Sonntag, 16. Juni 2024

Zemlinsky - Der Kreidekreis, 15.06.2024

Am Ende von Spielzeit, Operndirektion und Intendanz exhumiert die Karlsruher Oper mit der letzten Premiere für insgesamt sechs Aufführungen (eine Wiederaufnahme steht 2024/25 nicht an) Zemlinskys Kreidekreis - eine Oper, der man nachsagt, daß sie als Garant für einen lauwarmen Achtungserfolg gilt. So kam es zwar auch gestern, doch darüber hinaus sah man eine stimmig inszenierte Parabel, die spannend musiziert und engagiert gesungen und gespielt wurde! 

Worum geht es?
Ort und Zeit: einst im chinesischen Kaiserreich.
Die sechzehnjährige Tschang-Haitang wird nach dem Selbstmord ihres Vaters von ihrer Mutter aus wirtschaftlicher Not an den Kuppler Tang verkauft, der ein Bordell für Wohlhabende führt. Als Tochter der Freude lernt sie einen chinesischen Prinzen namens Pao kennen, der sich augenblicklich in sie verliebt, aber finanziell mit einem Konkurrenten nicht mithalten kann; Der Steuereintreiber Ma, dessen Zahlungsaufforderung zuvor Tschang-Haitangs Vater in den Ruin und den Tod getrieben hat, kauft das Mädchen und nimmt es als zweite Ehefrau in seinem Haus auf. Ma erweist sich als liebender Ehemann, Tschang-Haitang bringt ein Kind zur Welt. Yü-Pei, Mas erste, kinderlos gebliebene Gattin bangt um ihr Erbe und schmiedet eine Intrige. Sie vergiftet Ma, beschuldigt Tschang-Haitang des Mordes und behauptet, das Baby sei ihres; Durch Bestechung hat sie sich die erforderlichen Zeugen und Richter gekauft. Tschang-Haitang wird verhaftet und zum Tode verurteilt und hat doch Glück im Unglück: der alte Kaiser ist gestorben, als sein Nachfolger entpuppt sich der verliebte Prinz aus Tangs Freudenhaus, der den Prozeß selber entscheiden will. Es kommt zu bekannten salomonischen Urteil über die konkurrierenden Mütter, die das Kind aus dem Kreidekreis ziehen sollen. Die wahre Mutter läßt los, Tschang-Haitang wird nicht nur rehabilitiert, der Prinz behauptet, daß er damals, nachdem Ma das Mädchen gekauft hatte, beiden folgte, nachts in ihr Zimmer schlich und das Kind mit der schlafenden Tschang-Haitang gezeugt haben will. Tschang-Haitang erinnert sich daran als einen schönen erotischen Traum. Pao erkennt das Kind offiziell als seines an und nimmt Tschang-Haitang zur Gattin, die musikalisch jubelnd ihrem Nachwuchs prophezeit: "Dir werden alle Glocken Freude läuten. Die werden alle Tage Glück bedeuten, Gerechtigkeit, sie sei dein Höchstes Ziel, denn also lehrt's des Kreidekreises Spiel".

Historisches
Jede Zeit hat ihre Wiederentdeckungen, bei denen alter Wein in neue Schläuche abgefüllt wird. Mitte des letzten Jahrhunderts wurde der Belcanto wiederbelebt, seit 50 Jahren erlebt die Barockoper ihre Rückkehr vom Nischendasein zum breiten Publikumserfolg. Die Schwelle von der  Spätromantik zum frühen 20. Jahrhundert will das Publikum bisher nicht wieder zahlreich überqueren, einige Opern dieser Epoche werden gespielt und sie fristen doch ein Schattendasein. Puccini und Strauss stehen als Ausnahmen in diesen Jahrzehnten, ergänzt von einzelnen Werken. Wer sich zukünftig was trauen wollte, könnte in Karlsruhe Pfitzners Palestrina oder eine der Opern Siegfried Wagners (insbesondere eine, die in Karlsruhe uraufgeführt wurde) hervorholen. 
Das Libretto zum Kreidekreis beruht auf dem gleichnamigen, damals beim Publikum sehr erfolgreichen Theaterstück (UA 1926) von  Alfred Henschke (*1890 †1928), der unter seinem Künstlernamen Klabund bekannt ist. Bertold Brecht nahm es als Vorlage für seinen heute bekannteren kaukasischen Kreidekreis. Klabund folgt wiederum einem chinesischen Text, den er humanistisch als exotisches Märchen in einer brutalen Welt interpretierte. 
Alexander von Zemlinsky (*1871 †1942) letzte vollendete Oper wurde im Oktober 1933 in Zürich uraufgeführt und erlebte trotz nationalsozialistischer Machtergreifung noch fünf Inszenierungen im Dritten Reich, bevor der jüdischstämmige Komponist aus den Spielplänen verbannt wurde. Immer wieder versucht man, diese Opernepoche und insbesondere die ab 1933 verdrängten Komponisten wiederzuentdecken. Doch der nachhaltige Erfolg wollte sich beim Publikum bisher nicht einstellen.
Vor knapp 25 Jahren gab es eine kleine Reihe am Badischen Staatstheater mit Opern dieser Epoche: Kreneks Jonny spielt auf (1997/1998), Schrekers Der Schatzgräber (1998/1999), Korngolds Die tote Stadt (1999/2000) und Zemlinskys Der Zwerg und Eine florentinische Tragödie (2000/2001). Zuvor gab es bspw. Hindemiths Cardillac (1995/1995) und danach den großartig gelungenen Mathis der Maler (2006/2007).  2014 konnte man in Karlsruhe Krásas Verlobung im Traum (mehr hier) entdecken, nun also Der Kreidekreis

