Sonntag, 23. März 2014

Mythos (Ballett), 22.03.2014

Sehr spannend, beeindruckend und abwechslungsreich - die gestrigen drei Ballett-Uraufführungen bekamen für alle Teile viel Applaus und Bravos und sollten ein weiterer Hit beim Karlsruher Publikum werden!

Thema Mythos - Ausbruch oder Ausdruck?
Die diesjährige Frühjahrspremiere im Badischen Staatsballett zeigt drei Choreographen mit Uraufführungen unter der thematischen Überschrift Mythos - wobei mythisch an diesem Ballettabend eine diskutable und damit interessante Zuordnung ist, denn ist die heutige Verwendung eines Mythos nun ein Ausbruch aus der Moderne oder doch viel mehr ihr Ausdruck? Der Rektor der Karlsruher Hochschule für Gestaltung Peter Sloterdijk kam einst in einem Gespräch zu der überraschenden Einsicht, daß wir heute 'wieder in einem mythologischen Horizont leben'"Der Mythos ist eine Methode, die Welt so zu beschreiben, daß in ihr nichts Neues passieren kann." Und was produzieren unsere Medien, Zeitungen und Nachrichtensender anderes als Wiederholungen! "In diesem Sinne wirkt die Summe aller Nachrichten und Geschichten mythologisch ... die Nachrichten bringen die immergleichen Themen, die immergleichen Unfälle, lauter Urszenen im Gewand von Neuigkeiten. ... Aufs ganze gesehen erzeugen auch unsere Medien eine überraschungsfreie Welt, und dadurch wird sie wieder mythologisch." Die thematische Überschrift dieser Ballette ist also auf der Höhe der Zeit, "weil eine präsentische Kultur wie die unsere sich von zeitlosen Themen ernährt, die sie durch die Medien zirkulieren lässt."
 
Ob nun wie im Programmheft beschrieben Mythen durch Umkreisung der Welten- und Lebensrätsel entstehen, wobei der Tanz sprachlos Dinge in ein neues Licht zu rücken vermag oder ob der Mythos auf symbolische Weise das Zeitlose umkreist und die Welt in ihrer Unfassbarkeit und Unausweichlichkeit deutet, jeder Choreograph näherte sich seinem Mythos auf sehr unterschiedliche Weise:
 
DER FALL M., das ist der Medea Mythos, also die Frau, die aus Liebe zu Jason und dann aus Rache für das Liebesende radikal alle Brücken hinter sich abbricht und ihre eigenen Kinder und ihre Rivalin ermordet. Die Konstellation "alle gegen eine" war dabei für Choreograph Reginaldo Oliveira ein Entscheidungskriterium, um sich Medea zuzuwenden; Schuld, Sühne und Vergebung sind Themen des Balletts. Oliveira ist seit 2006 Tänzer der Karlsruher Compagnie und hatte bisher mit einigen originellen Choreographien auf sich aufmerksam gemacht. Der Fall M. ist konkret gedeutet und erzählt, Oliveira gelingt dabei eine gelungene Aktualisierung des Mythos als Psychothriller. Nach einem surreal anmutenden Beginn folgt das Herzstück des Balletts (und vielleicht sogar des ganzen Abends): die intensive Beziehungsbeschreibung einer erkalteten Liebe - großartig getanzt von den beiden ersten Solisten Bruna Andrade und Flavio Salamanka, die ihren Figuren durch Oliveiras intelligente Choreographie ein starkes Profil verleihen und eine packende Auseinandersetzung darstellen. Es ist schon eine besondere Aura, die Andrade ihrer Meda verleiht, besser kann man es nicht machen. Salamanka ergänzt sie als Jason kongenial - Bravo!
Diskutabel ist Oliveiras Schlußbild, und zwar musikalisch und szenisch, wenn er Medea ein versöhnliches und für einige vielleicht utopisch wirkendes Quasi-Happy-End schenkt, daß sich vielleicht ein wenig zu unecht und überraschend anfühlt. Dennoch ein besonderes Ballett: 50 Minuten Hochspannung und ein sehr zufriedenes Publikum zur Pause.

