Freitag, 28. September 2012

Tom Waits - Alice, 27.09.2012

Die erste Premiere der neuen Saison gehörte dem Schauspiel-Musical, der inoffiziellen Sparte, die in den letzten Jahren mit Werken wie Dylan, Big Money und Cabaret sehr großen Zuschauerzuspruch erlebte und sich immer mehr ins Zentrum der Publikumsaufmerksamkeit bewegt. Nach The Black Rider (1996) und Woyzeck (2009) ist Alice die dritte Tom Waits / Robert Wilson Produktion des Badischen Staatstheaters und hinterließ gestern einen schwächeren Eindruck als seine beiden Vorgänger.

Worum geht es?
Um Lewis Carrolls (1832-1898) Kinderbuchklassiker Alice im Wunderland. Diese Buch hat eine Beigeschichte: Alice hatte eine reale Inspiration - Alice Liddell (1852-1934). Carroll erzählte dem Mädchen und ihren Schwestern oft phantastische Geschichten. Eines Tages bat die zehnjährige Alice, Carroll möge doch seine Erzählungen aufschreiben. Das Ur-Manuskript bekam Alice geschenkt, das daraus entstandene Kinderbuch wurde zum Klassiker. Doch es gibt auch eine scheinbar dunkle Seite: Carroll fotografierte Alice vielfach und in verschiedenen Kostümen. Daraus wurde in nach-Freud'schen Zeiten eine Besessenheit für das kleine Mädchen abgeleitet und über Carrolls Charakter und Absichten spekuliert. Carroll war einer der ersten Amateur-Fotografen. Seine Bilder von Alice entstanden um 1860 und seine Leidenschaft könnte eher dem neuen technischen Medium als unterdrückten Wünschen und Obsessionen geschuldet sein. Hier ist also ein weites Feld der groben Spekulation, in dem sich auch dieses Stück peripher bewegt. Alice präsentiert in freier, nicht chronologischer Reihenfolge Buch-Szenen und Ausschnitte und kombiniert sie mit der Welt des Autors und seiner Muse. Dabei entstand eine im Vergleich zu The Black Rider und Woyzeck sehr handlungsschwache Geschichte ohne große Spannungsbögen.

Was ist zu hören?
Waits hatte im zeitgleich entstandenen Woyzeck einen herben und grölenden Tonfall eingeschlagen, Alice besteht hingegen hauptsächlich aus Balladen unterschiedlichster Stimmung. „Kinderlieder für Erwachsene und umgekehrt“, so Waits über seine Songs. Eine eher traurige und ruhige Musik mit starken Kontrasten über Außenseiter und Seltsamkeiten. Clemens Rynkowski hat die Songs für Karlsruhe wunderbar neu  arrangiert: eine sechsköpfige Band spielt insgesamt zweiundzwanzig Instrumente. Musikalisch ist Alice atmosphärisch passend umgesetzt. Wem Woyzeck und Black Rider gefiel, der sollte auch von Alice nicht enttäuscht sein.
Leider ist die Textwiedergabe der englischen Songs urheberrechtlich untersagt: sie sind weder im Beiheft zu finden noch als übersetzte Übertitel eingeblendet. Nicht jeder Schauspieler ist auch ein guter Sänger - in dieser Produktion wird das leider gelegentlich deutlich und auch die Verständlichkeit der englischen Song-Texte ist nicht für jeden gegeben. Dadurch entsteht im Verlauf des Abends schnell ein atmosphärischer Druckabfall und Dimensionsverlust, da die direkte Verbindung der Musiktexte zur Geschichte nicht sichergestellt wird. Man bewegt sich episodisch von Song zu Song, bei denen man oft nur spekulieren kann, wie sie zum Stück in Beziehung stehen.

Was ist zu sehen?

