Montag, 13. Juli 2015

Verdi - Falstaff, 12.07.0215

Gute Nachrichten zur letzten Opern-Premiere der Spielzeit: keine Selbstdarstellung, keine Wichtigtuerei, keine Eitelkeiten - nicht Intendanz und Regie, sondern Werk, Künstler und Publikum stehen im Mittelpunkt. Der neue Falstaff macht Freude, vor allem sängerisch! Und damit ist praktisch schon fast alles gesagt. Schade, daß die Opern-Fans zuletzt Karlsruhe (oder doch eher der Karlsruher Intendanz?) ein wenig den Rücken gekehrt zu haben scheinen und die Premieren und Vorstellungen sich entleeren. Falstaff hat ein volles Haus verdient.

Worum geht es?                
Der selbstgefällige, übergewichtige, trinkfeste, mittellose und in die Jahre gekommene Sir John Falstaff und seine zwei Diener sind eine dubiose Gesellschaft, die sich mehr schlecht als recht über Wasser hält. Falstaff glaubt, bei zwei reichen Frauen gute Chancen zu haben: er schreibt an beide den gleichen Liebesbrief. Doch die beiden Frauen Alice Ford und Meg Page sind beste Freundinnen, erzählen sich gegenseitig von den Avancen und planen, den dreisten Falstaff zum Narren zu halten. Alice lockt ihn mit Hilfe von Mrs. Quickly erst zu sich nach Hause, dann nachts in einen Hinterhalt. Die vermeintlichen Stelldichein eskalieren zu brenzligen Situationen, aus denen Falstaff nicht unbehelligt entfliehen kann. Parallel dazu ermöglicht Alice ihrer Tochter Nannetta eine Liebeshochzeit mit Fenton, obwohl ihr Gatte sie an den in die Jahre gekommenen Dr. Cajus verkuppeln möchte. Am Ende wurden Falstaff, Ford und Cajus zum Narren gehalten und machen gute Mine zum raffinierten Spiel. Falstaff beschließt die Oper moralisch und gibt allen Genarrten ihre Würde: Alles auf Erden ist Schabernack, der Mensch ist als Schelm geboren. Alle lachen und alle werden ausgelacht (auch das Publikum), die Zweifler und Ironiker triumphieren (zumindest in der Oper) über die Ernst-Macher und Sich-wichtig-Nehmer.

Wer ist Falstaff?
Es gibt vor allem drei Narren in dieser Oper: der eifersüchtige und kontrollsüchtige Ehemann Ford, Dr. Cajus, der Fords Tochter heiraten will und die vielschichtige Titelfigur. Der große Sänger und Darsteller Tito Gobbi schrieb in seiner Autobiographie: "Die Musik beschreibt fur mich deutlich drei Seiten von Falstaffs Charakter: humorvoll und ironisch, lyrisch-idyllisch und fantastisch-romantisch. Er ist vollkommen gleichgültig, wenn er selber nicht betroffen ist .... Ein starker Charakter, so sinnlich wie wagemutig, und im Besitz eines geistreichen Humors, der ihm durch schwierigste Situationen hilft. Wenn er depressive Momente hat, befreit er sich davon durch eine Mischung aus zynischer Gleichgültigkeit und lebhafter Phantasie. Seine Eitelkeit ist maßlos."
Falstaff und seine Stellung kann man man vielseitig in unterschiedlichen Lebensentwürfen interpretieren und in sozialen Maskenspielen verschieden deuten als einen in die Jahre gekommenen Frauenhelden, Party-Macher, ein Trickbetrüger, ein übergewichtiger Vielfraß (als Genußmensch oder als undiszipliniertes Prekariat), ein Anarcho, Schmarotzer, Schuldenmacher und Verprasser im Zwist mit wohlhabenden, saturierten oder geizigen Bürgern, ein selbstgefälliger Egoist, ein Phantast, Selbsttäuscher und Realitätsverweigerer, bei dem Selbst- und Fremdbild nicht kongruent sind. Laut Regisseur Jacopo Siprei ist Falstaff "unglaublich naiv und will wie ein Kind alles haben, und zwar sofort. Aber deswegen hassen wir Kinder doch nicht. Es sind eben Kinder. Wir schauen ihnen beim Erwachsenwerden zu. Genauso ist das mit Falstaff. Er ist einer, der nicht akzeptieren will, daß er alt geworden ist, kein Romeo mehr ist, kein Geld mehr hat, aber er tut immer noch so, bis er merkt, dass alles ein großer Selbstbetrug ist. Sein großer Vorzug besteht darin, dass er nicht so verbohrt ist, nicht über sich selbst lachen zu können." Im Programmheft sagt der Regisseur: "Man kann Falstaff als Farce im Stil der Shakespeare-Vorlage sehen oder als Endspiel im Stil Becketts. Das ist seine Bandbreite. Er enthält reinen Slapstick neben Momenten existenzieller Tiefe und Weisheit, was eine sehr italienische Qualität ist. Wenn man das Stück nur auf die eine oder andere Weise spielt, verkürzt man es. Das Nebeneinander ist das Außergewöhnliche an ihm. Es ist die Geschichte eines alten Mannes, der alles tut, um jung zu bleiben. Es geht um Selbsttäuschung. Falstaff glaubt, etwas zu sein, was er nicht mehr ist. Wir sind imstande, uns alles vorzumachen. Es geht also um etwas Tieferes, als nur um Perspektiven."
Wer ist Falstaff? Der Regisseur hat recht, es geht nicht um die Perspektive, sondern um etwas Menschliches, um Mitgefühl und Altern. Man muß dem neuen Karlsruher Falstaff zugestehen, daß es der Regie gelingt, sympathische  und menschliche Figuren auf die Bühne zu stellen.
 
