Montag, 1. Februar 2016

Jaques Prévert - Kinder des Olymp, 31.01.2016

Zwischen Entschleunigungstheater und Theatermagie
Theater kann so einfach sein, man nimmt gute Schauspieler und erzählt eine Geschichte, am besten über die Liebe und das Leben oder noch besser über eine außerordentliche Liebe: vier ungewöhnliche Männer lieben eine Frau. Wen wird sie erwählen? Das Karlsruher Schauspiel zeigt diese Geschichte mit einer Besonderheit: es gelingt das Kunststück, einen hierzulande ziemlich unbekannten, über 70 Jahre alten französischen Schwarzweißfilm auf die Bühne zu übertragen, eng angelehnt an das Original - ohne wesentliche Veränderungen, ohne sprachliche Modernisierung, ohne Aktualisierungen oder zusätzliche Zuspitzungen. Wer den Film kennt, wird sich unmittelbar zurechtfinden, die szenische Wiedergabe könnte man als authentisch beschreiben. Regisseur Künstler Benjamin Lazar ist Experte für die Wiederbelebung vergessener Formen und Geschichten (als Barockexperte hatte er bei den Karlsruher Händel Festspielen Riccardo Primo in Kerzenlicht inszeniert, im Februar ist von ihm als Gastspiel eine Adaption eines Romans von Cyrano de Bergerac zu sehen), und dies gelingt ihm auch bei dieser ungewöhnlichen, fast unzeitgemäßen Aufführung, die auf Theatermagie setzt, poetisch und melancholisch, ein Inszenieren von Liebeskonstellationen, Stimmungen und Atmosphäre in ungewöhnlichem Milieu. Die Liebe ist romantisch-sinnstiftend, Eifersucht oder Traurigkeit kommen auf, wenn dieser Sinn in Frage gestellt wird. Nebengeschichten, Zufälle, vieles passiert, gehört dazu und hat nicht unbedingt Bedeutung für die Kernhandlung. In alten Schwarzweißfilmen hatte man noch Zeit zum Mäandern und Erzählen und Lazar gönnt dies auch den Theaterzuschauern. Man kann sich sehr gut unterhalten und staunen, wenn man sich darauf einläßt und schon wegen den sehr guten Schauspielern, der phantasievollen Umsetzung und dem Mut zu dieser Produktion, lohnt diese Entdeckung.
                    
Zum filmischen Hintergrund
Les Enfants du Paradis wurde 1942-1944 während und trotz der deutschen Besatzung in Frankreich gedreht. Es fehlte an vielem, ein Geldgeber mußte neu aufgetrieben werden, ein Sturm beschädigte die Kulissen in Nizza, Baumaterialien waren kaum aufzutreiben, man improvisierte und pausierte, jüdische Kollegen mußten versteckt werden. Für die Beteiligten war es wahrscheinlich ein Projekt der Sinngebung und Hoffnung, um während der Besatzung über die Runden zu kommen. Die Hauptdarstellerin befand sich dann zum Zeitpunkt der Uraufführung 1945 im befreiten Paris allerdings im Hausarrest, sie galt aufgrund einer Liebesbeziehung zu einem deutschen Offizier als Kollaborateurin. Der Film hat eine symbolische Bedeutung und gilt als Meisterwerk, als Zeichen französischen Geists und Widerstands gegen Unwägbarkeiten. Die französische Filmlegende François Truffaut soll im Alter pathetisch bekannt haben, daß er auf seine 23 Filme verzichten würde, wenn er die Kinder des Olymp hätte drehen können. Vielleicht könnte man sagen, Kinder des Olymps ist als (ernstes) Kulturerbe äquivalent zur (heiteren) Feuerzangenbowle.

Worum geht es?

