"Katholiken sind Haßprediger"
Die prominente, in Istanbul geborene Soziologin und Frauenrechtlerin Necla Kelek sprach im Herbst 2016 von "der Agitprop-Prosa des Bad-Acting-Staatstheaters" bzw. "dem Politkitsch des Agitationstheaters" und bezog sich damit auf das Berliner Maxim-Gorki-Theater "als Ort der Realitätsverweigerung". Small Town Boy des Autors Falk Richter -
uraufgeführt in Berlin im Maxim-Gorki-Theater - gehört zu diesem
weltanschaulichen Kitschtheater, das man in Karlsruhe teilweise entschärft und damit eine fundamentale Schwäche des Stücks aufdeckt: 90 Minuten lang ist es eine Mischung aus Kitsch, Klischee und Sentimentalität über männliche Homosexualität, die letztendlich so belanglos ist, daß man sich schnell kaum noch an den Text erinnert. Die restlichen Minuten gehören dann dem Politkitsch, der eine weitere zentrale Schwäche von Richters Stück offenbart: eine pegidaesque Pauschalisierung und Polarisierung, das exemplarische Zitat "Katholiken sind Haßprediger" zollt den Methoden des Populismus auf unschöne Weise
Respekt und spielt sich Doppelpässe mit denen zu, die eigentlich als Vorlagengeber
entfallen sollten. Es gehört zum schlechten Ton des Zeitgeists, daß man
Andersdenkenden böse Absichten und dunkle Gesinnung unterstellt - die
Feindeslogik nimmt von Politik, Gesellschaft und leider auch den Theatern
Besitz. Die, die es besser wissen sollten, mischen mangels guter Ideen
gerne mit. Was nicht ins
selbstherrliche Bild paßt, wird ausgeblendet, wer nicht ins selbstverliebte Bild paßt,
wird denunziert und ausgegrenzt. Bei Small Town Boy lohnt es, durch Perspektivwechsel der Einseitigkeit des Stückes mehr Würze zu verleihen:
Perspektivwechsel (1): Der Anfang vom Ende der Homosexualität
"Was spricht gegen intelligente, kreative, heterosexuelle Nachkommen?", betitelte die Wochenzeitung DIE ZEIT im Sommer 2016 einen Artikel, der von den aktuellen, revolutionären Fortschritten in der Gentechnik (CRISPR-Cas) und den sich dadurch aufzeigenden Möglichkeiten in der Gentherapie inspiriert war und damit zwischen den Zeilen eine interessante Perspektive aufwarf: Wenn Homosexualität als Folge genetischer Unregelmäßigkeit zukünftig korrigierbar wird (Genetiker sollen bereits mit 70%iger Genauigkeit Homosexualität erkennen können), wer würde daran zweifeln, daß werdende Eltern die Chance ergreifen und sie zusammen mit genetisch erkennbaren und heilbaren Defekten verhindern würden. Und man sollte sich nichts vormachen: was realisierbar ist, wird geschehen, da mögen sich einige wenige konservative Ethikräte dagegen stemmen, doch auch den gentechnischen Fortschritt werden sie nicht aufhalten. Befinden wir uns also bereits im letzten Jahrhundert der Homosexualität, bevor sie als Unregelmäßigkeit behoben und eliminiert werden wird?
Der Gedankengang legt die Tragik der Homosexualität offen: Homosexualität ist weder unmoralisch noch unnatürlich, dennoch wird sie auch von manchen toleranten Zeitgenossen latent als Makel empfunden, eine Form von Pech, unvorteilhaftes Schicksal, jenseits aller moralisierenden Verklemmungen erscheint sie als reproduktionsbiologischer Fehlschlag der Natur, ein Defekt, den man eines Tages korrigieren wird, sobald es die medizinische Forschung erlaubt. Die Schwierigkeiten des Coming-Out liegen weniger in der Intoleranz der Umwelt, sondern im Eingeständnis der vermeintlichen Behinderung. (Abschweifung: eine Pfarrerin bemerkte kürzlich im Radio frustriert, daß "Spast" und "Schwuchtel" immer noch zu den dominierenden Schimpfworten unter Jugendlichen gehören. Kindermund tut Wahrheit kund - die Verbindung in der Ausgrenzung liegt anscheinend in der Genetik). Wenn also Homosexualität zukünftig gentherapeutisch vermeidbar werden würde, wer zweifelte daran, daß sie als Phänomen und "anthropologisches Manko" ausstürbe und höchstens sich noch wenige Zeit in einigen Reservaten hielte, bevor schließlich auch die letzten werdenden Eltern dafür optierten, sie wie eine genetische Krankheit zu behandeln und zu heilen? Dieses Gedankenexperiment mit fortgeschrittenem Realitätsbezug mag oberflächlich betrachtet schonungs- und mitleidlos klingen, soll aber vor allem das Dilemma der Homosexuellen aufzeigen - sie sind die Träger des unglücklichen Bewußtseins schlechthin, die sich im Kampf mit einem unbezwingbaren Gedanken befinden: nicht selbstbestimmt, sondern unfreiwillig anders und Träger eines Defekts zu sein, der in nicht ferner Zukunft behoben werden kann. "Was waren sexuelle Minderheiten? - Träger eines Gendefekts, der geheilt werden konnte.", so könnte es dann mit realistischer Wahrscheinlichkeit und ohne polemische Absichten heißen und ist damit weder eine Utopie noch eine Dystopie.