Was ist zu sehen?
Märchen, Krimi, Thriller, Sozialdrama? Regisseur Sebastian Ritschel betont im Programmheft die Genre-Offenheit: "Der Kreidekreis besticht durch seine Vielfalt der musikalischen und theatralen Mittel. Eine Festlegung auf „nur“ ein Genre wäre inhaltlich zu kurzgefasst und würde dem Werk nicht entsprechen. Wir begegnen einem Krimi, einem unfassbar harten Sittengemälde, einer veritablen Oper und … und … und …". Tatsächlich wird kein Heute zwanghaft konstruiert, sondern eine zeitlose Parabel substanzgerecht inszeniert. "Schein und Sein bilden den Rahmen unserer Bühne: schwarze Wände, die das Innenliegende unverschönt spiegeln und keinerlei Ausflüchte zulassen. Als zentrales Bühnenelement haben wir uns für eine Art Container entschieden, der durch seine Härte und Kälte eine Neutralität formuliert, auf der sich die vermeintliche Poesie der Oper wunderbar abreibt. Gleichzeitig – und in Verbindung mit der übergroßen Treppe – wird die Bühne zu einer Art hierarchischem System, welches ein schnelles Wechselspiel von Macht und Übermacht erlaubt. Im Kostümbild haben wir versucht, uns Archetypen anzunähern, die den Abend über unmissverständlich die Figuren klar umreißen und die Entwicklungen offenlegen können."
Und genau das ist zu sehen. Bühne, Licht und Kostüme wirken stimmig, düsteres Schwarz dominiert, chinesisch anmutende Dekorationen setzten Farbtupfer, eine große Treppe in der Mitte, der Kreidekreis ist ein großer, schwebender Lichtkreis mit ca. vier Metern Durchmesser, der auch als rundes Scheinwerferlicht eingesetzt wird, wenn sich Personen erklären. Wer reich ist, trägt Samt, das Zwielicht glitzert, Bühne und Kostüme sind sinnfällig und publikumsfreundlich. 
Ritschel bleibt in seiner Regie zurückhaltend und folgt der Geschichte, die Figuren bleiben holzschnittartig ohne psychologischen Überbau, Brutalität wird nicht explizit dargestellt, Unglück und Elend nicht szenisch betont, keine soziale Sprengkraft wird hinzu erfunden - eine Parabel bleibt Parabel und wird hier nicht zum naturalistischen Drama umgedeutet. Ritschel deutet an und inszeniert symbolisch. Es gibt bspw. keinen Säugling, um den sich die Frauen streiten, sondern einen kleinen Lichtkreis.  Der musikalisch sehr schwache Kernmoment - die Kreidekreisszene im letzten Bild - wird ganz sachlich gezeigt. Manch einer mag kritisieren, daß die Inszenierung in solchen Szenen wenig einfallsreich ist, doch dafür ist sie atmosphärisch stimmig. 

Was ist zu hören?
Der Kreidekreis wirkt wie eine Collage sowohl vokaler als auch musikalischer Ausdrucksmittel. Man hört Sprechtexten, Deklamation und Gesang, unterlegt im Umfang kammermusikalischer bis großorchestraler Besetzung. Für den chinesisch gedachten Tonfall nutzt der Komponist Flöten sowie  Gong, Tamtam und Xylophon. Weiterhin sind Saxophon  und solistische Holzbläser zu hören, manches scheint von Kurt Weil inspiriert. Das klingt ungewöhnlich, abwechslungs- und farbenreich (auch wenn nichts im Ohr bleibt, leider ein Kernproblem dieser Komposition) und Johannes Willig und die Badische Staatskapelle musizieren das spannend und hörenswert. 
In diese Oper wird nicht nur gesungen, sondern auch viel gesprochen, und dem Sprechtext werden die Sänger bemerkenswert gerecht. Die designierte Karlsruher Hauptrollensopranistin Pauliina Linnosaari überzeugt als Tschang-Haitang insbesondere in den dramatischen Ausbrüchen. Barbara Dobrzanska hat als verbrecherische Yü-Pei einen starken Auftritt. Aber insbesondere die Männer können auftrumpfen: Klaus Schneider als Kuppler Tang, Renatus Mészár als Steuereintreiber Ma, Steven Scheschareg als Gerichtssekretär Tschao, Marcus Calvin als Tschu Tschu sowie Julian Orlishausen  als Tschangs Bruder oder Doru Cepreaga und Oliver Huttel als Kulis - Bravo!

