rendez-vous mit der Realität ist ernüchternd. Also wegschauen und so tun, als wäre nichts gewesen. Mir fällt es beim Lesen wirklich schwer, ernst zu bleiben. Der Schauspieldirekor hat vermutlich einen Sinn für Humor, den er an sich selber noch gar nicht entdeckt hat. Wobei manchmal fühle ich mich hier als Tagebuchautor ein wenig wie Danton, der Robbespierre ins Gewissen reden will.
LöschenHallo Honigsammler,
Löschenich kann Ihnen wie immer zustimmen. In allem.
Nur bei einem Punkt muss ich (als Lehrer) widersprechen.
Ich kann verstehen, dass ein erwachsener Schauspielzuschauer keine Lust auf eine sehr reduzierte (evtl. mit viel Klamauk) Theaterfassung eines Klassikers hat. Ich kann auch verstehen, dass man meint, das Sandkorn-Theater o.a. sollten Kinder- und Jugendtheater übernehmen, gar keine Frage.
Aber ein Jugendlicher, der zB im "Vornamen" war, kennt dies Haus, der geht evtl. auch mit in einen "Nussknacker" oder in einen "Falstaff". Und mit evtl. meine ich nicht die Frage, ob er geht oder nicht. Das entscheiden wir als Lehrer. Er geht mit, aber hat eventuell sogar Freude oder Spaß oder Anregung. Theater, Oper, Ballett zu - für einkommensschwache Familien, welche den Sinn eines Besuchs eines Theater nicht so ganz nachvollziehen können - moderaten Preisen (inklusive Fahrkarte, KVV), das ist schon eine ganz tolle Geschichte. Ich bin schon früher mit Klassen in der alten Intendanz "irgendwo unterm Dach" gesessen, jetzt sitzen Schulklassen für 8-9€ in der 4.,5.,6. Reihe am Rand (im Großen Haus). Das ist ein himmelweiter Unterschied. Als Berufsmensch, als Lehrer, ist diese Intendanz ein Segen: preislich, inhaltlich (Jugendkonzerte, ...), zielgruppenorientiert (Schwerpunktthemen ABI, RS). Das ist ein Verdienst der neuen Intendanz. Ein Theater wie das Sandkorn kann das gar nicht leisten. Preislich nicht und bühnentechnisch nicht.
Als Privatmensch ärgere ich mich gleichwohl über die Eintönigkeit des Programms und ins Schauspiel "schleppe" ich keinen meiner Freund mehr ... Aber das ist nur die eine Seite der Medaille.
Herzlichen Dank für Ihren Kommentar und ja, wenn etwas richtig gut und lobenswert in den letzten Jahren scheint, dann daß es für Schüler und Studenten in vielerlei Hinsicht einfacher und viel attraktiver als früher geworden ist. Spuhler hatte ja selber zu Beginn seiner Laufbahn die Position als Leiter des Kindertheaters und das scheint abzufärben.
LöschenWenn ich da an meine Schülerzeit zurückdenke! Damals gab es kein Internet und schriftlich bestellen konnte ich auch nicht (kein Einkommen, kein Girokonto, keine Schecks) und der Vorverkauf begann samstags für die kommende Woche. Wenn samstags kein Schulunterricht war (damals 14-tägig) stand ich um 7.30 auf (meine Eltern schliefen noch), um 9 Uhr, wenn die Kassenhalle des Staatstheaters geöffnet wurde, schnappte ich mir einen der Stühle von den Tischen und setzte mich an die Kasse, die eine Stunde später um 10 Uhr öffnete. Damals war es durch viele Abos gar nicht so leicht, an günstige Karten zu kommen, teilweise bildeten sich vor 9 Uhr schon Schlangen, ich stand (oder saß) mindestens 70 Minuten an. Ich nahm oft Karten für das, was noch nicht ausverkauft war. Ein Aufwand, der heute kaum noch vorstellbar scheint.