Was ist zu sehen?
Das spannende und lesenswerte Programmheft erläutert, wie der Librettist Arrigo Boito den Falstaff-Stoff auf seine toskanischen Ursprünge in der Renaissance zurückführte. Was liegt also näher, als Falstaff in Italien spielen zu lassen. Wer nun allerdings eine Optik im Stil der Renaissance erwartete, wurde überrascht. Die gut konzipierte Bühne von Nikolaus Webern und die Kostüme von Sarah Rolke zeigen Italien im Hier und Heute. Das Wirtshaus ist eine italienische Bar, Falstaff sitzt vor dem Notebook, bekommt  zur Versöhnung von seinen Dienern zu Beginn des dritten Bilds eine große Pizza und kleidet sich zum Stelldichein mit Alice Ford mit Piratenkopftuch im Stil Silvio Berlusconis. Im Schlußbild trägt Falstaff kein Hirschgeweih, sondern ein T-Shirt mit Hirschkopf-Aufdruck. Der problematische dritte Akt wird durch die Modernisierung nicht plausibler: die Eiche von Herne wird immerhin zum Friedhof, der Regisseur zeigt angedeuteten Grusel, ein wenig Zombies, ein ausgehobenes Grab, eine Grabplatte mit Falstaffs Namen, aber die Musik spielt bekanntermaßen etwas anderes und die Inszenierung verzichtet auf überzeugende Furcht bei Falstaff und zeigt das übliche Maskenspiel. Der italienische Regisseur Jacopo Spirei sorgt bei seiner ersten Regie in Deutschland für eine im besten Sinne konventionelle und überraschungsfreie Deutung, die manch einer bestimmt als "nichts Besonderes" klassifizieren möchte, dabei aber übersieht, daß das Publikum viel Spaß hat und mehrfach Szenengelächter entsteht. Spirei ermöglicht den Sängern überzeugende Rollendarstellungen und lässt der Handlung Raum zur Entfaltung. Dafür bekam das Inszenierungsteam viel Applaus vom zufriedenen Publikum.
                 