Alice ist eine sehr schöne und phantasievolle Produktion, bei der aber aus obigen Gründen die Verknüpfung von Text und Gesang nicht gelingt und aufgrund der zusammenhanglosen Szenen der Funken nur sehr selten aufs Publikum überspringt. Es ergibt sich keine klare Stimmung: Alice ist weder spannend oder dämonisch noch witzig oder traurig; die Szenen plätschern  vor sich hin und verdichten sich nur selten. Schauspielerisch ergeben sich bei Regisseur Daniel Pfluger nur wenig Gelegenheiten zu glänzen. Es ist eine gute Ensembleleistung, bei der gestern Hannes Fischer und Robert Besta am stärksten in Erinnerung blieben.
Bühnenbildner Flurin Borg Madsen stand vor der Aufgabe, den Spagat zwischen Obsessionen und Spiel, Traurigkeit und Phantasie, Erinnerung und Gegenwart zu halten, also den doppelten Boden der surrealen Welt darzustellen und hat dies mit einer sich stetig, von Szene zu Szene ändernder Bühne sehr phantasievoll gelöst. Es macht immer wieder Spaß zuzuschauen. Janine Werthmann hat dazu sehr schöne und aufwändige Kostüme entworfen, die viktorianische Elemente mit anderen Stilrichtungen kombiniert und die Phantasiefiguren liebevoll in Szene setzt.

Fazit:
Bedingt empfehlenswert - gepflegte Langeweile, der man aber gerne zuschaut. Alice zeigt, daß das Ganze weniger als die Summe seiner Teile sein kann. Man hat deutlich den Eindruck, daß vieles gut gemacht ist. Das Badische Staatstheater hat sich viel Mühe gegeben, um eine aufwändige, sehenswerte Umsetzung auf die Bühne zu bringen. Alice ist vor allem Unterhaltung und bietet keine tiefgehende Interpretationsmöglichkeit. Es ist ein Spiel der Phantasie, Skurrilität und Ambivalenz - eine inszenatorische Äquivalenz zum literarischen Fantasy-Genre - konzipiert als ein Theaterabenteuer. Doch durch die dünne Rahmenhandlung ergibt sich kein richtiger Spannungsbogen. 

PS(1):
Das von Dramaturgin Nina Steinhilber informationsreich, interessant und sehr gut zusammengestellte Programmheft lohnt sich, auch zur Orientierung vorab für die Besucher, die mit Lewis Carroll und seinem Kinderbuch Alice wenig Berührung hatten. Es ist als pdf-Datei im Internet hier abrufbar.

PS(2): Es waren viele Theatermitarbeiter und deren Angehörige bei der Premiere. Es wäre interessant zu wissen, wie das Verhältnis dieser zu normalen Zuschauern war. Neben einem Heer von Dramaturgen mit Namensschildern konnte man u.a. folgende Schauspieler und Opernsängern sehen: Ute Baggeröhr, Simon Bauer, Benjamin Berger, Cornelia Gröschel, Florian Hertweck, Sarah A. Hudarew, Sophia Löffler, Heidi Melton, Rebecca Raffell, Jonas Riemer, Lisa Schlegel, Timo Tank, Katharine Tier, G. Urrutia Benet, Stefan Viering, Frank Wiegard, ....

BESETZUNG und TEAM:
Alice: Ursula Grossenbacher
Charles Dodgson/ Photograph/ Weißes Kaninchen/ Weißer Ritter: Robert Besta
Rose/ Cheshire Cat/ Humpty Dumpty: Hannes Fischer
Raupe/ Schachkönigin:  Eva Derleder
Fisch/ Lakai/ Schachkönig/ Weißes Schaf: Gunnar Schmidt
Lilie/ Hutmacher/ Tweedle Dee: Joanna Kitzl
Gänseblümchen/ Köchin/ Märzhase/ Tweedle Dum: Jan Andreesen
Frosch/ Ein Lakai/ Rehkitz/ Schwarzer Ritter: Natanaël Lienhard
Gänseblümchen/ Herzogin/ Haselmaus: Anna-Magdalena Beetz
Altar Boy (Solo): Georg Krause
Altar Boys: László Branko Breiding, Lukas Fries, Leon Hellstern, Marvin Hock