Also ja, heute wäre ich gerne Schüler. Wenn etwas richtig gut geworden ist, dann scheint das der Zugang für Schüler. Nur schade, daß das Kernprogramm Oper und Sprechtheater so unterschiedlich gelitten hat - im Schauspiel hat man einen abwechslungsreichen Spielplan, aber kaum bemerkenswerte Produktionen, die Oper hat viele bemerkenswerte Produktionen, aber einen reduziert-monotonen Spielplan
Sehr geehrter Honigsammler,
AntwortenLöschenIch teile manche Ihrer Sorgen und war in den letzten Jahren auch oft enttäuscht. Allerdings ist das Ballett nach wie vor erste Sahne und die Oper meist auch (wenn nicht gerade wieder ein GMD sich mit einem Ring profilieren muss). Die Heranführung der Jugend ist wichtig, und sie ist gelungen, das sehe ich genau so wie Sie. Am meisten stört mich persönlich das peinliche Selbstlob des Marketings.
Aber:
Die skandalösen Sparbeschlüsse sind zu kritisieren, ganz unabhängig von der Qualität der aktuellen Intendanz! Es besteht eine jahrzehntelange gute politische Tradition, die fast so alt ist wie die Stadt selbst, dass dieses Orchester und Theater zu den ersten Prioritäten gehört. Die Herren und Damen Stadträte haben einen Verfassungsauftrag zur Kulturförderung zu erfüllen, und zwar unabhängig davon, wer gerade Schauspieldirektor oder Intendant ist. Das wäre ja noch schöner, wenn wir ausgerechnet den Stadträten die Kompetenz zusprächen, die künstlerische Qualität des Theaters zu bewerten! Und mit Geld-Entzug oder Belohnung zu honorieren!
Ich hoffe, damit keine Stadträte zu beleidigen, es gibt sicher auch ein paar Kunstkenner unter ihnen, aber es geht um den Grundsatz, dass der Staat Kunst ermöglicht – und ihr die Freiheit lässt, mal eine Krise durchzumachen, mal einen Höhepunkt. Der Staat ist NICHT der Kunstrichter, sondern er ermöglicht sie.
Hoffentlich.
Ernst Ott
Auch Ihnen herzlichen Dank für Ihren Kommentar Herr Ott.
LöschenVor wenigen Jahren am Ende der Intendanz von Achim Thorwald gab es die Einsparungsdebatte schon einmal, im Herbst 2010 standen angeblich 45 Stellen auf dem Spiel, auch damals standen das komplette Schauspiel und die Händel Festspiele auf der Kippe; es kam zum Glück anders. Eine große Überraschung konnte man dann allerdings bei einer Ansprache von Peter Spuhler bei seinem ersten Karlsruher Theaterfest 2011 erleben, dort kündigte er an, Geld für neue Themen in die Hand zu nehmen, obwohl er -wie er mehrfach betonte- nicht mehr Geld bekommt. Keine clevere Strategie - fürs mitdenkende Publikum und anwesende Politiker ergab sich damals die Schlußfolgerung, daß offensichtlich mehr als genug Geld im Theater vorhanden ist. Inzwischen wurde umstrukturiert, neue Mitarbeiter eingestellt, es gibt neue Sparten, sogar das unbedeutende Volkstheater ist als Sparte unabhängig und ist gleichberechtigt neben Oper und Ballett – warum nur? Und wie konnte man diese Neueinstellungen und Kosten finanzieren? Mehr Geld gab es nicht, man hört, daß Sachmittel in Mittel für Personalkosten umgewandelt und zweckentfremdet worden sein sollen, die Einsparungen scheinen vor allem die Oper zu betreffen, deren frühere programmatische Vielfalt mit 30%er Kürzung während der aktuellen Intendanz in den letzten Jahren verheerend ausfielen, manche Sänger scheinen kaum noch etwas zu singen zu haben und treten -obwohl sie in den besten Jahren sind- kaum noch in Erscheinung. Die Reduzierung des Opernprogramms erscheint umso befremdlicher, wenn man die ursprüngliche Intention des Generalintendanten im Ohr hat, das Theater auch in Richtung Bürger mit Migrationshintergrund zu öffnen. Und womit soll man Neubürger mit vielleicht nicht perfekten Deutschkenntnissen besser im Theater verankern als mit Vorstellungen auf Basis von Musik? Doch weder Ballett noch Oper (beide Ensembles sind herausragend international) wurden besser gestellt, statt dessen investierte man in Nebenbaustellen, die man nun vielleicht wieder schließen muß. Man darf sich nicht wundern, daß die Einsparungsdebatte angesichts der scheinbar so großzügigen finanziellen Ausstattung erneut aufkommt.