Paris um 1835. Im Jahrmarkt- und Theatermilieu begehren vier Männer gleichzeitig die immer lächelnde, neugierige und den Augenblick lebende Garance, die doch eigentlich ganz einfach ist: "Wer mir gefällt, dem möchte ich gefallen." ... "Und wenn ich ja sagen mag, kann ich nicht nein sagen." In der deutschen Übersetzung des Films singt Garance: "Und hab ich Lust zu lachen, dann lach ich eben froh und wer mich liebt, den lieb ich, oft mehr als eine Nacht, ich bin ja so gemacht". Garance läßt ihr Leben staunend passieren. Die Männer in ihrem Leben sind:
  • Jean-Baptiste, der große Pantomime: er ist vergeistigt, verehrend und beobachtend. Er verpaßt aus Zurückhaltung und Schüchternheit die Chance, Garances Liebhaber zu werden und verläßt in romantischer Mondscheinstimmung ihr Zimmer, Garance lächelt und beginnt umgehend eine Affäre mit Lemaitre, der gerade zur richtigen Zeit am richtigen Ort ist. Als Garance später erkennt, daß Jean-Baptiste doch der Richtige für sie sein könnte, ist er verheiratet und Vater.
  • Lemaitre, ein Schauspieler: er ist großzügig, großherzig, jovial und gelegentlich ein Schwätzer, jede Gelegenheit ergreifend, eine Rampensau auf der Bühne. Er hat eine Affäre mit Garance, erkennt aber, daß sie ihn nicht liebt und gibt sie frei. Durch sie lernt er die Eifersucht kennen, was ihm später ermöglicht, seine Traumrolle Othello zu spielen.
  • Lacenaire: ein Krimineller, gefährlich, intelligent und sehr stolz, ein Gewalttäter, der Theaterstücke schreibt und sich für lyrisch begabt hält, "heißer Kopf, kaltes Herz". Auch er liebt Garance, bedrängt sie aber nicht, sondern läßt ihr die Freiheit, denn er ist zu stolz zum ersten Schritt. Als er sieht, daß sie vom Grafen de Montray wie ein Besitzstück behandelt wird und dieser ihn demütigen will, bringt er ihn um und stellt sich der Polizei. Er mordet aus Stolz und begeht doch auch eine selbstlose Liebestat, um Garances Freiheit wiederherzustellen.
  • Graf Edouard de Montray: ein Dandy, reich, mondän, kein Schaffender, kein Kreativer, auch sonst wenig interessant, er bietet Garance aber das, was sie sucht: eine Zuflucht und materielle Sicherheit. Am Ende des ersten Teils verschwindet Garance mit ihm für mehrere Jahre. Montrays Besitzansprüche und Eifersucht werden ihm zum Verhängnis.
Das tatsächlich früher existente Pariser Pantomimen-Theater Théâtre des Funambules (Theater der Seiltänzer) entstand aus dem Jahrmarktstheater. Dem Funambules war Sprechtheater verboten, es mußte sich also auf Kunststücke und Pantomime beschränken. Jean-Baptiste Debureau ist eine historische Figur: er entstammte einer Artistenfamilie, hatte aber dazu selber wenig Talent und machte Karriere als Pantomime und gilt als Erfinder der Figur des Pierrot, die in fließend weißem Gewand auftritt. Lemaitre lebte tatsächlich und war als Schauspieler erfolgreich, ebenso der Mörder Lacenaire: 1836 wurde der dichtende Kriminelle hingerichtet.

Die "Kinder des Olymps" spielen übrigens nicht mit. Der Olymp (frz. paradis) ist im Theater der billigste Publikumsbereich, ganz oben unterm Dach, wo das mittellose Publikum Ablenkung und Entspannung vom tristen Alltag sucht und für ihr Geld Ansprüche stellt, buht und jubelt - die wahren Enthusiasten.
           
Was ist zu sehen?
Bühne, Ambiente und aufwändige Kostüme - man läßt das Stück in seiner gedachten Zeit um 1830 spielen, ergänzt durch Filmprojektionen und Titeleinblendungen, die die filmische Herkunft des Stoffs nicht verleugnen. Und auch musikalisch (sehr schön gespielt von den Rynkowski-Brüdern) adaptierte man die Filmmusik, blendet sie (ursprünglich vom großen Charles Münch dirigiert) akustisch ein und schafft auch diese Weise einen entscheidenden Stimmungszugewinn. Regisseur Lazar erschafft also seine Kinder des Olymps in direkter Nähe zum Original und ihm gelingt, was nicht selbstverständlich ist - eine perfekt gelungene Adaption, die die Stimmung des Originals wiederbelebt.

Schauspielerisch versteht diese Produktion zu fesseln, allen schaut man gerne zu, besonders Sebastian Reiß als Schauspieler Lemaitre (großartig, wie nah er der originalen Filmrolle kommt) und Frank Wiegard als krimineller Lacenaire  haben große Selbstdarstellungsmonologe und geben ihren Figuren klare Konturen und Kraft - Bravo!
Garance ist keine einfache Rolle: was macht ihre Faszination aus, was macht sie rätselvoll? Ihre Einfachheit und Unkompliziertheit, so mag man antworten und es bedauern, denn schauspielerisch ist diese Rolle vielleicht deshalb weniger dankbar als die der verliebten Männer. Joana Kitzl gelingt es besonders gut, Garance zum Zentrum der Geschichte zu machen und das Rätsel um die Anziehungskraft der Garance zu pointieren. Die Garance des Films lächelt im ersten Teil fast unentwegt, Kitzl interpretiert die Rolle vielleicht einen Tick ernster und nachdenklicher als es der Figur gut tut. Doch das mindert nicht den großen Eindruck, den  Kitzl als Garance hinterläßt. Bravo!
Die größte Herausforderung ist die Besetzung des Jean-Baptiste, für den es  pantomimische und  schauspielerische Ausdruckskraft benötigt. Auch Johannes Schumacher löst seine Aufgabe hervorragend! Mit Pantomimen-Trainer bereitete er sich gründlich vor, seine Meisterleistung zeigt Schumacher im zweiten Teil, wenn er in einer Bühne-auf-der-Bühne-Situation Pantomimentheater spielt und man als Zuschauer am liebsten ganz nah heranrücken will, um genau zu sehen, wie er die unterschiedlichen Eindrücke erreicht. Die Figur des Baptiste ist im Film noch besser getroffen: sie wirkt dort noch zerbrechlicher, schwärmerischer, vergeistigter und prägnanter, was aber aber auch dem filmischen Vorteil der Nahaufnahme geschuldet ist. 
Jannek Petri hat wenig Mühe als
Graf Edouard de Montray und spielt und spricht souverän den gestelzten Aristokraten, Florentine Krafft trifft die bedingungslos Jean-Baptiste liebende Nathalie perfekt (Bravo!) und Sascha Tuxhorn macht auch in kleinen Rollen positiv auf sich aufmerksam. Amüsieren kann man sich immer dann, wen Lisa Schlegel, Klaus Cofalka-Adami und Gunnar Schmidt auftreten, Jens Koch, Ronald Funke und Jonathan Bruckmeier komplettieren den sehr guten schauspielerischen Eindruck. Vielen Dank und Bravo! an alle Beteiligten.