Fazit: Eine Rarität, die Rarität bleiben wird. Doch als Opernfreund freut man sich über jede Rarität, insbesondere wenn sie auf so engagierte Weise inszeniert, musiziert und gesungen wird.

Tschang-Haitang: Pauliina Linnosaari
Frau Tschang, ihre Mutter: Christina Niessen
Tschang Ling, ihr Bruder: Julian Orlishausen a. G.
Tang, ein Kuppler: Klaus Schneider
Pao, ein Prinz: Matthias Wohlbrecht
Ma, ein Mandarin: Renatus Mészár
Yü-Pei, seine Gattin ersten Ranges: Barbara Dobrzanska
Tschao, Sekretär bei Gericht: Steven Scheschareg
Tschu-Tschu: Marcus Calvin a. G.
Blumenmädchen: Henriette Schein
Hebamme: Christina Niessen
Erster Kuli: Doru Cepreaga
Zweiter Kuli: Oliver Huttel
Polizist/ Erster Soldat/ Div. Sprechrollen: Lorenzo de Cunzo a. G.

Musikalische Leitung: Johannes Willig
Regie: Sebastian Ritschel
Ausstattung: Sebastian Ritschel, Barbara B. Blaschke
Licht: Stefan Woinke, Sebastian Ritschel

3 Kommentare:

  1. @HK
    Ich bin heute nicht in KA und mir liegt auch die Opernbesprechung der BNN nicht vor. Die BNN sind meines Erachtens nicht gerade für durchdachte Artikel und geschliffene Formulierungen bekannt. Falls die Zeitung eine "Vergewaltigung im Schlafe" bei der Inszenierung sieht, ist das schlicht falsch. Der Regisseur inszeniert ja eine mutmaßliche Liebesnacht zwischen Pao und Haitang bevor Ma auftritt (beide verschwinden im Container mit dem Ottomanen und schließen den Vorhang). Dadurch entzieht sich die Regie geschickt der Interpretation des Endes. Was der Kaiser in Klabunds Kreidekreis behauptet, hat keine Substanz. Eine unbemerkte Empfängnis im Schlaf, an die sich Haitang nur als schönen Traum zu erinnern glaubt? Realistisch ist das nicht, auch weil es keine Hinweise und keine mystischen oder übernatürlichen Komponenten hinsichtlich der exklusiven Kindszeugung gibt. Plausibler erscheint, daß der Kaiser aus strategischen und/oder humanitären Gründen behauptet, das Kind gezeugt haben zu können, um es zu legitimieren und das Ansehen und die soziale Stellung von Mutter und Kind zu steigern. Die Kontrolle über das Schicksal ist eine Machtfrage, wer seine Autorität beweisen will, muß die Situation beherrschen - ein Grundsatz, der in der sozialen und politischen Struktur der Geschichte sinnvoll ist. Alternativ könnte man interpretieren, daß der Kaiser sich in eine Vaterrolle hineinsteigert, um seiner eigenen Wahrnehmung von Ehre und Pflicht gerecht zu werden.
    Es gibt bei Klabund keinen Ansatz, das Ende wortwörtlich nehmen zu können. Der Kaiser lügt und nimmt die Verantwortung auf sich, um Tschang-Haitang und das Kind (das genau so gut nicht von ihm sein könnte) zu legitimieren. Was die BNN zu schreiben scheinen, ist also szenisch nicht vorhanden und würde meines Erachtens den Text ohne Berücksichtigung des Kontextes interpretieren.

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  2. Vielen Dank für den Hinweis zum SWR. Aber downloaden als mp3 geht nicht, oder?

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  3. Eine Download-Option ist m.W. nicht vorhanden. Die Audio-Datei ist eingebettet, um sie vor gängigen Tools zu schützen. Es gibt Rekorder, die Audio-Wiedergaben aufnehmen. Allerdings habe ich keinen Überblick darüber, welche Tools für welchen Browser zur Verfügung stehen.

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