Und mit den sozialpolitischen Maßnahmen erreicht man mit einigem Geld nur sehr wenige Profitierende. Das Theater will unbedingt relevant sein und zeigt doch umso stärker, daß das Spuhlersche Konzept falsch ist. Einige wenige Flüchtlinge, Migranten und Jugendliche am Theater in Projekte einzubinden, erscheint mit die luxuriöseste Form der Förderung. Das Geld kann tatsächlich sinnvoller verwendet werden. Und das hat auch nichts mit mehr mit Kunstfreiheit zu tun. Spuhler zeigte der Stadt Einsparungspotenzial auf. Beliebt hat er sich bei manchen Fraktionen auch nicht gemacht und über 90% der Politiker haben für die Einsparungen gestimmt (wenn ich das richtig verfolgt habe). In die allgemeine Politikerschelte kann ich grundsätzlich nicht einstimmen. Ich kann den Gemeinderat verstehen, Karlsruhe droht eine eklatante Schieflage und anscheinend alle müssen sparen. Schuldige will ich gar nicht benennen, der neue Gemeinderat hat mit den Folgen des letzten Jahrzehnts zu kämpfen. Und auch sonst kommt niemand im reichen Baden-Würtenberg, um den Geldhahn aufzumachen. Für mich handeln die Politiker verantwortlich. Auch wenn ich als treuer Theatergänger für sechs Jahre darunter zu leiden hätte, kann ich keinen Vorwurf formulieren. Die Einsparungen, so bitter sie sind, kann ich verstehen, mit 4% weniger ist meines Erachtens die Kunstfreiheit noch nicht in Mitleidenschaft gezogen.
Trotzdem wäre ich glücklich und beruhig, wenn der Kelch auch diesmal vorübergehen wollte .... ich glaube nur nicht wirklich daran.
Small Town Boy, Falk Richter
AntwortenLöschenPremiere am 5.6.2016 (Studio)
Lieber Honigsammler,
für eine Premiere war Jan Linders doch noch zuständig; offenbar traute er sich nicht, diese ins Kleine Haus zu transportieren.
Mein Premiereneindruck: Hervorragende Schauspieler führen uns kurzweilig durch Richters Texte und szenische Biographien. Lockere szenische Zusammenhänge, indes kommen die Szenen nicht zu einem Zielpunkt zusammen. Sammelsurium, Freak Show, Biographiesplitter – alles Mögliche drängt sich dem Betrachter auf, nur nicht ein in sich stimmiges Handlungskonzept. Okay, es ist ja auch kein Stück, sondern ein „Rechercheprojekt“, uraufgeführt am Berliner Gorki-Theater, umgeschrieben für Karlsruhe. Das „Zielgruppentheater“ Spuhlers / Linders’ bekommt spätestens ab jetzt eine zusätzliche Definition und damit ein dankbares Publikum. „Maienlieder“ und Spamalot“ wurden auf diesem Weg schon gezeigt.
Vorgeführt wird, dass aller Liberalisierungen zum Trotz sich Menschen diverser sexueller Orientierung wieder zunehmend bedrängt fühlen, dabei munter im Gegenwarts-Berlin allerlei Projekten hinterher jagen und dabei recht orientierungslos wirken. Gegen deren Angst wird umgekehrt heftig Angst gemacht vor AfD, Pegida und Radikal-Religiösen. Die Stuttgarter Demonstrationen gegen Stochs missglückte und ein Jahr später auf Kretschmanns Fingerzeig hin entschärfte Leitlinien zur sexuellen Vielfalt im neuen Bildungsplan werden herangezogen.