Was ist zu sehen (1)
Small Town Boy handelt (auch) von diesem Handicap, vom psychologischen Effekt dieses Mankos und den Versuch der Kompensation, vom Kampf um Normalität, von der Wut, Grenzen gesetzt zu bekommen, die oft auf unsinnigen Moralvorstellungen und dämlichen Vorurteilen beruhen. Small Town Boy ist ein Stück ohne Handlung, eine Abfolge von Monologen und Dialogen, Textpassagen, die schlaglichtartig Aspekte beleuchten, eine Selbstspiegelung zwischen Vulgarität, Selbstmitleid und Selbstkarikaturisierung, zwischen sentimentalen Beziehungskitsch und Wut, die die Schauspieler in wechselnden Rollen darstellen. Die Figuren sind in die Enge getrieben, das Coming-Out ist eine Enttäuschung für ihre Mitwelt, sie flüchten in die Großstadt und hoffen auf eine Beziehung, die in der urbanen Anonymität umso schwerer zu finden scheint. Die Stimmungen und Spannungsdichte der einzelnen Szenen schwanken: man trällert englische Songs, um die Zeit zu überbrücken, man spielt homosexuelle Klischeerollen, es gibt Gefühlskitsch, wenn es um Alleinsein, Liebeswunsch und der Sehnsucht nach Verbindlichkeit geht. Das Bild, das von Homosexuellen gezeigt wird, entspricht teilweise der stereotypen Karikatur, die im nachmittäglichen Trash-TV gezeichnet: sexuell minderbemittelte Männer, die auch jenseits des Teenager-/Twen-Alters noch nichts Wichtigeres kennen, als sich über Quantität und Qualität, Praktiken und Phantasien auszutauschen; die Sprache ist teilweise roh und ordinär. Doch hinter dem vordergründigen Thema Homosexualität verbirgt sich noch ein anderes Thema. Die erhoffte gesellschaftliche Normalität erweist sich
als realitätsfremdes Wunschdenken und der Autor benötigt ein Feindbild, um seine Wut über
Skepsis oder Ablehnung zu bündeln. Laut Badischem Staatstheater holt Richter in Small Town Boy "zum offensiven Gegenschlag in einem Kampf um geschlechtliche Selbstbestimmung und gesetzliche Gleichstellung aus.". Der russische Präsident Putin mit seiner homosexuellenfeindlichen
Innenpolitik (die unverständlicherweise kaum öffentlich thematisiert und
kritisiert wird) ist eine zentrale Figur der Richter'schen Kritik -
über Putins Taten und seine europaweite Förderung anti-demokratischer
Kräfte regt sich kaum jemand auf, über Donald Trumps Worte schon - die
schizoide Unaufrichtigkeit der öffentlichen Diskussion scheint Falk
Richter recht zu geben. Homosexuelle werden in Small Town Boy aber auch vor den Karren eines Feindbilder benötigenden AgitProp-Theaters gespannt. Der Feind steht rechts: "Rechtspopulisten" wie die CDU, der Papst und die christlichen Kirchen ("Katholiken sind Haßprediger") oder auch die AfD sind die unbelehrbaren Widersacher einer imaginären Front linker Homosexueller.