Was ist zu hören?               
Beim letzten Karlsruher Falstaff im Jahr 2002 triumphierte der vielen bis dahin unbekannte Ambrogio Maestri in der Titelrolle beim Publikum, für die Neuproduktion stand man also am Badischen Staatstheater unter Zugzwang und präsentierte eine ausgezeichnete Wahl: der große Bariton Pietro Spagnoli (bekannt auch durch viele wichtige  Operneinspielungen, bspw. Mozart (Cosi fan tutte und Hochzeit des Figaro), Rossini (u.a. Barbier von Sevilla und Tancredi) sowie Händel,  Donizetti u.v.a.m.) gab sein Rollendebut. Der 1964 geborene Bariton gibt Falstaff Glaubwürdigkeit, seine darstellerischen und stimmlichen Fähigkeiten lassen die Figur nie unsympathisch, grob lächerlich oder einseitig überzeichnet werden. Man kann nach seiner großartigen gestrigen Leistung erwarten, daß Spagnoli diese Rolle noch oft in den kommenden Jahren singen und darstellen wird - ein glücklich gelungenes Debut, das wirkte, als würde Spagnoli diese Rolle schon seit vielen Jahren singen. Zum Höhepunkt entwickelte sich der zweite Akt und dort das Aufeinandertreffen zweier großer Stimmen: einerseits hat man mit dem großartigen Seung-Gi Jung als Ford den stimmlich passenden Kontrahenten zu Spagnoli im Ensemble, seine verbissene Vergeltungsarie È sogno o realtà? ist ein Höhepunkt des Abends, andererseits ließ gestern Justin Brown nach noch etwas zu verhaltenem ersten Akt das Orchester in großer Form rasant aufspielen. Der Karlsruher Publikumsliebling Barbara Dobrzanska sang über ein Jahrzehnt die großen dramatischen Frauenrollen und starb zahllose Bühnentode. Als Alice Ford kann sie nun endlich wieder zeigen, daß ihr auch das Heitere liegt - ihre Alice ist sympathisch und lebensfroh, die vielen Bravos verdient. Und auch sonst sind nur sehr gute Sängerleistungen zu hören: Emily Hindrichs und Eleazar Rodriguez als Liebespaar Nannetta/Fenton überzeugen mit wunderschönen Stimmen, Dana Beth Miller gibt eine amüsant theatralische Mrs Quickly, Klaus Schneider ist ein stimmschöner Cajus, dazu Stefanie Schaefer als Meg Page, Luiz Molz als Pistola und Gast Torsten Hofmann als Bardolfo sowie ein tadelloser Chor - eine sehr schöne Ensembleleistung - Bravo!!! -  und auch die Alternativbesetzungen bieten ab Herbst spannende Vergleiche!
    
Fazit: Erneut viel Jubel und Zustimmung für alle Beteiligten! Die deutsche Sprache stellt einen wichtigen Zusammenhang anschaulich dar und unterscheidet damit launenhafte, nichtssagende Meinungen von reflektierten Anschauungen: Geschmack wird gebildet. Verdis Falstaff  ist ein Maßstab, an dem diese Bildung erfolgen kann, vor allem wenn sie so lebendig und amüsant wie am Badischen Staatstheater gezeigt wird. Eine zurückhaltende, unterhaltsame und amüsante Inszenierung und viel Klasse bei Sängern und Musikern. Bravo und Danke!

PS(1): Der schön gelungene letzte Karlsruher Falstaff (er war ein wenig existentieller und vielschichtiger, oder?) aus dem Jahr 2002 hatte neben Ambrogio Maestri den großen Günter von Kannen in der Hauptrolle. Regisseur Alexander Schulin verlegte die Oper in die USA und ließ die lustigen Weiber von Windsor Pelzmäntel tragen. Barbara Dobrzanska und Ewa Wolak sangen als Alice Ford und Mrs. Quickly.

PS(2): Stimmen eigentlich die Gerüchte, daß mehr als je zuvor bei wichtigen Aufführungen (z.B. Premieren) kostenlose Eintrittskarten verschenkt werden, um Lücken aufzufüllen? Weisen die Statistiken am Spielzeitende aus, wie viele Karten zu "Werbezwecken" verschenkt werden? Interessiert sich eigentlich jemand im Verwaltungsrat für die Einkommensseite des Staatstheaters? Traut noch jemand der aktuellen Intendanz zu, neuen Schwung und Impulse (im positiven Sinne!!!) in den verbleibenden sechs Jahren zu bringen?

Team und Besetzung
Sir John Falstaff: Pietro Spagnoli
Ford: Seung-Gi Jung
Fenton: Eleazar Rodriguez
Dr. Cajus: Kammersänger Klaus Schneider
Bardolfo: Torsten Hofmann
Pistola: Luiz Molz
Mrs. Alice Ford: Kammersängerin Barbara Dobrzanska
Nannetta: Emily Hindrichs
Mrs. Quickly: Dana Beth Miller
Mrs. Meg Page: Stefanie Schaefer 

Musikalische Leitung: Justin Brown
Chor: Ulrich Wagner
Regie: Jacopo Spirei
Bühne: Nikolaus Webern
Kostüme: Sarah Rolke