ORPHEUS
Tim Plegge, der in Karlsruhe gefeierte Choreograph von Momo, wählte Orpheus als Mythenfigur und machte aus ihr "die Geschichte eines Mannes...., der sich in erster Linie über seine Erinnerungen definiert, der sich im innerlichen Durchleben des Vergangen selbst am besten spürt, und der schließlich einen Moment erlebt, in welchem die Grenzen zwischen seiner eigenen Gegenwart und der Vergangenheit auf magische Weise aufgehoben werden." Dazu holt Plegge neben den sehr guten Haupttänzern Blythe Newman und Pablo dos Santos einen Schauspieler auf die Bühne, der als alter Mann Verlusterfahrung und Erinnerungswillen verkörpert. Es geht Plegge um die "Überwindung der Grenzen von Leben und Tod". Sein Interpretationsansatz ist suggestiv und poetisch mit starken und einprägsamen Bildern und Videoeinspielungen.

SPIEGELGLEICHNIS
Choreograph Jörg Mannes verwendet für sein Ballett keinen bestimmten Mythos, sondern "sucht in seiner Kreation nach dem Mythos als Gleichnis" und choreographiert ein Ballett in einem Spiegelkabinett. Eingeschlossen in einem Spiegelkabinett zu sein, ist eine Metapher für Erkenntnisfähigkeit: ob Metaphysik, ob Astrophysik - alles was sich nicht mit Innenarchitektur befasst, ist reine Spekulation und ohne Verifikationsmöglichkeit. Letztendlich wird man durch den Spiegel nur reflektiert - Mannes Choreographie ist entsprechend selbstbezogen, verspielt und endet mit einem lauten Lachen. Der Mythos ist nur noch eine lose Klammer in ironischer Haltung. Alle Tänzer dürfen dabei auf die Bühne und zeigen beeindruckende Gruppenszenen.

Sebastian Hannak, in Karlsruhe bekannt als Bühnenbildner von Momo und Jakob der Lügner, hat einen variablen Einheitsraum  in ovaler Form geschaffen, der sich für die drei unterschiedlichen Mythos-Deutung perfekt eignet und durch die Kostümbildner sehr schön unterstützt wird.

Fazit: Ausdrucksstark, bildstark, abwechslungsreich, viele Eindrücke und spannende Momente in drei ganz unterschiedlichen und sich ergänzenden Choreographien - der lange Jubel des Publikums für das Ballett-Tryptichon war hoch verdient. Die ca 30 Tänzer des Badischen Staatsballetts zeigten eine beeindruckende Leistungsschau. Die guten Karten sollten dafür bald vergriffen sein!

Team
BÜHNE: Sebastian Hannak 
KOSTÜME: Judith Adam, Heidi de Raad (bei Jörg Mannes)
LICHT:  Stefan Woinke

Musikzusammenstellung laut Programmheft:
DER FALL M.
Alberto Iglesias - "Una patada en los huevos“ aus der Filmmusik La piel qué habito
Alberto Iglesias  - "Some craziness is good“ aus der Filmmusik Ché
Lera Auerbach - Sogno di Stabat mater
Lera Auerbach - Präludium Nr. 1 aus 24 Präudien für Violine und Klavier op. 46
Alberto Iglesias - "Duelo final“ aus der Filmmusik La piel qué habito
Lera Auerbach - Präludium Nr. 5 aus 24 Präudien für Violine und Klavier op. 46
Alberto Iglesias - The Dancer Upstairs 3“ aus der Filmmusik Pasos de baile
Max Richter - „She finds the child“ aus der Filmmusik The Congress
Max Richter -  „Beginning and ending“ aus der Filmmusik The Congress

ORPHEUS
Philip Glass - Double Concerto for Violin, Cello and Orchestra (2010)

SPIEGELGLEICHNIS
Giovanni Sollima - Tree Raga Song
Giovanni Sollima - Violoncelles, vibrez!

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