Perspektivwechsel (2): Scheingefechte
oder
Wenn Einäugige Scheuklappen tragen
Das
Badische Staatstheater läßt in seiner Inszenierung den Autor auf
verschiedene Weise gewähren und leistet sich dabei einen Unterlassungsrassismus: es tut so, als gäbe es
keine islamische Bedrohung der Homosexualität. Der Papst wird angegriffen, der anscheinend vom Autor als rückständig und unterentwickelt betrachtete Islam bekommt einen rassistisch wirkenden Kulturrabatt. Dabei gibt es klare
Forschungsergebnisse: Der Soziologe Ruud Koopmans (Direktor der
Abteilung Migration, Integration, Transnationalisierung im
Wissenschaftszentrum für Sozialforschung Berlin und Professor an
der
Humboldt-Universität) verglich Haltungen zur Homosexualität unter
europäischen Moslems und stellte fest, daß unter ihnen Homophobie (und
auch Antisemitismus) um einen deutlich höheren Faktor ausgeprägt ist als
unter Nicht-Moslems und es dort Meinungen gibt, die kaum bei Europäern
auftreten, z.B. daß Homosexualität
verboten sein sollte, daß Gewalt gegen Homosexuelle erlaubt
sei und sogar die Todesstrafe angemessen sei. Eine radikale Haltung, die
auch andere trifft: bei keiner Religionsgemeinschaft soll der Wunsch
nach Unterdrückung von sexuellen und religiösen Minderheiten weiter
verbreitet sein als im Islam. Wenn es heute für Juden, Feministen und
Homosexuelle einen religiösen Gegner gibt, dann sind das nicht der
Katholizismus oder christliche Sekten, sondern die Apartheidsreligion Islam. Homosexualität ist für nicht wenige Moslems eine Zumutung. Gegenfrage: Wie kann man also die Beleidigung der Gläubigen durch öffentlich zur Schau gestellte Homosexualität minimieren? Sollten sich Homosexuelle mit Blick auf Migranten aus islamisch geprägten Ländern zurückhaltender verhalten und mehr Respekt für den islamischen Kulturkreis zeigen? Doch den Mut zu wichtigen Fragen bringt das Theaterstück
nicht auf. Richter macht sich über Frauen
lustig,
die kaum bekannt sind. In
den genannten bundesdeutschen Parteien gibt es Homosexuelle in prominenter Funktion,
die Spitzenkandidatin der Landes-AfD für die diesjährige Bundestagswahl lebt in einer lesbischen Beziehung, der katholischen Kirche ist ihre Toleranz gegen Homosexuelle wiederholt
zum Verhängnis geworden, viele Klagen gegen Knabenschänder
in Soutane haben den Ruf der Kirche beschädigt, die hohe Entschädigungs-
und
Strafsummen bezahlen mußte.
Perspektivwechsel (3): Die konsequent liberalisierte Ehe
Der Grüne Ministerpräsident Winfried Kretschmann wendete sich im Herbst 2016 gegen den Totalitarismus der Gender-Ideologie: "So ist und bleibt die klassische Ehe die bevorzugte Lebensform der meisten Menschen – und das ist auch gut so."
Die demokratische Normativität der Mehrheit wird allerdings von einer
Minderheit in Frage gestellt. Es besteht die Forderung,
daß Homosexuelle nicht nur eingetragene Lebenspartnerschaften schließen
dürfen, sondern die Rechte der Ehe zwischen Mann und Frau zugestanden zu
bekommen. Doch wer die Öffnung der Ehe anstrebt, sollte dies konsequent tun. Wieso soll es
einem bisexuellen Menschen untersagt sein, zwei Partner zu heiraten? Wer will der Liebe
verbieten, polygam zu sein? Wieso sollte ein Mann nicht mit mehreren Frauen Kinder zeugen und alle heiraten dürfen? Und was ist mit Blutsverwandten, die Medien
haben über ein Geschwisterpaar mit Kindern berichtet, dem der Staat die
Ehe versagt - sie leben als Familie zusammen und doch dürfen sie nicht heiraten. Und wieso sollte nicht der Großvater die Enkelin heiraten
dürfen? Wer will bestimmen, wo die Liebe hinfällt und welche Liebe
legitim ist? Soll die Ehe also in die Beliebigkeit liberalisiert werden: jeder darf jeden
und so viele heiraten, wie er mag? Was soll man dürfen, was soll der
Staat schützen? Wieso soll der Staat überhaupt Gemeinschaften fördern? Sollte die
Politik nicht eine ganz andere Richtung einschlagen und die rechtlichen
Vorteile der vollwertigen Ehe nur denen geben, die Kinder aufziehen und
parallel alleinerziehende Elternteile schützen? Die Gentechnik eilt hier auch schon voran: In der Ukraine ist ein Baby mit zwei Müttern und einem Vater geboren worden, alle drei Eltern sind mit dem Kind genetisch verwandt; in Großbritannien dürfen künftig Babys mit der DNA von zwei Müttern und einem Vater erzeugt werden.
