Worum geht es?
Um Lewis Carrolls (1832-1898) Kinderbuchklassiker Alice im Wunderland. Diese Buch hat eine Beigeschichte: Alice hatte eine reale Inspiration - Alice Liddell (1852-1934). Carroll erzählte dem Mädchen und ihren Schwestern oft phantastische Geschichten. Eines Tages bat die zehnjährige Alice, Carroll möge doch seine Erzählungen aufschreiben. Das Ur-Manuskript bekam Alice geschenkt, das daraus entstandene Kinderbuch wurde zum Klassiker. Doch es gibt auch eine scheinbar dunkle Seite: Carroll fotografierte Alice vielfach und in verschiedenen Kostümen. Daraus wurde in nach-Freud'schen Zeiten eine Besessenheit für das kleine Mädchen abgeleitet und über Carrolls Charakter und Absichten spekuliert. Carroll war einer der ersten Amateur-Fotografen. Seine Bilder von Alice entstanden um 1860 und seine Leidenschaft könnte eher dem neuen technischen Medium als unterdrückten Wünschen und Obsessionen geschuldet sein. Hier ist also ein weites Feld der groben Spekulation, in dem sich auch dieses Stück peripher bewegt. Alice präsentiert in freier, nicht chronologischer Reihenfolge Buch-Szenen und Ausschnitte und kombiniert sie mit der Welt des Autors und seiner Muse. Dabei entstand eine im Vergleich zu The Black Rider und Woyzeck sehr handlungsschwache Geschichte ohne große Spannungsbögen.
Was ist zu hören?
Waits hatte im zeitgleich entstandenen Woyzeck einen herben und grölenden Tonfall eingeschlagen, Alice besteht hingegen hauptsächlich aus Balladen unterschiedlichster Stimmung. „Kinderlieder für Erwachsene und umgekehrt“, so Waits über seine Songs. Eine eher traurige und ruhige Musik mit starken Kontrasten über Außenseiter und Seltsamkeiten. Clemens Rynkowski hat die Songs für Karlsruhe wunderbar neu arrangiert: eine sechsköpfige Band spielt insgesamt zweiundzwanzig Instrumente. Musikalisch ist Alice atmosphärisch passend umgesetzt. Wem Woyzeck und Black Rider gefiel, der sollte auch von Alice nicht enttäuscht sein.
Leider ist die Textwiedergabe der englischen Songs urheberrechtlich untersagt: sie sind weder im Beiheft zu finden noch als übersetzte Übertitel eingeblendet. Nicht jeder Schauspieler ist auch ein guter Sänger - in dieser Produktion wird das leider gelegentlich deutlich und auch die Verständlichkeit der englischen Song-Texte ist nicht für jeden gegeben. Dadurch entsteht im Verlauf des Abends schnell ein atmosphärischer Druckabfall und Dimensionsverlust, da die direkte Verbindung der Musiktexte zur Geschichte nicht sichergestellt wird. Man bewegt sich episodisch von Song zu Song, bei denen man oft nur spekulieren kann, wie sie zum Stück in Beziehung stehen.
Was ist zu sehen?
Alice ist eine sehr schöne und phantasievolle Produktion, bei der aber aus obigen Gründen die Verknüpfung von Text und Gesang nicht gelingt und aufgrund der zusammenhanglosen Szenen der Funken nur sehr selten aufs Publikum überspringt. Es ergibt sich keine klare Stimmung: Alice ist weder spannend oder dämonisch noch witzig oder traurig; die Szenen plätschern vor sich hin und verdichten sich nur selten. Schauspielerisch ergeben sich bei Regisseur Daniel Pfluger nur wenig Gelegenheiten zu glänzen. Es ist eine gute Ensembleleistung, bei der gestern Hannes Fischer und Robert Besta am stärksten in Erinnerung blieben.