Fazit: Langer Applaus für eine außergewöhnliche Produktion. Der Schwarzweißflim hat eine Spiellänge von drei Stunden, mit Pause benötigt das Schauspiel ebenso lange. Es ist tatsächlich ein nachgespielter Film, der durch das Inszenierungsteam für die Bühne perfekt angepaßt wurde und dadurch und dank der sehr guten Darsteller den Zauber und die Inspiration des Originals authentisch einfängt.

Team und Besetzung:
Garance: Joanna Kitzl
Jean-Baptiste, Pantomime: Johannes Schumacher
Lemaitre, Schauspieler: Sebastian Reiß
Lacenaire, Krimineller: Frank Wiegard
Graf Edouard de Montray: Jannek Petri
Nathalie / Marie in „L‘Auberge des Adrets“: Florentine Krafft
Avril, Lacenaires Handlanger / Regisseur im Funambules: Sascha Tuxhorn
Anselme Debureau, Vater von Jean-Baptiste / Blinder / Kassierer: Klaus Cofalka-Adami
Direktor des Funambules, Vater von Nathalie / 2. Autor: Gunnar Schmidt
Jericho: Ronald Funke
Madame Hermine / Desdemona: Lisa Schlegel
Polizist / Strolch im Rotkehlchen / Schauspieler im Funambules / Georges, Freund des Grafen / Kartenverkäufer / Brigadier: Jonathan Bruckmeier
Ausrufer bestohlener Bürger / Scarpia Barrigni / Patron des Rotkehlchen / Kommissar / 1. Autor / Bediensteter türkisches Bad: Jens Koch
In weiteren Rollen: Statisterie
Live-Musik: Clemens Rynkowski, Florian Rynkowski, David Rynkowski

Regie: Benjamin Lazar
Bühne: Adeline Caron
Kostüme: Alain Blanchot, Adeline Caron, Julia Brochier
Video: Christoph Otto
Maske: Mathilde Benmoussa
Musik: Clemens Rynkowski
Pantomimen-Beratung: Guerassim Dichliev
Licht: Christophe Naillet

1 Kommentar:

  1. @OM
    Vielen Dank für die Mitteilungen und die Informationen, melden Sie sich doch bitte wieder bei mir, wenn sich die Umstände entsprechend verändern.

    Zu Ihrer Frage:
    Es ist eine für den scheidenden Schauspieldirektor Linders untypische und ungewöhnliche Entscheidung, dem Karlsruher Publikum die Kinder des Olymp zu zeigen. Nicht deshalb, weil das Stück auf einem Film beruht, dessen Handlung und Dramatik heute kaum verfilmt werden würde, sondern aus konzeptionellen Gründen: Bisher hat man theoretisch geplant und gehofft, daß die praktische Umsetzung dann schon irgendwie klappen würde, ob man passende Schauspieler für die Rollen hatte oder die richtigen Einfälle zum Stück, war nebensächlich, Hauptsache oberflächlich "gut gemeint", damit man vortäuschen konnte, daß man etwas Relevantes mache. Die zahlreichen Mißerfolge und der folgerichtige Rückzug Jan Linders als Leiter des Karlsruher Schauspiels sprechen Bände. Nun ging Linders zum ruhmlosen Abschied noch mal den anderen Weg, er hat mit dem französischen Regisseur und Künstler Benjamin Lazar jemanden engagiert, der einen künstlerischen Zugang zu seinem Stoff hat, bei dem Inspiration, Phantasie und die praktische Umsetzung in den Mittelpunkt gestellt sind und das Thema keinen gesellschaftspolitischen Zwängen folgen muß. Ob man die Kinder des Olymps kennen und sehen muß, ist diskutabel, dennoch kann man einen Unterschied klar herausstellen: es fehlen die Ungereimtheiten, das Unmotivierte, der Zeigefinger, das künstlich nach Vorwand, aber halt nicht künstlerisch überzeugend, Produzierte. Der Regisseur stellt nicht sich in den Mittelpunkt, die Umsetzung der Regie unterstützt, ohne von den Schauspielern oder vom Stück abzulenken.

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