Lamentierende
Homosexuelle, die sich ungerecht behandelt fühlen, sind noch
kein Argument. Überall finden sich gekränkte Bürgergruppen, die finden,
daß sie
besser gestellt gehören. Wer die Ehe liberalisieren will, sollte also
ein schlüssiges Gesamtkonzept vorlegen, statt auf neue Sonderrechte für
Spezialfälle zu pochen. Aber das Karlsruher Schauspiel will ja keine
Fragen stellen und kein politisches Theater machen, sondern in
seiner beschränkten Weltanschauung verharren. Dazu noch mal Nekla Kelec: "Die
„ideologische Liederlichkeit“ der Intellektuellen, die alles abschätzig
behandelt, was nicht ins eigene Weltbild passt, kommt einer kulturellen
Demontage gleich."
Perspektivwechsel (4): Der Wert des Kindeswohls
Die Wochenzeitung Die Zeit hat erst vor wenigen Wochen eine aktuelle britische Studie vorgestellt, die bestätigte, was alle vernunftbegabten Menschen schon wußten oder ahnten: Homosexuelle sind als Eltern nicht besser oder schlechter als Heterosexuelle. Die Studie bestätigte aber auch, daß Kinder mit gleichgeschlechtlichen Eltern öfters eine tatsächliche oder auch nur gefühlte Stigmatisierung durch andere Kinder erleben. Das ist ein Gegenargument mit Gewicht, denn eine Adoption ist nun man nicht ein Mittel zur Gleichstellung von Homosexuellen, sondern hat einen wichtigeren Zweck: das Kindeswohl. Und wer nicht den Eindruck erwecken will, daß ein Kind wie ein Hundewelpen ein Accessoire und Lifestyle-Zubehör ist, der muß diesen Einwand ernst nehmen, denn Gleichstellung ist keine Trophäe, die auf dem Rücken von Kindern erfolgen darf. Daß man dem Kindeswohl bisher uneingeschränkten Vorrang einräumt, ist ein Vorzug des bundesdeutschen Adoptionsrechts. Soll man diesen Grundsatz aufgeben? Die Frage ist also, wie Gleichstellung ohne Abwertung des Wertvolleren gelingen kann.
Was ist zu sehen (2)?
Schade, die Schauspieler zeigen gute Leistungen in einem oberflächlichen Stück, das kaum bemerkenswert ist und dessen Szenen schnell in der Erinnerung verblassen. Der Regie fehlt es dazu an Tempo, manche Momente bleiben nicht eingeweihten Zuschauern hermetisch verschlossen - es ist auch Klienteltheater, das hier gezeigt wird.
Fazit: In seinen wenigen guten Momenten gelingt Falk Richter ein Theaterstück über Unaufrichtigkeit, leider ist es aber auch dann ein unaufrichtiges Theaterstück, wenn Richter das Theater zum Steigbügelhalter der Ideologie degradiert, dem die Distanz fehlt, das keine Fragen stellt und emotional affirmative Zuschauer wünscht. Überwiegend ist der Abend allerdings ohne besondere Vorkommnisse, er plätschert so vor sich hin.
Team und Besetzung:
Schauspieler: Sithembile Menck, Luis Quintana, Sebastian Reiß, Gunnar Schmidt, Meik van Severen
Regie & Puppen: Atif Mohammed Nour Hussein
Bühne & Kostüme: Petra Korink
Musik: David Rynkowski
Seit 1988 bin ich steter Besucher des Badischen Staatstheaters. Bei vielen Opern-, Theater-, Konzert- und Ballettvorstellungen im Jahr und Besuchen in anderen Städten verliert man schon mal den Überblick. Dieser Tagebuch-Blog dient mir seit der Spielzeit 2011/12 als elektronische Erinnerung. Bitte beachten Sie meine Intention: ich bin kein Journalist oder Kritiker, sondern schreibe hier lediglich persönliche Eindrücke, private Ansichten und Vermutungen für mich und Angehörige nieder.
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Kommentare zum Post (Atom)
Vielen, vielen Dank für die Perspektivwechsel!
AntwortenLöschenHaben Sie morgen viel Freude mit Wahnfried. Es wird ein groteskes Vergnügen
SAG
Vielen Dank! Ich freue mich schon sehr auf Wahnfried!
Löschen@M
AntwortenLöschenCRISPR-CAS ist als Link (in dem Fall zu einer verständlichen Erklärung des DLF) in dunkelblauer Schriftfarbe hinterlegt. Je nach benutzten Browser erkennt man einen Unterschied bei der Schriftfarbe (schwarz/blau) mal besser mal schlechter.