Bühnenbildner Flurin Borg Madsen stand vor der Aufgabe, den Spagat zwischen Obsessionen und Spiel, Traurigkeit und Phantasie, Erinnerung und Gegenwart zu halten, also den doppelten Boden der surrealen Welt darzustellen und hat dies mit einer sich stetig, von Szene zu Szene ändernder Bühne sehr phantasievoll gelöst. Es macht immer wieder Spaß zuzuschauen. Janine Werthmann hat dazu sehr schöne und aufwändige Kostüme entworfen, die viktorianische Elemente mit anderen Stilrichtungen kombiniert und die Phantasiefiguren liebevoll in Szene setzt.
Fazit: Bedingt empfehlenswert - gepflegte Langeweile, der man aber gerne zuschaut. Alice zeigt, daß das Ganze weniger als die Summe seiner Teile sein kann. Man hat deutlich den Eindruck, daß vieles gut gemacht ist. Das Badische Staatstheater hat sich viel Mühe gegeben, um eine aufwändige, sehenswerte Umsetzung auf die Bühne zu bringen. Alice ist vor allem Unterhaltung und bietet keine tiefgehende Interpretationsmöglichkeit. Es ist ein Spiel der Phantasie, Skurrilität und Ambivalenz - eine inszenatorische Äquivalenz zum literarischen Fantasy-Genre - konzipiert als ein Theaterabenteuer. Doch durch die dünne Rahmenhandlung ergibt sich kein richtiger Spannungsbogen.
PS(1): Das von Dramaturgin Nina Steinhilber informationsreich, interessant und sehr gut zusammengestellte Programmheft lohnt sich, auch zur Orientierung vorab für die Besucher, die mit Lewis Carroll und seinem Kinderbuch Alice wenig Berührung hatten. Es ist als pdf-Datei im Internet hier abrufbar.
PS(2): Es waren viele Theatermitarbeiter und deren Angehörige bei der Premiere. Es wäre interessant zu wissen, wie das Verhältnis dieser zu normalen Zuschauern war. Neben einem Heer von Dramaturgen mit Namensschildern konnte man u.a. folgende Schauspieler und Opernsängern sehen: Ute Baggeröhr, Simon Bauer, Benjamin Berger, Cornelia Gröschel, Florian Hertweck, Sarah A. Hudarew, Sophia Löffler, Heidi Melton, Rebecca Raffell, Jonas Riemer, Lisa Schlegel, Timo Tank, Katharine Tier, G. Urrutia Benet, Stefan Viering, Frank Wiegard, ....
BESETZUNG und TEAM:
Alice: Ursula
Grossenbacher
Charles Dodgson/ Photograph/ Weißes Kaninchen/ Weißer Ritter: Robert Besta
Rose/
Cheshire Cat/ Humpty Dumpty: Hannes
Fischer
Raupe/ Schachkönigin: Eva
Derleder
Fisch/ Lakai/ Schachkönig/ Weißes Schaf: Gunnar Schmidt
Lilie/ Hutmacher/ Tweedle Dee: Joanna Kitzl
Gänseblümchen/ Köchin/ Märzhase/ Tweedle Dum: Jan Andreesen
Frosch/ Ein Lakai/ Rehkitz/ Schwarzer Ritter: Natanaël Lienhard
Gänseblümchen/ Herzogin/ Haselmaus: Anna-Magdalena Beetz
Altar Boy (Solo): Georg Krause
Altar Boys: László Branko Breiding, Lukas Fries, Leon Hellstern, Marvin HockREGIE Daniel Pfluger
MUSIKALISCHE LEITUNG & ARRANGEMENTS Clemens Rynkowski
BÜHNE Flurin Borg Madsen
KOSTÜME Janine Werthmann
Klavier, Harmonium, Celesta, Theremin: Clemens Rynkowski
Percussion, Drumset, Schlagwerk: Jakob Dinkelacker
Waldhorn, Trompete, Marimba, Vibra-Phon, Bass, Gitarre, Klavier, Saz, Windmaschine: Florian Rynkowski
Posaune, Sousaphon, Tuba: Jochen Welsch
Bassklarinette, Saxophon, Piccolo, Querflöte: Sven Pudil
Bratsche: Agata Zieba