REGIE Daniel Pfluger
MUSIKALISCHE LEITUNG & ARRANGEMENTS Clemens Rynkowski
BÜHNE Flurin Borg Madsen
KOSTÜME Janine Werthmann

Klavier, Harmonium, Celesta, Theremin:  Clemens Rynkowski
Percussion, Drumset, Schlagwerk:  Jakob Dinkelacker
Waldhorn, Trompete, Marimba, Vibra-Phon, Bass, Gitarre, Klavier, Saz, Windmaschine: Florian Rynkowski
Posaune, Sousaphon, Tuba: Jochen Welsch
Bassklarinette, Saxophon, Piccolo, Querflöte: Sven Pudil
Bratsche: Agata Zieba

4 Kommentare:

  1. Sie bringen es auf den Punkt: eine bemühte und nette Produktion, bei der man aber nie von den Sitzen gerissen wird. Irgendwie zu gut, um es zu kritisieren, und auch zu lahm, um davon zu schwärmen.

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  2. Vielen Dank für Ihren freundlichen Kommentar, den ich zum Anlaß nehme, um nach 24 Stunden erneut zu resümieren. Die Inszenierung funktioniert nicht, da sie die Charakteristik der Waits'schen Songs nicht integriert. Eine phantastische Geschichte wurde gestern phantasievoll umgesetzt, aber der Mehrwert der musikalischen Charakteristik findet ihren Wiederklang nicht auf der Bühne. Die Musik wird nicht stimmungsmäßig integriert, die Beziehungen bleiben zu unklar, die Außenseiter der Songtexte sind nicht auf der Bühne, das Traurige und Verzweifelte wird nicht dargestellt - die Inszenierung ist zu unbestimmt. Das ist auch der Gegensatz zu Woyzeck und Black Rider.

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  3. Ich war vor 20 Jahren bei der Wilson-Inszenierung, dort wurde viel weniger von der sogenannten "musikalischen Charakteristik" auf der Bühne umgesetzt. Darum geht es meiner Meinung nach auch nicht. Die Musik ist für mich eine Art dritte Dimension. Es ist nicht notwendig, "Poor Edward" mit dem Gesicht auf dem Hinterkopf auf die Bühen zu bringen, um die Situation zu versthen. Das wäre doch arg platt.
    Ich fand die Inszenierung und den ganzen Abend unglaublich fantasievoll, allen voran die Kostüme. Gute Ensembleleistung im Schauspiel sieht man heute viel zu selten. Und herausragend fand ich auch Eva Derleder! Eine ältere Alice zu besetzen finde ich einerseits mutig, andererseits sehr folgerichtig, sonst würde die Geschichte womöglich etwas zu pädophil herüberkommen. Für mich wirklich toll: Ursula Grossenbacher, auch stimmlich. Und Robert Besta kommt Waits so nahe wie kein Schauspieler, den ich kenne, ohne dabei plump zu kopieren.
    Fasziniert haben mich auch die Musiker, könnte denen stundenlang zusehen im Orchestergraben. In dem Arrangement bekommt für mich die Musik von Tom Waits etwas ganz frisches, Hut ab. Allein deswegen gehe ich nochmal rein.

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    1. Guten Tag Herr Lemke, herzlichen Dank für Ihren Beitrag. Ich kann Ihnen nur zustimmen und mich wiederholen: Clemens Rynkowski hat die Songs für Karlsruhe sehr gut arrangiert. Eine plakative Umsetzung von "Poor Edward" würde ich ebenfalls ablehnen. Allerdings fiel mir bei meinen Sitznachbarn auf, daß die wenigsten den Text des Songs überhaupt verstanden haben. Sie haben einen Vorteil: sie kennen das Stück. Hoffentlich geht es den meisten Zuschauern nicht wie mir: mir fiel die Verknüpfung Musik-Songtexte-Handlung schwer. Woyzeck und Black Rider entsprachen in der Hinsicht mehr meine Ansprüchen.

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