O-Töne von Stuttgarter Demonstranten werden eingeblendet, um die Gefährdung der Liberalisierungserfolge aufzuzeigen. Ein ewiglanger Monolog voller Anfeindungen wegen homophober Aussagen diverser Politiker vernichten schließlich das brüchige, aber meist erheiternde Handlungsgefüge und funktionieren die Bühne zur Agitprop-Plattform um. Erziehungstheater möchte ich das nennen. (Und das knüpft ganz und gar nicht an Schillers „Schaubühne als moralische Anstalt an“, weil die Bühnenprotagonisten selbst so feindselig agieren wie ihre Gegner.
Das entmündigt den Zuschauer, beleidigt dessen eigenes Urteilsvermögen und lässt vergessen, dass es zum Thema weit Besseres gibt. (Martin Sperr „Jagdszenen in Niederbayern“, Musil „Die Verwirrungen des Zöglings Törleß“, Manuel Puig „Der Kuss der Spinnenfrau“, J.-P. Sartre „Geschlossene Gesellschaft“, Chrisptopher Isherwood „Goodbye to Berlin“ („Cabaret“), Lee Hall „Billy Elliot“, Virginia Woolf „Orlando“ und viele andere Texte und Filme mehr.)
Nach zwei Stunden gab es lang anhaltenden Applaus und standing ovations. Endlich hat man es dem Putin, der Steinbach, der von Storch und überhaupt der AfD mal richtig gezeigt, wo es lang geht.
Ich wüsste gerne, warum Richters „Recherchestück“ nicht im Kleinen Haus aufgeführt wird.
Ich vermute, dass Angst vor offenen Protesten besteht.
Der begleitende Text im ‚Magazin 18’ „Schreiben gegen die Angst“
macht unrichtigerweise glauben, als hätten Lehrkräfte in BW nicht schon seit Jahrzehnten darauf hingewirkt, dass „Homosexuelle und Regenbogenfamilien“ Akzeptanz finden.
Mehr von Steffen Becker in der „Nachtkritik“: http://www.nachtkritik.de/index.php?option=com_content&view=article&id=12670:small-town-boy&catid=38&Itemid=40
Vielen lieben Dank für Ihren umfangreiche Anmerkung! Small Town Boy war ein Tag nach der Bellini-Premiere und kam mir ungelegen. Und bei Jan Linders habe ich gelernt, daß ich nicht alles sofort und unbedingt sehen muß. Dazu kommt, daß ich mit Falk Richters Texten nicht warm werde – wie Sie schreiben: ein Sammelsurium ohne Zusammenhänge. Die Berliner Fassung von Small Town Boy habe ich gelesen, ohne daß mich irgendwas davon fasziniert oder nur interessiert hätte. Ein Krawallstück, das zeigt, daß auch Homosexuelle Pegida sind. Nach dem Umschreiben scheint es nicht besser geworden zu sein. Wenn es mal an einem meiner freien Abende gespielt wird, schau ich es mir vielleicht an. Allerdings solidarisiere ich mich bei AgitProp und Beschimpfungen bevorzugt mit dem Opfer bzw. dem Angegriffenen – ich werde es also doch besser unterlassen. Aber es ist auffällig, wie schwer man sich auch in dieser Hinsicht im Karlsruher Schauspiel mit der Stückwahl tut: Man möchte gerne etwas für und über Homosexuelle machen und bekommt nichts hin: Maienschlager ist für mich Kitsch, den Text zu dem Stück las ich mit wachsendem Widerwillen, Spamalot zeigt Homosexuelle als Witzfiguren, Falk Richter hat auch keinen sympathischen Ansatz – desorientierte, verbitterte oder ordinäre Figuren. „Gut gemeint“ ist halt kein „gut gemacht“ und gutes Theater ist Kunst, nicht Gesinnung. Die Texte, die Sie aufzählen, sind die viel bessere Wahl.
LöschenEs scheint, als ob ein Umzug von Small Town Boy ins Kleine Haus geplant ist. Im Studio werden nur wenige Zuschauer kommen, im Abo werden sich einige darüber aufregen: heutzutage sind die Leute zu selbstbewußt, als daß sie sich AgitProp bieten lassen - sie fühlen sich zurecht für dumm verkauft. Wer andere auf plumpe Weise belehren will, bekommt heute keinen Gehorsam mehr, sondern Widerspruch.
Hallo Honigsammler,
AntwortenLöschendie dubiosen Zuschauerzahlen haben auch schon den Gemeinderat erreicht. Stadtrat Jürgen Wenzel von den Freien Wählern hatte am 03.09.2015 eine Anfrage diesbezüglich gestellt, die in der öffentlichen Plenarsitzung des Gemeinderats am 20.10.2015 beantwortet wurde. Wenzel begründete seine Anfrage damit, dass "eine gewisse Verunsicherung über die Verlässlichkeit der ermittelten Besucherzahlen entstanden“ sei.
Die Stadt bestätigte: „Es werden alle Besucherzahlen erfasst, d. h. Vollpreiskarten, Abonnements, Besucherorganisationen, Schüler-, Studenten-, Kinder- und Jugendkarten, Gebührenkarten sowie Ehren- Freikarten und Dienstplätze „ sowie „Besucher der „Sonntag vor der Premiere“-Reihe“, nicht aber „die Teilnehmer an den unmittelbar vor einer Aufführung stattfindenden Stückeinführungen“, die dann doppelt gezählt würden.
Weiterhin fehlt jede Transparenz der Zuschauerzahlen. Man hat nicht mehr Zuschauer als früher, man zählt nur die, die man früher nicht erfasst hat. Es ist nicht gefragt worden, wie viele Ehren- Freikarten und Dienstplätze kostenlos vergeben werden, um zum Beispiel die Premieren zu füllen, es scheinen jedoch deutlich mehr als früher zu sein. Man benötigt die Anzahl der verkauften Karten und deren Verhältnis (Vollpreis, reduziert), um die Entwicklung zu beurteilen.
Der Gemeinderat stellt im Oktober 2015 fest, dass die Zuschauerzahlen nur durch die gestiegene Anzahl der Aufführungen erreicht wurden: „Der Preis dafür war eine Steigerung der ohnehin hohen Aufführungszahl. Der Kraftakt brachte zwar numerisch mehr Zuschauer, die Gesamtauslastung sank allerdings von 85,43 auf 80,38 Prozent". Sie nennen dienen Kraftakt oben zutreffend "Überreizung des Systems".
Es ist bezeichnend, wie viel Misstrauen Generalintendant Spuhler inzwischen entgegen schlägt. Transparenz und Offenheit scheinen nicht die Stärke seines Theaters zu sein. So wie ich das sehe hat seine Reputation durch die verschiedenen Vorkommnisse stark gelitten.
Mit besten Grüssen
V.
Vielen Dank für den Hinweis, den Mangel an transparenten Zahlen habe ich hier vor Jahren bereits bedauert.
LöschenZufall oder Absicht? - kaum habe ich oben im Text die offiziellen Zahlen der Stadt Karlsruhe zitiert, verschwinden die Statistiken aus den Internetseiten der Stadt. Mal schauen, ob die Daten jetzt unter Verschluß gehalten werden oder wieder auftauchen. Zum Glück habe ich eine Kopie.
Es ist auch aus der Ferne bedauerlich mitzubekommen, wenn eine Situation an einem Theater so weit eskaliert. Auf jeden Fall alles Gute für das Karlsruher Haus!
AntwortenLöschenMan darf wohl verhalten optimistisch sein, die Einsparungsdiskussion scheint eine Wende zu nehmen, angeblich soll es keine Spartenschließung geben, es kommt ein neuer Schauspieldirektor, der hoffentlich frischen Wind bringt und irgendwann gibt's auch eine neue Intendanz. Alles wird gut, die Frage ist nur wann, aber ich lasse mir den Optimismus nicht nehmen.
LöschenVielen Dank und viele Grüße nach Berlin!
Hallo,
Löschenhöchst interessanter Link. Der passt!!!!
http://www.crescendo.de/axel-brueggemann-verschont-uns-mit-dem-pimmel-des-tenors-1000004880/
gruss Klaus
Spannender Artikel + Diskussion - Herzlichen Dank für den Hinweis!
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